„Komplett nüchtern“
Nach einer exzessiven Jugend lebt Silence Conrad heute ohne Alkohol und illegale Drogen. Eine persönliche Erzählung vom Weg dorthin – und warum die Normalisierung von Alkohol nervt. Protokoll: Bettina Enzenhofer
„Meinen ersten Rausch hatte ich als etwa Elfjährige. Das war bei einem Frühschoppen am Land mit lauter erwachsenen Männern, die mir mehrere Pfiff Bier eingeschenkt haben. Es hat sich toll angefühlt, wie eine bestandene Aufnahmeprüfung: Endlich gehöre ich dazu in die Welt der erwachsenen Männer.
Ab zwölf habe ich oft getrunken und täglich geraucht. Damals war das nicht streng mit den Altersgrenzen – oder ich wurde für älter gehalten, weil ich mich geschminkt habe. Für meine Freundin und mich war das normal: im Café Alkohol trinken, in der Trafik Zigaretten kaufen. Ich habe mich mit Menschen umgeben, die sich in einschlägigen Bars oder auf der Straße aufhielten: Punks, Obdachlose, Drogenabhängige, Künstler*innen und alternative Menschen. Ihr Leben hat mich fasziniert. Endlich hatte ich ein Zugehörigkeitsgefühl. Über diese Kreise hatte ich plötzlich auch Zugang zu illegalen Drogen. Bis ich 26 war, habe ich so ziemlich alles zumindest ausprobiert, manches täglich konsumiert.
Alkohol ist eine legale Droge
Doch ich habe bei vielen Drogen gemerkt: Das passt nicht. Weil ich aber immer wieder von einer Droge auf die nächste gewechselt habe, wenn sie mir zu viel war, habe ich mir lang eingebildet, irgendwie nüchtern zu sein. Ich habe ja immer etwas Neues konsumiert. Alkohol war eine Konstante, er war mir schon immer vertraut und ist gesellschaftlich akzeptiert. Man wächst ja mit dieser Einstellung auf: Finger weg von Drogen, aber Alkohol ist okay. Doch Alkohol ist natürlich auch eine Droge, wenn auch keine illegale.
Ich hatte in all den Jahren viele Exzesse mit verschiedenen Substanzen. Ich habe aber auch gemerkt, dass Alkohol bereits in geringen Mengen meinen Geist trübt und ich dann Dinge mache, die ich nüchtern nicht machen würde: bestimmte Personen anrufen, mich auf eine bestimmte Art verhalten, meinen Werten nicht treu bleiben. Drogen hatten bei mir die Funktion, etwas zu kompensieren. Ich wollte zwar unter Leuten sein, aber ich musste mir die Leute zurechttrinken, zurechtkonsumieren, um mich sicher zu fühlen. Ich habe gemerkt, dass der Konsum auch meine Depression schlimmer macht. Das war dann für mich der Punkt: Ich will in dieser Abhängigkeit nicht mehr leben. Ich will mein Leben verändern. Einfach nur weniger Konsum war keine Option, das hat nicht geklappt, denn ich bin eine „Ganz oder gar nicht“-Person. Deshalb habe ich beschlossen: Ich bin ab jetzt komplett nüchtern.
Warum trinkst du nichts?
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass Alkohol für mich nicht gut ist, weil Alkohol zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. Es war ein total rebellischer Schritt, mich dagegen zu entscheiden, ein Befreiungsschlag zu sagen: Ich bin jetzt nüchtern, koste es, was es wolle. Und es hat mich viel gekostet, Freundschaften zum Beispiel. Ich wurde belächelt, für verrückt erklärt, nicht ernst genommen. Eine Person hat gesagt: „Deine Zeit wird auch wieder kommen.“
Mittlerweile bin ich seit elf Jahren nüchtern. Ich habe seither keine Zigarette geraucht, keinen Alkohol getrunken, keine illegalen Drogen konsumiert. Diese elf Jahre waren nicht geradlinig, der Anfang war sehr schwer. Ich musste mich von Dingen abgrenzen, die total normal sind, zum Beispiel konnte ich nicht auf Partys gehen. Ich habe gemerkt, wie man gesellschaftlich ausgeschlossen wird, wenn man nüchtern ist. Es kommt immer die Frage: „Warum trinkst du nichts?“ Es wird nicht als normal empfunden, man ist immer der Freak. Das ist sogar in feministischen oder linken Szenen so, wo ich eigentlich einen Safe Space haben wollte. Als nüchterner Mensch wirst du angestarrt, du bist im Rechtfertigungsdruck, dir werden unpassende persönliche Fragen gestellt, das ist sehr nervig. Wenn jemand Alkohol trinkt, frage ich ja auch nicht: „Warum säufst du? Hast du eine schlechte Kindheit gehabt?“ Aber wenn ich nicht trinke, fragen die Leute: „Bist du Alkoholikerin?“
Dass ich keinen Alkohol trinke, hat mich von Dingen getrennt, die ich cool gefunden habe – mich politisch zu engagieren oder in Gruppen aktiv zu sein. All das war mit Alkohol oder Drogen verbunden. Ich bin aber ein total sozialer Mensch und will in Gruppen eingebunden sein. Doch immer beweisen zu müssen, dass ich auch ohne Drogen cool und lustig bin, ist anstrengend. Auf Partys habe ich viel Kaffee getrunken, um möglichst lang durchzuhalten und Anschluss zu haben.
