Behindert* schön
Für Menschen mit Behinderung* ist das Verhältnis zum eigenen Körper oft besonders schwierig. Wir müssen endlich mit den gängigen Schönheitsidealen brechen, schreibt Elisabeth Magdlener.
„Die Schönheit liegt im Auge der Betrachtenden.“
„Es braucht einen erweiterten Begriff von Schönheit, sodass Nicht-Gewohntes auch als schön empfunden werden und eine eigene Schönheit, fernab von Normen haben kann.“ (Cornelia & Vera, 2016 in Magdlener 2021, S. 88).
Schönheitsideale sind je nach Kultur und Zeit sehr verschieden und ständig im Wandel begriffen. Sie sind gesellschaftlichen Normen unterworfen, die das, „was schön ist“, bestimmen. Schon lange gibt es die Vorstellung vom Ideal des weißen, männlichen, schönen und vor allem fähigen menschlichen Körpers. Auch die schöne, schlanke, agile, virtuose Primaballerina ist ein gefragtes Schönheitsideal, nicht nur im Tanz. Alle Körper werden an Prinzipien wie schön, schlank, schnell und kräftig etc. gemessen. Das, was anders als das Idealbild ist, gilt als „nicht schön“. Der menschliche Körper ist kulturell gesehen entweder fit oder gebrechlich, schön oder hässlich.
Den Schönheitsnormen nicht entsprechen
Menschen mit Behinderung*(1), wie übrigens auch viele andere Menschen ohne Behinderung*, können den idealen Normvorstellungen von Schönheit oft schwerer oder „nur“ teilweise entsprechen. Behinderung* wurde und wird als Abweichung von der Norm beschrieben – als Abweichung von den gesellschaftlichen Idealbildern von Medizin, Gesetzgebung und von den gesellschaftlich und kulturell dominanten Narrativen, auch wenn sie selten genau definiert waren.
Das äußere Erscheinungsbild von Behinderung, das sich gesellschaftlichen Normen anpassen muss, betrifft besonders Frauen mit Behinderung*, da diese, mehr als Männer, mit der Erfüllung von Schönheitsnormen konfrontiert werden. Die Antidiskriminierungs-Trainerin Antje Barten sagt dazu: „Die Fokussierung auf die Ideale der Autonomie, Leistung, Gesundheit, Rationalität und Schönheit, und der Anspruch, diesen mit den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Körper möglichst gerecht zu werden, wird mit dem Begriff Ableism umrissen.“ (Barten 2017, S. 36) Bei diesem gesellschaftlichen Idealbild geht es in besonderem Maße um das Erfüllen von bestimmten, vordefinierten Werten und Wertmaßstäben. Nicht-Behinderung*, also Fähigkeit, wird dabei als Standard vorausgesetzt. In einer Art Ideologie wird von unserer Gesellschaft und Kultur das „Funktionieren“ als „besser“ bewertet und einer physischen, psychischen, oder mentalen Behinderung* gegenübergestellt.
In unserer Gesellschaft und Kultur lernen wir also Normen und Ideale wie Schönheit, Autonomie, Leistung und Gesundheit als wichtig wahrzunehmen und unseren Blick darauf zu konzentrieren. Wir entwickeln den Anspruch, diesen Idealen mit dem eigenen Körper und den eigenen Fähigkeiten zu entsprechen. Entspricht eine Person diesen Idealen nicht, wird damit oft eine Behinderung zugeschrieben. Das äußere Erscheinungsbild spielt hierbei eine besondere Rolle.
Zu dieser Bewertung des äußeren Erscheinungsbilds kommen die damit verknüpften Bilder von Behinderung hinzu. Beispielsweise wird der behinderte Körper lediglich als lieb und nett betrachtet. Ihm werden Passivität, Unfähigkeit, Unbeweglichkeit, Verletzlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Entbehrung und Asexualität zugeschrieben. Insbesondere Frauen mit Behinderung* werden aufgrund der gesellschaftlichen Zuschreibungen durch Geschlechterrollen leicht als dysfunktionale Individuen gesehen. Dieses Bild von Frauen mit Behinderung* veränderte sich bis heute nicht.
