ADHS: „500.000 Gedanken auf einmal“
Mit Ende 30 hat Lia S. die Diagnose ADHS bekommen. Das hat ihr dabei geholfen, sich selbst besser zu verstehen. Protokoll: Bettina Enzenhofer
„Meine Psychiaterin hat mich irgendwann gefragt, ob ich schon mal auf ADHS getestet worden bin. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Für mich war es lange nicht denkbar, dass ich ADHS haben könnte. Ich war kein hyperaktives Kind, ich war nicht unaufmerksam oder sozial inkompatibel.
Ich habe viel über ADHS bei Frauen/Mädchen gelesen und gelernt, dass sich ADHS bei ihnen oft anders zeigt: Das H in ADHS ist bei Frauen/Mädchen oft hypoaktiv statt hyperaktiv, z.B. sehr introvertierte Kinder, die eher durch Träumerei auffallen als durch äußere Nervosität – und die sich dadurch schlecht konzentrieren können. Ich bin sehr intelligent und intellektuell, sprachlich und sozial begabt, ich verstehe schwierige Theorien, trotzdem bin ich in meinem Leben oft hinter meinen Möglichkeiten geblieben. In der Schule war ich einseitig begabt, in manchen Fächern Klassenbeste, hatte viele Einser, aber eben auch Fünfer. Für die Lehrer*innen war das rätselhaft. Solche Dinge sind mir erst eingefallen, als ich wissenschaftliche Artikel über ADHS gelesen habe.
Immer etwas Neues
Ich kann selten etwas fertigbringen – das gehört zu den klassischen ADHS-Symptomen. Ich fange viele Dinge an, weil mir die Konzentration auf nur ein Ding fehlt. Ich will staubsaugen, fange damit an, muss aber währenddessen wie getrieben etwas anderes machen, Kaffee kochen z.B., ein paar Zeilen schreiben, und merke dann wieder, dass ich eigentlich noch fertig staubsaugen müsste. Ich bin im Alltag nicht fokussiert. Die Konzentration auf nur eine Sache kann mein Gehirn nur dann herstellen, wenn ich im Hyperfokus bin – das ist ein ADHS-Begriff: Das bedeutet, dass ich mich nur noch auf eine bestimmte Sache konzentriere, z.B. arbeite ich stundenlang an einem Text, gehe nicht aufs Klo oder trinke nichts. Aber ich priorisiere dann falsch und mache nicht den einen Anruf, der heute dringend gewesen wäre und nur drei Minuten gedauert hätte. Was mir beim Arbeiten oder Erledigen von wichtigen Dingen oft hilft, ist Body Doubling: auch ein Begriff aus dem Kontext der ADHS-Forschung. Wenn jemand anderes neben mir sitzt, kann ich mich besser konzentrieren. Das war schon immer so.
Ordnung halten ist für mich schwierig, sowohl in der Wohnung als auch in der Organisation des Lebens und der Aufgaben. Das schafft mein Gehirn nicht. Das alles geht einher mit innerer Unruhe – diese Unruhe haben viele unerkannte erwachsene Menschen mit ADHS. ADHSler*innen suchen die Herausforderung, immer etwas Neues. Wir wissen, dass wir Ruhe und Routine bräuchten – aber genau das macht uns wiederum wahnsinnig.
Misserfolge sind auch ein Klassiker bei ADHS-Menschen. Du scheiterst, obwohl du klug bist, du verhaust Prüfungen. Für manche ist es auch eine Überforderung, untertags nicht auf das Essen zu vergessen. Entweder bist du so stark im Hyperfokus oder das Chaos ist zu groß – sodass du vergisst, eine Mahlzeit zu dir zu nehmen. Manche stellen sich einen Wecker fürs Essen. Andere wiederum essen den ganzen Tag kleine Snacks, weil sie den Stimulus brauchen. Ein Klassiker ist auch Rauchen oder an den Nägeln zu kauen.
Ich verliere schnell die Geduld, werde richtig wütend, wenn ich bei einer Aufgabe auf Barrieren stoße. Das war bei mir schon immer so. Ich möchte dann am liebsten schreien und alles hinwerfen. Impulsiv sein ist klassisch für ADHS. Viele ADHS-Leute reden viel und ohne Filter, einfach drauf los. Ich kontrolliere mich hier sehr stark und habe mir das größtenteils abgewöhnt. In meinem Beruf muss ich ruhig sein und zuhören, sortiert sein. Diese negativ konnotierte Impulsivität bei ADHS geht aber auch einher mit einer extrem hohen Begeisterungsfähigkeit. Wir ADHSler*innen sind Leute, die gute Laune verbreiten, spannende Ideen einbringen und vielfältige Kontakte in alle möglichen Richtungen haben. So bin ich. Man muss auch die positiven Seiten einer Neurodivergenz erwähnen.
