Mein Mund, meine Entscheidung
Zähneputzen mit Spaß und Konsens: Nadine Kegele bringt mit ihrem Kinderbuch Leichtigkeit in ein schwieriges Thema. Interview: Bettina Enzenhofer

Das ist die Zusammenfassung von einem Interview. Im Interview spricht die Autorin Nadine Kegele mit Bettina Enzenhofer über ihr Kinderbuch. Das Buch heißt: „Mein Mund gehört nur mir allein!“
Im Buch geht es ums Zähneputzen. Das Buch ist aus der Perspektive eines Kindes geschrieben. Es hat viele lustige Reime. Es ist kein klassisches Ratgeber-Buch für Erwachsene.
Nadine Kegele wollte das Buch schreiben, weil ihr so ein Buch gefehlt hat. Sie hat selbst zwei Kinder. Sie kennt die Situation, wenn ein Kind nicht Zähne putzen will. Heute sagt sie: Wenn ein Kind nicht Zähne putzen wollte und sie es trotzdem gemacht hat, dann war das Gewalt. Heute macht sie das nicht mehr.
Die Autorin sagt: Man muss die Grenzen von Kindern beachten. Wenn ein Kind nicht Zähne putzen will, darf man es nicht festhalten oder zum Zähneputzen zwingen. Man muss Kindern Zeit geben. Man soll lernen, auf das „Ja“ eines Kindes zu warten. Man kann zu einem Kind zum Beispiel sagen: „Sag mir, wenn du bereit bist.“ Kinder sollen entscheiden können, was mit ihrem Körper passiert. Zähneputzen und Zahngesundheit sind wichtig, aber die psychische Gesundheit ist auch wichtig.
Die Autorin hat bisher von Kindern und Eltern viele gute Rückmeldungen bekommen. Sie sagt, das Buch ist aber kein Allheilmittel. Es gibt Kinder, die das Buch lustig finden, aber trotzdem nicht Zähne putzen wollen.
Nadine Kegele sagt: Das Buch soll Kinder und Eltern stärken. Und es soll Eltern daran erinnern, dass sie keine Gewalt ausüben.
Bettina Enzenhofer hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at
Bettina Enzenhofer: Bisher hast du Literatur für Erwachsene geschrieben. „Mein Mund gehört nur mir allein!“ ist dein erstes Kinderbuch. Warum wolltest du ein Zahnputzbuch schreiben?
Nadine Kegele: Als mein älteres Kind etwa 18 Monate alt war, habe ich gemerkt, dass mich sein Zahnputz-Nein verzweifelt aggressiv werden lässt. Dabei wollte ich geduldig sein. Social Media hat mir damals vermehrt Videos aufs Handy gespült mit Tipps wie: Kind auf den Boden legen, mit den Knien fixieren, putzen. Das fand ich sehr verstörend. Zu einer Freundin sagte die Kinderärztin zeitgleich: „Ich habe alle meine Kinder beim Zähneputzen festgehalten und heute haben sie wunderschöne Zähne.“ Ich war bei derselben Ärztin mit meinem Kind. Ich mochte die. Sie war immer liebevoll. Da habe ich gemerkt: Zahngesundheit steht gesellschaftlich so hoch oben, dass gewaltvolles Putzen nicht als solches wahrgenommen wird. Zeitgleich habe ich auf Empfehlung ein berühmtes Zahnputzbuch gekauft, das lustig sein soll, aber eigentlich mit Beschämung arbeitet: „Wenn du nicht putzt, dann stinkst du aus dem Mund.“ Deshalb habe ich beschlossen, ein Zahnputzbuch zu schreiben, wie es mir fehlt. Mir war sofort klar, es muss aus der Perspektive des Kindes sein. Es soll das Kind empowern in seinem „Mein Körper ist meiner“ und die Erwachsenen durch die ständige Erinnerung daran in eine Ruhe kommen lassen, quasi in eine radikale Akzeptanz, wenn das Kind auch mal partout nicht will. Der Arbeitstitel war „Das Zahnputz-Om“.
Bettina Enzenhofer: Dein Buch vermittelt eine Leichtigkeit – ganz anders als man es bei diesem Thema kennt. Und es ist eine Entdeckungsreise: Ein Entdecken des eigenen Tempos, ein Entdecken der eigenen Grenzen und ein Entdecken der Welt. Welche Botschaft möchtest du Kindern und Eltern mit deinem Buch vermitteln?