Auch wird Behinderung* und der behinderte* Körper in unserer Gesellschaft oft zu etwas gemacht, was nicht (so) sein darf und einer Veränderung durch medizinische und physiotherapeutische Maßnahmen braucht.
Den eigenen behinderten* Körper positiv erleben
All das macht es oft schwierig, den eigenen behinderten* Körper und das eigene So-Sein liebevoll anzunehmen. Gerade für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung* ist deshalb das Verhältnis, das sie zu ihrem eigenen Körper entwickeln (können), von besonderer Bedeutung. Viele Menschen mit Behinderung* haben das Ideal des schönen, geraden Körpers, der sich schnell bewegen kann, als ihr lange Zeit angestrebtes Vorbild, das es zu erreichen gilt. All dies erfordert eine außerordentlich vielseitige Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und eine Etablierung eines positiven Verhältnisses zu ihm. Ein wichtiger Schritt in die Richtung, dass Menschen mit Behinderung* und anderen Normabweichungen ihren Körper positiv erleben, liegt meiner Ansicht nach auch in einer Lockerung bestehender Ideale des (nicht-behinderten) Körpers und seinen mehrheitsgesellschaftlichen Bewertungen von schön, schlank, schnell und kräftig.
Anpassen oder …
Aber auch nicht-behinderte* Menschen sind mit der Erfüllung von Normvorstellungen konfrontiert. Beispielsweise dann, wenn sie aufgrund ihrer Sprache, ihrer kulturellen Herkunft, sexuellen Orientierung, religiösen Überzeugung, sozialen Stellung, ihres Alters, der Hautfarbe, ihrer diversen Geschlechtsidentitäten nicht den gesellschaftlichen Idealvorstellungen entsprechen. Es sind jene Vorstellungen von einem menschlichen Ideal, das vor allem weiß, männlich, nicht-behindert*, oder heterosexuell ist. Alle sind auch mit Schönheitsnormen und ihrer Erfüllung konfrontiert, denen sie nicht oder nur teilweise entsprechen. Viele Menschen versuchen sich anzupassen, um dazu zu gehören. Der Sozialtheoretiker Michael Warner sagt dazu, dass fast jede Person „normal“ sein möchte. Und wer kann sie dafür beschuldigen oder verantwortlich machen, wenn die Alternative ist „abnormal“ oder „abweichend“ zu sein, oder nicht eine von uns allen zu sein? Normal zu sein bedeutet wahrscheinlich eine Reihe höher zu stehen als andere soziale Gruppen. Je mehr der Norm entsprochen wird, desto mehr Anerkennung gibt es also von Seiten des gesellschaftlichen Normensystems.
… mit Schönheitsnormen brechen
Ein Angleichen der eigenen Schönheit, des eigenen behinderten* Körpers an die Schönheitsmaßstäbe, Körperideale und den Blick nicht-behinderter* Menschen oder der Mehrheitsgesellschaft mag für manche zwar funktionieren und zufriedenstellend sein, kann und sollte aber nicht der einzige Weg sein. Manche Menschen entsprechen diesen Idealen weniger leicht und haben dann mehr mit den Auswirkungen dieser Maßstäbe zu kämpfen. Manchmal mag es so erscheinen, als ob Behinderung durch das Über-Erfüllen gesellschaftlicher Normen (wie beispielsweise Schönheit) potenziell von ihrem Stigma befreit werden könnte. Behinderung kann aber dadurch nicht vom eigentlichen Stigma befreit werden, denn das Spektrum des Behindert-Seins und der eigenen Schönheit fehlt in diesem Kontext. Ein „‚Passen‘ als quasi nicht-behindert“, sagt Barten, „sollte nicht mit einer empowernden, behinderten Selbstrepräsentation verwechselt [bzw. gleichgesetzt] werden.“ Und weiter: „Aktivismus [und Kritik an den bestehenden Idealen beginnt] bereits dort, wo Menschen sich dagegen entscheiden, diesen zu folgen und [ihre eigene] Schönheit in Verbindung mit ihren eigenen Erfahrungen und gelebten Körpern umdefinieren.“
