Fluchtreflex

Mikroaggressionen gehören zum Alltag von trans*, inter* und nichtbinären Personen. Jede einzelne für sich in den Augen der „Mehrheit“ unerheblich, erzeugt die Summe der Feindseligkeiten für trans*, inter* und nichtbinäre Personen einen massiven Stress. Persson Perry Baumgartinger und Alex Jürgen* in einem intimen Gespräch über Alltagsverletzungen und einige ihrer emanzipatorischen Überlebensstrategien.

Kunst von Alex Jürgen*: ein Geschlechtersymbol, das die Symbole von Frau und Mann vereint und in lila gehalten ist, im Hintergrund sind Regenbogenfarben. Das Bild besteht aus Papierstreifen.
© Alex Jürgen*

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Gespräch.
Alex Jürgen* und Persson Perry Baumgartinger reden miteinander.
Sie reden über Geschlecht.
Viele Menschen glauben:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Das wirkt sich negativ aus:
Zum Beispiel auf die Personen,
die nicht Mann und nicht Frau sind.
So wie Alex und Persson.
Sie sprechen über ihre Erfahrungen
mit Mikro-Aggressionen.
Mikro-Aggression bedeutet:
Alltägliche Handlungen oder Kommentare,
die abwertend und verletzend sind.
Zum Beispiel:
Der Kellner sagt zu Alex:
„Hallo, schöne Frau.“
Aber Alex ist keine Frau.
Und kein Mann.
Die Leute sprechen Alex und Persson jeden Tag falsch an.
Die Leute starren Alex und Persson auch oft an.
Jeden Tag viele Mikro-Aggressionen zu erleben,
ist sehr stressig.
Mikro-Aggressionen können krank machen.
Persson muss oft erklären:
„Ich bin kein Mann und keine Frau.“
Das ist sehr anstrengend.
Überall hören Alex und Persson:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Das ist sehr verletzend.
Das macht das Leben schwer.
Persson zieht sich deshalb aus dem Leben zurück.
Alex sagt:
„Zuhause bist du geschützt,
draußen nicht.“
Für die Gesundheit von allen Menschen ist wichtig:
Respekt.
Zum Beispiel:
Die Zahnarzt-Helferin ruft Alex mit dem Namen auf.
Ohne „Frau“ oder „Herr“ vor dem Namen.
Alex und Persson machen Kunst und Aktivismus.
Das bedeutet:
Sie kämpfen für gleiche Rechte.
Denn alle Geschlechter sollen so leben können,
wie sie sind.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast:
schreib an be(at)ourbodies.at

Content Note: Das Gespräch war eine sehr intensive und schöne, aber private Erfahrung – ein intimer Austausch, ohne auf Worte achten zu müssen, nichts schönreden zu müssen, sich über Schmerz und Verletzung zu verbinden, sich verstanden zu fühlen, ohne viel erklären zu müssen, und vieles mehr. Die Überarbeitung des Gesprächs zu diesem Text war eine schmerzhafte Herausforderung – die diskriminierenden Begriffe und Erfahrungen wieder und wieder zu lesen, war harte Arbeit und wird nachwirken. Dies kann euch als Lesende auch passieren – achtet daher gut auf euch.

Persson Perry Baumgartinger: Unlängst haben wir uns über die 8.-März-Aussendungen unterhalten und uns darüber geärgert, dass feministische bzw. queer-feministische Menschen, die sich für kritisch halten, ausgerechnet an diesem Tag die Geschlechterbinarität festigen. Gleichzeitig hat sich doch einiges zum Positiven entwickelt, seit wir uns kennen.

Alex Jürgen*: Das stimmt. In Jobinseraten zum Beispiel steht mittlerweile neben männlich und weiblich auch divers, was ein Fortschritt ist. Dann gehe ich aber in ein Restaurant bei mir und höre „Signora bella!“. Anreden sind so binär, zumindest auf dem Land. Dabei würde ein „Was wünschen Sie?“ vollkommen ausreichen.

Persson Perry: Genau, du willst ein Brot kaufen und schon wirst du auf die Zweigeschlechternorm festgelegt. Bei Inter*- und Trans*feindlichkeit geht es genau um solche alltäglichen Erlebnisse, die manchen unbedeutend erscheinen, aber ständig passieren und uns daher das Leben erschweren – bei mir zum Beispiel führt das dazu, dass ich mich psychisch und physisch aus dem Leben zurückziehe.