Nüchtern und cool
Mittlerweile ist es für alle in meinem Umfeld normal, dass ich nichts trinke. Ich habe den Status erreicht: nüchtern und trotzdem cool. Seither habe ich mich auch mehr entspannt und nehme mir zum Beispiel öfter das Recht, früh von Partys nachhause zu gehen. Mein Selbstbewusstsein in der Nüchternheit ist in all den Jahren total gestiegen und ich habe die Vorteile eines nüchternen Lebens erkannt: auf meinen Körper zu achten und zu hören. Wenn ich keinen Bock auf eine Party habe, gehe ich nicht hin. Wenn ich müde bin, lege ich mich schlafen. Es gibt heute keine Situationen mehr, in denen ich mir jemanden interessant koksen muss. Der Kontakt mit allen Menschen ist heute ehrlicher, weil ich nichts mehr so leicht verstecken kann. Das ganze Erleben ist intensiver. Ich bin heute sozial mehr eingebunden als jemals zuvor und habe innigere und erfüllendere Kontakte als damals. Ich glaube, dass viele Leute auch das Vulnerable an mir schätzen.
Leute glauben oft nicht, dass ich nüchtern bin. Das finde ich auch schräg: Wenn ich Spaß habe und wild bin, wird das sofort in Verbindung gebracht damit, dass ich etwas genommen haben muss. Es ist weniger akzeptiert, wenn man nüchtern ist und aus sich herausgeht oder wild tanzt. Alkohol ist der Freibrief fürs Wildsein. Alkohol wird aber auch als Entschuldigung für ungutes Verhalten verwendet, das finde ich nicht in Ordnung.
Mehr nüchterne Spaces
Alkohol wird überall konsumiert, da kann man nicht aus. Wenn ich in einer Runde sitze, in der alle Alkohol trinken, muss ich die Leute schon sehr gut kennen, dass das für mich passt. Ich habe dann das Gefühl: Ich bin zwar dabei, aber irgendwie auch nicht. Es ist nicht schön, in diesen Runden die einzige nüchterne Person zu sein. Das kann ich manchmal mehr akzeptieren, manchmal weniger. Oft gehe ich schon früh heim, wenn die Leute so betrunken sind, dass es für mich nicht mehr lustig ist, man sich nicht mehr unterhalten kann. Wenn ich dann am nächsten Tag ohne Kater aufwache, ist das das geilste der Welt, das ist unbeschreiblich. Ich bin süchtig danach, keinen Kater zu haben! Nüchtern zu werden war ein Struggle, aber heute muss ich sagen: Mein Leben ist Kick-Ass!
Es gibt natürlich unterschiedliche Beweggründe dafür, sich zu berauschen. Es gibt genauso unterschiedliche Gründe dafür, nüchtern zu sein. Suchterkrankungen können ganz unterschiedlich aussehen. Und auch die Grenzen zwischen süchtig sein und nicht süchtig sein sind fließend. Rausch ist auf jeden Fall etwas Menschliches, und jede Person soll für sich selbst bestimmen können, inwiefern sie sich berauschen möchte. Und zwar frei und nicht mit Normalitätsbegriffen.
Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft offener wird für die Möglichkeit, dass Alkohol nicht in jedem Leben Platz haben muss. Ich fände es cool, wenn es mehr nüchterne Spaces geben würde, auch in linken und feministischen Kreisen. Und wenn es nüchterne Partys gäbe mit antialkoholischen Drinks. Oft gibt es coole Cocktails, aber kein einziger ist antialkoholisch. Oder ich bezahle Eintritt und bekomme einen Schnaps – und es gibt keine antialkoholische Alternative. Nüchternheit muss genauso akzeptiert sein wie Konsum. Für mich ist Nüchternsein ein Teil meiner Identität geworden, das gehört zu mir. Ich sollte mich dafür nicht rechtfertigen müssen.“
Silence Conrad ist Puppenspielerin und Gedichteschreiberin.