Armut macht krank – Krankheit macht arm
Janina Lütt über Armut als enormes Gesundheitsrisiko und eine Politik, die Teilhabe für alle ermöglichen muss.
Mein Name ist Janina Lütt, ich bin seit 25 Jahren armutsbetroffen, da ich chronisch krank bin. Armut und Gesundheit sind untrennbar miteinander verbunden – das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich lebe in Deutschland. Dort gibt es das Bürgergeld für erwerbsarbeitslose Menschen. Es ist darauf ausgelegt, dass Menschen wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen sollen. Für kranke, nicht mehr arbeitsfähige Menschen gibt es in Deutschland die Grundsicherung. „Bezieherinnen/Bezieher ohne Krankenversicherungsschutz werden von den Sozialämtern zur Krankenversicherung angemeldet. Der uneingeschränkte Zugang zu medizinischen Leistungen ist damit gewährleistet“, informiert das Amt. Die Gesundheitsversorgung ist also abgedeckt, das sollte uns doch freuen, oder nicht?
Klassismus im Gesundheitswesen
Tatsächlich existieren große Lücken und Ungleichheiten – auch in reichen Ländern wie Deutschland und Österreich, wo es ein gut ausgebautes öffentliches Gesundheitssystem gibt. Wer arm ist, geht beispielsweise meist weniger häufig zu Ärzt*innen. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Da ist etwa die Beschämung und Stigmatisierung armutsbetroffener Menschen, der sogenannte Klassismus. Menschen werden aufgrund ihrer sozialen Herkunft und finanziellen Mittel stigmatisiert und treffen gerade bei Ärzt*innen auf besserverdienende Menschen, die kaum Berührungspunkte mit Armut haben. Mit Armen kann man kaum Geld verdienen, sie können sich keine hohen Zusatzkosten und/oder Behandlungsmöglichkeiten als Selbstzahlende leisten. „Einkommensschwächere Personen suchen nicht nur um 20 Prozent seltener Fachärzte auf als vergleichbare Personen, sondern erhalten auch durchschnittlich billigere Arzneimittel verordnet“, schreibt Martin Schenk in einem Papier zu Kindergesundheit und Armut.
Häufigere Krankenhausaufenthalte
Die ständige Beschämung von armutsbetroffenen Menschen durch die Gesellschaft kann zu Minderwertigkeitsgefühlen, Ängsten, Aggression und Depressionen führen. Das bestätigt auch die österreichische Gesundheitsbefragung 2006/7. „Auffallend stark treten die psychosozialen Auswirkungen hervor. Armut kränkt die Seele. Menschen mit geringem sozioökonomischem Status weisen signifikant mehr Krankenhausaufenthalte aufgrund affektiver Störungen wie Depression auf. Bei arbeitslosen Personen beträgt die Wahrscheinlichkeit noch ein Vielfaches. Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für Belastungsstörungen beobachten“, ist dort zu lesen.
Weitere Studien belegen, dass sich psychische Erkrankungen durch die Armutssituation verschlechtern und dass psychische Erkrankungen eine der Hauptursachen für Langzeit-Erwerbslosigkeit sind, erst danach folgen körperliche Erkrankungen wie chronische Herz-Kreislauf-Probleme und orthopädische Probleme wie chronische Rückenschmerzen.
Angst vor Ablehnung
Durch mangelnde soziale Teilhabe leidet das Selbstwertgefühl, denn vieles, das Geld kostet, wie etwa ein Kinobesuch oder ein gemeinsames Essen mit Freund*innen, ist in einer länger andauernden Armutssituation nicht mehr möglich. Die Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und Ablehnung schürt Ängste. Deshalb greifen viele eher zu Notlügen und Ausreden, als deutlich und ohne Scham zu sagen: „Ich kann das nicht mit dir unternehmen, denn ich bin armutsbetroffen.“ Viele armutsbetroffene Menschen betreiben sehr viel Aufwand, um als „nicht arm“ zu gelten und ihre Armut so gut es geht zu verstecken. Schlechte Erfahrungen mit dem Klassismus der Mitmenschen verschlimmern die Situation der armutsbetroffenen Person, sodass Misstrauen, Frust und Enttäuschungen häufig in Schuldgefühlen gipfeln, dabei ist Armut im seltensten Fall die Schuld der betroffenen Person, sondern basiert auf strukturellen und politischen Ursachen. Dem Individuum die Schuld für Armut zuzuschreiben, ist bloß der Versuch der Gesellschaft, das Armutsproblem auf eine individuelle Ebene zu schieben. Damit lenkt auch die Politik gerne von den eigentlichen Ursachen ab.