Alex Jürgen*: Zu Hause in deiner eigenen Welt bist du geschützt, sobald du aber rausgehst, findest du dich in der binär-normativen Gesellschaft wieder. Ich bin sichtbar – und komme mir vor wie ein Störfaktor. Ich komme mit Leuten nicht ins Gespräch, ich werde ausgeblendet. Man fragt nicht mich, sondern andere über mein Geschlecht. Wir müssen in einer Gesellschaft leben, in der es uns so nicht gibt. Als Frau bin ich als Mann gelesen worden und als Mann als Frau. Mittlerweile lasse ich jegliche Pronomen zu, weil ich nicht kontrollieren kann, wie die Leute mich sehen. Sie wollen sowieso nur wissen, wie es zwischen deinen Beinen ausschaut. Sie wollen wissen, ob du es „komplett durchgezogen“ hast oder nicht.

Persson Perry: Ich habe eine Transition gemacht, die ich nicht bereue, ich bin aber kein Mann, auch wenn es mir am Anfang wichtig war, mit „er“ angesprochen zu werden. Ich werde jedoch als Mann gesehen, genauso wie ich als Frau gesehen wurde, als ich keine war. Und manchmal können die Leute mich nicht einordnen. Ich habe nie so ausgeschaut, wie man es sich erwartet hat. Es ist anstrengend, sich andauernd als Nicht-Mann oder Nicht-Frau zu erklären. Ständig eine Verletzung, eine von vielen Stresssituationen.

Alex Jürgen*: Als ich mich geoutet habe, hatte ich Angst. Ich dachte, jetzt ist es möglich, dass jemand kommt und dich schlägt, damit musst du rechnen. Einmal hatte ich Angst, dass mir jemand das Haus anzündet. Das waren Wochenendgäste aus Linz, die mich zufällig von früher kannten und homophob waren. Das ist mir Gott sei Dank nicht passiert. Ich bekomme auch keine Hassmails. Vielleicht weil ich nicht viel auf sozialen Netzwerken bin. Mit Bedacht nicht. Ich lasse mich in Facebook-Diskussionen nicht hineinziehen.

Persson Perry: Rückzug und Outing als Gegenstrategien?

Alex Jürgen*: Ja. Ich bin aufs Land gezogen und mit meiner Geschichte exzessiv umgegangen. Ich habe es allen erzählt, ob sie es wissen wollten oder nicht.

Persson Perry: Mit Minderheitenstress oder Mikroaggressionen haben wir Begriffe in der Hand, um Situationen zu beschreiben, die sich sonst so schwer in Worte fassen lassen. Es ist etwa schwierig, Transfeindlichkeit zu beschreiben. Bei Transfeindlichkeit denken viele an „verkleidete Menschen“, die verprügelt werden. Bei Interfeindlichkeit stelle ich mir das so ähnlich vor. Die körperliche Gewalt ist aber die Spitze des Eisbergs. Es geht schon viel früher los, bei alltäglichen Sachen, dass etwa alle ständig sagen, es gibt zwei Geschlechter und fertig, alles andere ist nicht normal. Auch die Medizin traumatisiert uns auf unterschiedliche Art und Weise. Menschen sind schockiert, wenn sie von der Sterilisationspflicht für trans* Personen bis 2010 hören oder von den chirurgischen Eingriffen an intergeschlechtlichen Kindern, die noch immer durchgeführt werden.

Alex Jürgen*: Und das hat Folgen. Ich bin eigentlich immer im Fluchtmodus. Zum Beispiel schwimme ich sehr gern. Ich traue mich aber nur dann, wenn ich das Schwimmbad kenne. Ich gehe von der Umkleide direkt ins Wasser und nicht mehr raus, bis ich heimgehe. Der Stress geht bei mir teilweise so weit, dass ich Probleme mit Kindern habe. Aus Angst, man würde glauben, ich sei pervers. Wenn mich die Nachbarin bitten würde, auf ihr Kind aufzupassen, würde ich es nicht tun.

Persson Perry: Mir geht es ähnlich. Nicht nur, weil ich männlich gelesen werde, sondern weil trans* als pervers gedacht wird. Das alles und noch viel mehr – auch Dinge, über die wir hier nicht reden, weil sie noch heftiger sind – kann uns krank machen. Als inter*, trans* und enby Personen sind wir von unterschiedlichen Aspekten des Zweigeschlechtersystems betroffen, haben aber ähnliche Erfahrungen. Für mich sind Forschung und Vermittlung eine Möglichkeit, mich zu empowern und etwas zu verändern in der Welt. Wann und wie ist es bei dir mit dem Aktivismus losgegangen?