Viel Output
Was mich von vielen anderen ADHS-Menschen unterscheidet: Ich habe auffallend viele langjährige Freundschaften. Viele ADHSler*innen haben mit dem Halten von Freundschaften und Beziehungen Schwierigkeiten. Ich weiß für mich: Ich brauche den Input von vielen verschiedenen Menschen und Dingen – das ist wiederum typisch für ADHS. Ich lebe polyamor, das passt auch gut in dieses Muster. Ich brauche ständig Input, aber er wird mir auch schnell und plötzlich zu viel – und dann komme ich nicht mehr klar. Ich schaffe sehr viel, habe extrem viel Energie. Ich kann emotional viel aushalten und schaffe terminlich sehr viel. Nur irgendwann kommt dann der Punkt, wo der Mensch zusammenfällt – auch das ist typisch für ADHS. Dass man sich wieder verkalkuliert und über seine eigenen Grenzen geht. Es ist wichtig, das über sich zu wissen, um sich dann längere Pausen einzubauen.
Manche Menschen denken, dass ADHSler*innen unempathisch sind, aber das ist nicht wahr. Sie kommen oft so rüber, weil sie dir möglicherweise etwas knallhart ins Gesicht sagen, weil das soziale Gespür fehlt. Aber ADHS-Menschen sind oft ganz sensible Menschen und durchaus feinfühlig, oft auch sehr kreative Menschen. Ich erkläre es mir so: Wenn man viel Input sucht, kann man auch viel Output geben. ADHS-Menschen sind oft für andere da, stellen ihr Eigenes nach hinten, weil sie die Kontrolle nicht haben. Mich beneiden viele Menschen um meine intensiven Beziehungen und innigen Begegnungen. Das macht mich definitiv reich.
Funktioniert mein Hirn anders?
Bei Frauen wird ADHS oft später diagnostiziert als bei Männern, weil Mädchen oft eine andere Symptomatik zeigen. Das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom fällt oft weg. Auch mein ADHS ist vergleichsweise unauffällig. Menschen in meinem Umfeld ahnen das nicht. Ich strenge mich schon mein Leben lang an, gelassen zu wirken oder stundenlang ruhig zu sitzen. Ich erbringe damit extreme Anpassungsleistungen. Das macht mich untertags oft extrem müde. Mir hat es geholfen, zu lesen, dass es anderen Mädchen/Frauen mit ADHS auch so ging wie mir. Bei Erfahrungsberichten habe ich mir oft gedacht: So vieles daraus trifft auf mich zu. Ich habe eine offizielle psychologische Diagnose. Andere vielleicht nicht. Ich denke, die wichtigen Fragen sind: (Wo) finde ich mich in der ADHS-Thematik wieder und wenn ja, welche Maßnahmen helfen mir?
Ich habe auch wiederkehrende Depressionen, doch Antidepressiva haben bei mir nie gewirkt, ich habe 15 Jahre lang verschiedenste ausprobiert. Auch das kann auf ADHS hinweisen, vor allem wenn man paradoxe Wirkungen auf diese Medikamente spürt. Ich wollte die mehrstündige Testung auf ADHS machen, weil ich die Info haben wollte: Funktioniert mein Gehirn anders? Kann ich deshalb manche Dinge weniger gut? Das Ergebnis war eindeutig. Ich tue mir trotzdem mit der Diagnose schwer und erzähle nur wenigen Menschen davon – nur solchen, die mir sehr nahestehen oder selbst neurodivergent sind. Diese Menschen gehen relativ normal mit meiner Diagnose um. Es hilft ja auch, im Miteinander Dinge zu (er-)klären. Bei anderen Menschen kann es sein, dass sie ADHS gleichsetzen mit: nicht intelligent, unzuverlässig, unordentlich. ADHS ist extrem negativ besetzt. Deshalb will ich es auch nicht in meiner Arbeit sagen.
Mehr Verständnis für sich selbst
Ich habe die gängige Medikation bekommen, Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin. Anfangs war ich nicht sicher, ob ich es nehmen soll. Ich habe es in geringer Dosierung probiert und bereits am zweiten Tag gemerkt: Das ist das erste Medikament, das etwas Gutes mit mir macht. Es macht mich ruhig, geordneter, fokussierter. Aber es treibt mich nicht an. Das ist für mich zum ersten Mal in meinem Leben die richtige Medikation. Ich muss es nicht jeden Tag nehmen, sondern nach Bedarf. Ich muss mich ja nicht immer fokussieren, an diesen Tagen muss ich es auch nicht nehmen.