Das eigene So-Sein selbstbewusst vertreten
Ein Weg des Umgangs mit Normvorstellungen kann darin bestehen, diese Normvorstellungen zu brechen. Das heißt, Behinderung*, behinderte* Körperlichkeit und die Sexualität eines behinderten* Körpers dem gesellschaftlichen Zwang zur Normalität entgegenzusetzen! Das meint, das eigene So-Sein selbstbewusst zu vertreten und zu sagen: „Es ist gut so wie ich bin. Ich bin schön so wie ich bin und trete der nach Norm strebenden Gesellschaft in meinem So-Sein selbstbewusst entgegen.“
Besonders behinderte* Frauen begegneten dem Zwang zur Normalität schon früh kritisch und wiesen auf die Unvereinbarkeit der in unserer Gesellschaft und Kultur existierenden Schönheitsnormen mit dem eigenen Körper hin. Sie begannen diesen ihre eigene kollektive, gemeinschaftliche Identität entgegenzusetzen. Wenn sich Behinderung* und der (behinderte*) Körper den Schönheitsnormen und ästhetischen Maßstäben des nicht-behinderten* Körpers nicht anpasst und anpassen kann, geschieht eine Wertumkehrung, die ein neues Potenzial mit sich bringt.
Zusammengefasst könnte also gesagt werden, dass es darum geht, den eigenen Körper als den eigenen Körper zu erleben, wertzuschätzen und schön zu finden, und sich nicht über die (abwertenden) Maßstäbe der Mehrheit, nicht nur nicht-behinderter* Menschen, definieren zu lassen. So sollten sich alle Menschen verbünden und selbstbewusst zeigen, wie vielfältig und individuell Schönheit ist.
Elisabeth Magdlener, Verein CCC** – Change Cultural Concepts ist Kulturwissenschaftlerin, Expertin, Vortragende, Workshopleiterin und Autorin im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Körperdiskurse. Sie ist Tänzerin und Mitglied der weltweiten Community-Tanzbewegung DanceAbility sowie des Austrian DanceArt Movements und performt bei A.D.A.M. – Austrian DanceArt Movement. Ebenso ist Elisabeth Magdlener im Vorstand von Ninlil – Empowerment und Beratung für Frauen* mit Behinderung*. Sie studierte Pädagogik (Mag.a) und Gender Studies (MA) an der Universität Wien. Derzeit arbeitet sie unter anderem an unterschiedlichen Projekten zum Thema Bewusstseinsbildung und schreibt in verschiedenen Medien zu den Thematiken.
Fußnote:
(1) Ich beziehe den Begriff „Behinderung“ stellenweise sehr stark auf körperliche Behinderung*. Dies betrifft aber genauso chronische Erkrankungen* oder psychische und mentale Zusammenhänge u.v.m. Das Sternchen verwende ich im Sinne einer Widerständigkeit gleich wie den Unterstrich. Damit sollen einseitige gesellschaftliche Zuschreibungen und Bewertungen hinsichtlich Behinderung, Geschlecht etc. sichtbar und flexibler gemacht werden. Ich verwende den Unterstrich, sowie das Sternchen auch in Bezug auf Behinderung etc., um dies gebräuchlich zu machen. Üblicherweise werden Unterstrich und Sternchen nur im Kontext vom Geschlecht verwendet.
Literatur:
Barten, Antje (2017): Ganz schön behindert – Behinderung, Lookismus und die eigene Identität. In: Diamond, Darla/Pflaster, Petra/Schmid, Lea (Hrsg.) (2017): Lookismus. Normierte Körper – diskriminierende Mechanismen – (Self-)Empowerment. Münster: Unrast-Verl., S. 36-40.
Magdlener, Elisabeth (2021): Cripping Dance? Potenziale und Ambivalenzen im Inklusiven Tanz der Kontaktimprovisation. Wien: Wiener Verlag für Sozialforschung.
Warner, Michael (1999): The Trouble with the Normal. Sex, Politics and the Ethics of Queer Life. New York: The Free Press.