Wer arm ist, stirbt früher
Menschen in Haushalten unter der Armutsgrenze weisen einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als in Haushalten mit hohen Einkommen und sind doppelt so oft krank wie Menschen in Haushalten mit mittlerem Einkommen, meldete die Statistik Austria 2014. Selbst internationale Forschungsergebnisse wie der Europäische Gesundheitsbericht der WHO belegen: Mit sinkendem sozioökonomischem Status steigen die Krankheiten an, Menschen mit dem geringsten sozialen Status weisen die schwersten Krankheiten auf und sind gleichzeitig mit der geringsten Lebenserwartung ausgestattet. Wer arm ist, stirbt also auch früher. Menschen, die manifest arm sind, sterben in Österreich um mehr als zehn Jahre früher als der Rest der Bevölkerung, so eine Berechnung der Statistik Austria 2018.
Warum ist das so?
Arme Menschen sind meist in einer Wohnsituation, die sich nachteilig auf die Gesundheit auswirkt: Billige Wohnungen sind oft klein, in marginalisierten Vierteln und sehr oft sind Sozialwohnungen schlecht saniert oder werden von der Hausverwaltung vernachlässigt. Eine sogenannte „Schimmelwohnung“ ist ein großes Gesundheitsrisiko. Ein Umzug ist durch die hohen Mietpreise fast unmöglich, wenn man nur über ein geringes Einkommen verfügt. Der Dauerstress durch die Armutssituation ist geprägt von Existenzangst, Sparmaßnamen, Abhängigkeit von den Behörden und der gesellschaftlichen Beschämung. Arme haben nicht die Möglichkeit, einfach mal Urlaub zu machen und sich von dem Stress zu erholen. Durch mangelnde soziale Teilhabe verlieren viele Armutsbetroffene ihr soziales Netz oder/und sind nicht in der Lage, eines aufzubauen. Auch erhalten sie oft weniger emotionale Unterstützung durch andere als Menschen mit höherem sozialen Status. Hinzu kommen ein Mangel an Informationsmöglichkeiten und Unwissen über Hilfsmöglichkeiten. Nicht nur sprachliche Barrieren können ein Problem darstellen, auch die Angst vor Beschämung greift hier wieder. Dies geht so weit, dass Menschen, die Hilfe in Anspruch nehmen könnten, aus Scham darauf verzichten.
Versteckter Hunger
Ein wesentliches Gesundheitsrisiko für armutsbetroffene Menschen ist außerdem Mangelernährung, denn gesunde Ernährung und Armut schließen sich im Grunde aus. In Deutschland wird der aktuelle Geldbedarf für gesunde Ernährung bei der Regelsatzbemessung der Grundsicherung nicht ermittelt, das heißt, es wird keine Rücksicht darauf genommen, ob sich Menschen in der Grundsicherung mit genügend Mikronährstoffen versorgen können, die der Körper dringend benötigt.
Beim sogenannten versteckten Hunger werden die Bedürfnisse des Körpers an notwendigen Nährstoffen durch die Ernährung nicht gedeckt. Wie das deutsche Bundeszentrum für Ernährung berichtet, sind neben Senior*innen davon hauptsächlich Arme betroffen. Es fehlt an ausreichender Versorgung mit Eisen, Jod, Folsäure, Kalzium, Kalium und den Vitaminen E und D. Armutsbetroffene Menschen priorisieren eher Nahrungsmittel, die reich an Kalorien sind und damit sättigen, aber arm an Nährstoffen sind. So kommt es zu einer Unterversorgung, die sich negativ auf die Gesundheit auswirkt. Besonders gefährdet sind Kinder. Studien zeigen, dass sich Kinder aus armen Familien schlechter körperlich und kognitiv entwickeln, wenn es zu einer Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen kommt. Kinder in armen Familien haben einen kleineren Hippocampus und die NCD-Rate ist in Armut größer. NCD steht für non-communicable diseases. Die englische Bezeichnung fasst jene Krankheiten zusammen, die nicht ansteckend sind, auch wenn manche davon immer häufiger auftreten. Dazu gehören beispielsweise Krebserkrankungen, Diabetes Typ 1 und 2, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen sowie psychische Erkrankungen. Unausgewogene Ernährung durch Geldmangel kann also der Gesundheit massiv schaden.
Gesundes Leben für alle
Im Bereich der Sozialpolitik muss noch viel getan werden, um den Gesundheitsgefahren von Armut entgegenzusteuern. Denn Armut ist kein Schicksal, sondern politisch gemacht. Durch eine Umverteilung von Vermögen könnte eine Grundsicherung für alle geschaffen werden, die nicht nur auf essenzielle Grundbedürfnisse abzielt, sondern ein gesundes Leben, soziale Teilhabe und Mobilität ermöglicht. Davon würde die gesamte Gesellschaft profitieren.
Janina Lütt ist gelernte staatlich anerkannte Erzieherin, durch chronische Krankheit erwerbsunfähig seit 2010 und armutsbetroffen. Sie lebt als alleinerziehende Mutter in Deutschland und klärt zum Thema Armut als Armutsaktivistin und Kolumnistin auf.