Nadine Kegele: Die zwei wichtigsten Botschaften sind: Dass es immer um die Liebesbeziehung zwischen Eltern und Kind geht und um die körperliche Integrität des Kindes. Dass Kinder alles in ihrem eigenen Tempo machen und Erwachsene mitschwingen dürfen. Weil’s dann leichter geht und vor Adultismus bewahrt. Dass wir Erwachsenen Verständnis für die Kindersicht brauchen und auch spielerisch an die Sache rangehen dürfen. Auf Augenhöhe mit dem Kind, selbst wenn das den meisten sehr schwerfällt – auch mir am Anfang. Weil wir es nicht gewohnt sind aus der eigenen, meist sehr reglementierten Kindheit, wo Strafen an der Tagesordnung waren. Für mich hat die Arbeit an diesem Buch genau das geschafft: in Beziehung bleiben, spielerisch werden, dem Kind seine Zeit lassen. Lernen, auf sein Ja zu warten.
Bettina Enzenhofer: Inwiefern siehst du dein Buch als Beitrag zur Förderung von Konsens und Selbstbestimmung bei Kindern?
Nadine Kegele: Kinder sollen wissen, dass ihr Körper ihre Entscheidung bedeutet. Das fängt schon beim Wickeln an, beim Herumgereicht-Werden als Baby, beim Hände-schütteln-Müssen als Kind. Zähneputzen steht da exemplarisch. „Mein Mund gehört nur mir allein!“ ist die tägliche Erinnerung daran – und meines Wissens nach das einzige Zahnputzbuch in einem Publikumsverlag, das darauf den Fokus legt. Es ist Missbrauchsprävention und Empowerment für das Kind. Und es ist eine Bestärkung für Eltern, dass sie ihrem Gefühl, dass sich etwas gewaltvoll anfühlt, vertrauen dürfen – egal, was Ärzt:innen, Großeltern, Freund:innen, das Internet oder das große Zahnputznarrativ sagen.
Bettina Enzenhofer: Rückblickend erkennst du, dass du beim Zähneputzen Grenzen deiner Kinder verletzt hast – das schreibst du auf Instagram. Das hat sich für dich falsch angefühlt, aber du dachtest: Zähneputzen ist wichtig, das muss immer sein. Mittlerweile siehst du das anders.
Nadine Kegele: Mir war klar, dass ich nicht einfach drauflosputze, wenn das Kind wach ist. Aber es war für mich schwierig zu erkennen, dass es Gewalt ist, wenn das Kind weggeschlafen war und dann nicht putzen wollte. Ich dachte, ich müsste putzen, weil ich für die Gesundheit verantwortlich bin. Das ist ja das gängige Zahnputznarrativ. Und man will ja das Kind vor Schmerzen bewahren. Dass Zahngesundheit nicht über der psychischen Gesundheit stehen kann, ist mir erst langsam gedämmert. Mein Gefühl war ganz leise, das Narrativ war so laut.
Zähne betreffend habe ich einen Rucksack aus meiner Vergangenheit, der mich recht triggert. Ich habe erst mit 12 begonnen, Zähne zu putzen, weil mir da die Ablagerungen peinlich wurden. Bis dahin war es – wegen Überforderung – mir selbst überlassen. Für was entscheidet sich ein Kind wohl? Mit 15 hatte ich die erste Wurzelbehandlung. Was mich zusätzlich gestresst hat: Mein älteres Kind hat Kreidezähne, da ist der Zahnschmelz viel zu weich.
Heute passiert es, dass wir mal nicht putzen können. Ich mache mir dann Sorgen, aber ich zerfleische mich nicht mehr. Ich habe die Aufgabe, die Gesundheit und die körperliche Integrität meines Kindes zu schützen, weiß ich heute. Auch vor mir selbst. Dass ich dazu früher nicht in der Lage war, bedaure ich sehr. Mein zweites Kind genießt den Vorteil einer jetzt klügeren Mama.
Bettina Enzenhofer: Wie kann Zähneputzen gelingen, ohne die Grenzen von Kindern zu verletzen – oder sogar Spaß machen, wie es in deinem Buch heißt?