Alex Jürgen*: Ich habe an einem Nachmittag im Jahr 2002 bei FM4 angerufen, als 17-jährige Mädchen von Nasenoperationen geschwärmt haben. Da ist mir der Knopf aufgesprungen. Ich habe gedacht, jetzt erzählst du denen von „Schönheitsoperationen“, die man sich nicht selbst aussucht. Wenn Geschlechtsteile weggeschnitten werden, weil sie nicht passen. Das war mein Einstieg. Mein Gesicht war dann das erste Mal 2006 im Film „Tintenfischalarm“ zu sehen. Ganz Wien war vollplakatiert mit meinem Gesicht. Ich war froh, als ich 2007 aus Wien weggezogen bin.

Persson Perry: Es ist anstrengend, permanent in Frage gestellt zu werden. Ich glaube, die meisten Leute verstehen nicht, dass die Summe von als unbedeutend empfundenen Dingen wie etwa das falsche Pronomen oder das Anstarren Stress ist, der manchmal zu Rückzug aus dem Alltagsleben, Depressionen und im extremen Fall zu Selbstmord führen kann und dass es eine lebenserhaltende Maßnahme ist, Menschen respektvoll zu behandeln.

Alex Jürgen*: Stars wie Mavi Phoenix, der sich öffentlich als trans* geoutet hat, bin ich sehr dankbar. Sicher gibt es noch mehr trans*, inter* oder nichtbinäre Künstler*innen, die sich nicht outen, weil sie sich diesen Stress nicht trauen. Schade, aber ich kann es verstehen.
Mir war es zum Beispiel immer wichtig, dass man in der Öffentlichkeit nicht weiß, dass ich zum Psychotherapeuten muss. Ich bin dankbar für die Psychopharmaka, die gleichzeitig leider meine Libido unterdrücken. Aber wozu eine Libido in dieser Hetero-Gesellschaft, in der ich nicht vorkomme?

Persson Perry: Nach einer sprachwissenschaftlichen Theorie kommunizieren wir eigentlich immer mit unserer Vorstellung von einer Person statt mit der Person selbst. Mit dem Geschlecht ist es genauso. Du wirst nicht gehört, wenn du nicht Teil der Vorstellung bist, wie du zu sein hast.

Alex Jürgen*: Und so wiegt jeder Schritt dreifach so schwer, du kommst nicht in derselben Geschwindigkeit voran wie andere. Meine Intergeschlechtlichkeit hat mir ziemliche Hirnschäden hinterlassen.

Persson Perry: Was meinst du mit „Hirnschäden“? Schutzmaßnahmen, die für andere komisch wirken?

Alex Jürgen*: Ich kann etwa nicht aufhören, bevor ich eine Arbeit zu Ende gebracht habe. Eine Zeitlang war es für mich nicht auszuhalten, wenn Dinge auf dem Tisch nicht parallel zueinander lagen. Ich bin eigentlich immer im Fluchtmodus. Beim Arzt dauert es keine fünf Minuten, bis mein Fluchtinstinkt losgeht. Ich muss mit mir kämpfen, um nicht davonzurennen. Am liebsten gehe ich zum Zahnarzt, weil dort die liebste Zahnarzthelferin arbeitet. Sie ruft mich nicht mit „Herr“ oder „Frau“ auf, sondern nur mit meinem Namen. Das macht sie, seitdem sie weiß, dass ich intergeschlechtlich bin.

Persson Perry: Genau, es braucht einfach nur eine respektvolle Hal- tung. Du brauchst nicht unbedingt spezielles Wissen zu Inter* oder Trans*, um Menschen respektvoll zu behandeln. Es reicht ein „Okay, aha, Persson? Nicht sie? Machen wir“. Und Punkt.

Alex Jürgen*: Mich interessiert, wie es dir im Vergleich zu früher geht, als du noch als Frau gelesen wurdest: Fühlst du dich jetzt sicherer, wenn du nachts in der Großstadt allein unterwegs bist?

Persson Perry: Komischerweise fühlte ich mich früher sicherer. Ich habe als Frau viel Missbrauch und Belästigung erlebt, konnte aber damit irgendwie umgehen. Als trans* Person fühle ich mich ohnmächtiger. Als Frau hast du zumindest die Berechtigung, ein „richtiges“ Geschlecht zu sein. Als trans* Person hast du das nicht mehr: Die Leute glauben, du bist pervers, kriminell … Ich gehe jetzt meistens als Mann durch, aber es ist fragil und brüchig. „Die müssen mir nur die Hose runterziehen …“, denke ich mir oft. Ich habe Angst vor einer Vergewaltigung. Wenn sie mich „entdecken“, explodiert die Gewalt, so stelle ich mir das vor. Vielleicht auch, weil es in Filmen meist so gezeigt wird.