Seit der Diagnose bewerte ich Dinge anders, ohne mich darauf auszuruhen. Vor der Diagnose habe ich den Wahnsinn in meinem Leben und meine schulischen Leistungen auf meine Traumatisierungen zurückgeführt – z.B. auf meine massiven Mobbingerfahrungen. Doch ADHS kann durch Trauma verstärkt werden, das ist miteinander verschränkt. Man kann es nicht immer auseinanderhalten: Welche meiner Symptome kommen vom ADHS, welche von der Depression, und welche vom Trauma? Oder kommt die Depression wegen des ADHS, etwa durch die ständige Anpassungsleistung?
Oft heißt es, ADHS sei eine Modediagnose. Sicher werden derzeit so viele ADHS-Diagnosen gestellt wie nie zuvor. Aber es geht darum, dass man etwas verbessern will. Es kann sein, dass depressive Zustände verändert werden können, wenn man sich auf das ADHS einlässt und sagt: Ich habe ADHS – das heißt, dass ich Struktur von außen brauche, dass ich vielleicht auch Menschen brauche, die mir helfen, in meinem Leben Dinge zu ordnen.
Ich gebe mittlerweile zu, wenn ich es nicht schaffe, meine Papiere zu ordnen. Ich suche mir Hilfe, denn mein Leben ist dadurch eingeschränkt, wenn ich z.B. Gelder nicht bekomme, weil ich Fristen verpasse. Und dann sagt jemand: ‚Ich helfe dir.‘ Das hilft ADHS-Leuten wie mir wirklich. Seit der Diagnose frage ich mich nicht mehr so oft: Was ist falsch mit mir, warum kann ich meine Wohnung nicht ordentlich halten? Sondern ich nehme mir vor: jeden Tag zehn Minuten aufräumen. Das hat mir jemand aus der Selbsthilfegruppe geraten.
Zu spät kommen ist bei mir auch ein wichtiger Punkt: Ich bin fast immer zu spät. Das tut mir wahnsinnig leid. Wenn ich weiß, ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, bis ich gehen muss, fallen mir noch tausend Dinge ein, die ich in dieser Zeit machen will. Die mache ich dann wirklich noch. Und am Ende gehe ich zu spät los, obwohl ich es anders geplant habe. Mein Gehirn trickst mich aus – und ich mache mich jetzt nicht mehr fertig deswegen. Ich sage nicht: ‚Das ist halt so.‘Aber ich sage zu anderen: ‚Bitte komm nicht zu früh! Du weißt, ich werde zu spät sein.‘ Ich freue mich immer, wenn andere zehn Minuten zu spät kommen. Das ist angenehm für mich.
Eine Vielfalt von Gehirnen
Ich finde den Störungsbegriff (‚Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung‘) nicht so negativ wie viele. Die Frage ist, was man mit dem Begriff macht: Sondert man die ‚gestörten‘ Menschen ab? Oder nehme ich uns alle als eine Vielfalt von Körpern, Gehirnen, Seelen wahr? Ich sage: Bei mir liegt eine Störung in der Ordnung vor. Ja, ich fühle mich in meinem Leben gestört. Mein Leben ist ein Wahnsinn. Manchmal habe ich das Gefühl: Ich kann gerade nicht leben, es ist zu viel in meinem Kopf, ich schaffe das nicht. ADHS ist wie ein Karussell, 500.000 Gedanken auf einmal, und es hört nicht auf. Mit meiner Unordnung im Außen und Innen, die ich selbst nicht aushalte, nehme ich mich mit einer Störung lebend wahr, man kann es auch Besonderheit oder was auch immer nennen. Ich lebe zudem mit einer kleinen körperlichen Behinderung. Mit ihr ist es genauso: Ich finde es wichtig, das ‚Besondere‘ nicht wegzuwischen und so zu tun, als wäre es ganz normal. Besonders heißt aber weder besser noch schlechter. Es ist eher eine Art Zusatz. Ich will die Besonderheit, damit zu leben, differenzieren können. Es gibt Menschen, die leben mit Trauma, Krankheit oder Behinderung, und es gibt Menschen, die leben mit nichts von all dem. Das heißt nicht, dass es den anderen nur gut geht oder sie nicht auch im Laufe ihres Lebens behindert werden können – aber es sind nicht alle gleich. Und manche gehen leichter durchs Leben als andere. Ich ging noch nie leicht durchs Leben, aber ich bin nicht mehr selbstmitleidig. Denn gleichzeitig habe ich viele Stärken, gerade auch durch meine körperlichen und psychischen Herausforderungen, die mir unersetzliche Begegnungen und tiefgreifende Erfahrungen in mein Leben bringen. Dafür bin ich auch dankbar.“
Lia S. arbeitet als Führungskraft. Trotz oder gerade mit ihrer ADHS bringt sie in ihrem Beruf ihre vielfältigen sozialen, kreativen und intellektuellen Fähigkeiten ein.