Nadine Kegele: Eigentlich ist es ganz einfach: immer auf das Ja des Kindes warten, verbal oder nonverbal. Es gibt auch einen Zaubersatz: „Sag mir, wenn du bereit bist!“ Und dann immer wieder nachfragen: „Bist du jetzt bereit? Nein? Dann warte ich noch mal.“ Kinder wollen auch bestimmen. Und wenn sie merken, sie dürfen über sich selbst bestimmen, dann sind die meisten Kinder auch beim Zähneputzen kooperativ. Wobei es schon manchmal Durststrecken gibt, für die man als Eltern ziemliche mentale Stärke braucht. Da soll mein Buch auch helfen: sich die gewaltfreie Haltung, die man haben will, in Erinnerung zu rufen auf jeder Seite. Bei uns dauert das Putzen heute auch mal eine halbe Stunde oder länger, für drei Mal alle Zähne schrubben. Sich die Zähne nachputzen zu lassen, ist unangenehm. Ich fand das beim Selbsttest mit meinem Mann furchtbar. Und das mit dem Spaß wird immer einfacher, wenn man sich darauf einlässt. Wir hatten mal das Spiel: Tiere suchen im Mund. Da hat sich das Eichhörnchen hinter den Schneidezähnen versteckt oder Babyhasen haben auf den Backenzähnen geschlafen. Verschiedene Zahnputzorte, Rollenspiele, Lieder erfinden, es ist alles möglich.
Bettina Enzenhofer: Dein Buch ist in Reimform aus der Perspektive eines Kindes geschrieben und hat keine Regeln oder Tipps – letzteres hat mich bei diesem Thema positiv überrascht.
Nadine Kegele: Die einzige Regel ist die KAI-Methode, also Kau-, Außen-, Innenfläche. Die habe ich in einen lustigen Reim verpackt. Tipps kann man sich ja schnell anlesen. Auch Erklärbär-Bücher gibt es genug und Bücher mit Tieren. Mir ging es darum, dass mein Buch nicht manipuliert, nicht Angst macht, nicht jeden Tag aufs Neue aufs Putzen einpeitscht, sondern sich am Kind orientiert und Leichtigkeit und Liebe versprüht. Ich wollte auch bewusst auf Karies verzichten. Karies in den Raum zu stellen, ist eine Drohung. Für Kinder nicht einschätzbar.
Bettina Enzenhofer: Welche Rückmeldungen hast du bisher bekommen?
Nadine Kegele: Viele schöne! Eltern fällt das genderneutrale Kind auf, was mich freut, weil das mir und auch der Illustratorin Ana Paola Castro Villegas wichtig war. Ihre bunten, vieldeutigen Illustrationen werden sowieso super aufgenommen. Mein 16 Monate altes zweites Kind kann sich eine Viertelstunde vertiefen, ungewöhnlich lange für das Alter. Das Krafttier im Buch, ein Überbleibsel vom Zahnputz-Om mit Neuinterpretation von Ana, das von den meisten als Katze gelesen wird, wird gern gemocht. Mütter haben rückgemeldet, dass nach dem Lesen das Zähneputzen leichter ging. Ein Kind hat am nächsten Morgen freiwillig die Zahnbürste geholt. Dass das Buch schon beim ersten Kind gebraucht worden wäre, habe ich gehört. Ein Papa hat mehr Geduld und Vertrauen in die Zahnputzbeziehung gefunden. Alle finden das Buch lustig, Erwachsene und Kinder. Expert:innen und Rezensent:innen haben es begeistert besprochen. Und die zwei Zahnputzlieder auf Spotify, mit denen ich das Buch begleite, sind – so ein Kind – Ohrwürmer. Also bisher super Rückmeldungen.
Es ist natürlich kein Allheilmittel. Ich weiß von zwei Kindern, die das Buch toll finden und trotzdem bei ihrer derzeitigen Nein-Phase bleiben. Dann kann das Buch die Eltern hoffentlich stärken, bei ihrer gewaltfreien Haltung zu bleiben. Das Nein ist ja auch ein Recht des Kindes. Ich glaube, gegen dieses Buch kann nur eine Person sein, die die Gehorsamserziehung auch 2025 noch als the way to go empfindet. Davor, so jemand zu werden, schützt das Buch jedenfalls auch.
Mein Mund gehört nur mir allein! Für Zähneputzen mit Spaß und Konsens, Achse Verlag 2025
Nadine Kegele, geboren 1980 in Bludenz, wohnhaft in Wien. Bürokauffraulehre, Studienberechtigung am Zweiten Bildungsweg, Studium der Germanistik und Gender Studies. Arbeiten als Autorin für große und kleine Menschen, Lektorin bei der Wiener Straßenzeitung Augustin, derzeit Gründung des Online-Programms „Texte, die durchs Leben helfen“, wo Teilnehmer*innen im Zuge einer Creative-Journal-Begleitung auf schwierige Fragen ihre Antworten finden können.
Weitere Veröffentlichungen:
Und essen werden wir die Katze. Texte und Collagen, Kremayr & Scheriau 2018
Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband 40 Jahre nach Maxie Wander, Kremayr & Scheriau 2017
Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zuhause. Roman, Czernin 2014
Annalieder. Erzählungen, Czernin 2013
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