Alex Jürgen*: Bei mir ist das anders: Seitdem mein Busen weg ist, fürchte ich mich nicht mehr. Ich bin auch als Frau missbraucht worden, aber seitdem ich für Männer nicht mehr attraktiv ausschaue …

Persson Perry: Magst du noch ein Schlusswort sagen? Etwas, was wir noch nicht angesprochen haben, was aber gesagt werden sollte?

Alex Jürgen*: Wir leben 24 Stunden am Tag in einer Gesellschaft, die uns nicht akzeptiert, nicht kennt, nicht haben will. Wir brauchen starke Nerven. Ich weiß, wie hart es sein kann, in dieser Welt zu leben, falsch gesehen zu werden, missverstanden zu werden oder gar nicht gesehen zu werden. In meinem Leben ist viel Grauenhaftes passiert, meine Kunst ist die, dass ich das Grausliche in Bilder umwandeln kann. Wo mir die Worte fehlen, fängt meine Kunst an. Dann muss ich nicht mehr reden.

Persson Perry: Vielen Dank für das Gespräch, es tut echt gut, sich mit einer anderen Person „auskotzen“ zu können. Und auch wenn wir fast nur über schlimme Erlebnisse geredet haben und darüber, wie wir unter der alltäglichen Zweigeschlechterordnung leiden, war das Outing ein sehr wichtiger und befreiender Moment, der bis heute viele gute Dinge nach sich gezogen hat.

Alex Jürgen* ist die erste Person in Österreich, die durch eine stattgegebene Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof einen Pass und eine Geburtsurkunde mit der Geschlechtsbezeichnung „divers“ beziehungsweise „X“ erhielt. 2014 begründete Alex Jürgen* mit Tobias Humer den Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ) und war in diesem bis 2018 aktiv.

Persson Perry Baumgartinger ver/sucht und er/stellt (noch immer) trans_ inter*queer:nichtbinäre Räume – manchmal verzweifelt er daran, manchmal macht es ihm Freude und er fühlt sich empowert. Forscht, vermittelt, berät und kuratiert u. a. zu Sprache & Kommunikation, Trans_ Inter*Queer:Nichtbinär, Kritischem Diversity, Trans-Arts & Cultural Production.

Tintenfischalarm (2006) ist ein Dokumentarfilm von Elisabeth Scharang über das Leben von Alex Jürgen* und Intersexualität.

Ein großes Dankeschön an Gamze Ongan und Vlatka Frketić für die Unterstützung bei diesem Text.


Dieses Interview erschien zuerst in Stimme – Zeitschrift der Initiative Minderheiten, Ausgabe 123, Sommer 2022.

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Gespräch.
Alex Jürgen* und Persson Perry Baumgartinger reden miteinander.
Sie reden über Geschlecht.
Viele Menschen glauben:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Das wirkt sich negativ aus:
Zum Beispiel auf die Personen,
die nicht Mann und nicht Frau sind.
So wie Alex und Persson.
Sie sprechen über ihre Erfahrungen
mit Mikro-Aggressionen.
Mikro-Aggression bedeutet:
Alltägliche Handlungen oder Kommentare,
die abwertend und verletzend sind.
Zum Beispiel:
Der Kellner sagt zu Alex:
„Hallo, schöne Frau.“
Aber Alex ist keine Frau.
Und kein Mann.
Die Leute sprechen Alex und Persson jeden Tag falsch an.
Die Leute starren Alex und Persson auch oft an.
Jeden Tag viele Mikro-Aggressionen zu erleben,
ist sehr stressig.
Mikro-Aggressionen können krank machen.
Persson muss oft erklären:
„Ich bin kein Mann und keine Frau.“
Das ist sehr anstrengend.
Überall hören Alex und Persson:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Das ist sehr verletzend.
Das macht das Leben schwer.
Persson zieht sich deshalb aus dem Leben zurück.
Alex sagt:
„Zuhause bist du geschützt,
draußen nicht.“
Für die Gesundheit von allen Menschen ist wichtig:
Respekt.
Zum Beispiel:
Die Zahnarzt-Helferin ruft Alex mit dem Namen auf.
Ohne „Frau“ oder „Herr“ vor dem Namen.
Alex und Persson machen Kunst und Aktivismus.
Das bedeutet:
Sie kämpfen für gleiche Rechte.
Denn alle Geschlechter sollen so leben können,
wie sie sind.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
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