Diagnose: Zu unauffällig

Autismus wird bei Mädchen und Frauen viel zu selten erkannt. Bettina Enzenhofer hat bei Marlies Hübner nachgefragt, welche Folgen das hat.

Marlies Hübner sitzt auf einem Sessel, sie hat blonde, kinnlange Haare und sieht nach rechts. Ihre Beine sind angewinkelt und auf der Sitzfläche, auf einem Knie stützt sie ihren angewinkelten Arm ab.
Marlies Hübner, © Mascha Seitz

Bettina Enzenhofer: Autismus assoziieren viele mit „Rain Man“ oder „Big Bang Theory“, einer Inselbegabung, dem Fehlen von Empathie. Welche Vorurteile können Sie nicht mehr hören?

Marlies Hübner: Alle. Manchmal enttäuscht man Leute geradezu, indem man nicht in ihr Klischeebild von Autismus passt. Ich habe nun einmal keine Inselbegabung, auch keine ganz kleine. Die eigenen Emotionen abgesprochen zu bekommen, die oft unerträglich intensiv sind, ist noch dazu entmenschlichend und scheint mir ein Vorwand zu sein, um autistischen Menschen nicht respektvoll und auf Augenhöhe begegnen zu müssen.

Die Darstellungen von Autismus in der Popkultur orientieren sich an diesem Klischee und stärken es gleichzeitig. Stellen Sie sich vor, nicht Sheldon Cooper aus „Big Bang Theory“ wäre der autistische Charakter, als der er unausgesprochen dargestellt wird, sondern Penny, seine Nachbarin, die ein unstetes Beziehungsleben hat und einen recht chaotischen Lebenslauf. Die extrovertiert ist, oft ungeschickt und kein Fettnäpfchen auslässt? Das wäre vielleicht sogar näher an der ­Realität. Aber nein, wir bekommen die männlichen Genies.

Das alles prägt die allgemeine Wahrnehmung von Autismus, die in zwei Extreme zu gehen scheint: Entweder sind autistische Menschen sehr auffällig, kognitiv eingeschränkt, sprechen nicht und erbringen keine ausreichende Leistung. Oder sie sind männliche Genies. Ich bin eine autistische Frau, ein ganz normaler Mensch, wie alle anderen. Nur, dass ich durch meinen Autismus anders wahrnehme, Reize anders verarbeite und mich deshalb nicht immer der Norm entsprechend verhalte. Etwas derart Unspektakuläres passt aber nicht ins Klischee Autismus und wird deshalb auch nicht ernst genommen.

Die Autismus-Diagnostik orientiert sich an Männern. Lange ist man davon ausgegangen, dass Männer viel öfter autistisch sind als Frauen. Bei Frauen wird Autismus oft erst spät oder gar nicht erkannt. Welche Konsequenzen hat das?

Frauen werden oft fehldiagnostiziert oder erhalten gar keine Diagnose. Das vergrößert ihre Probleme immens. Sie entwickeln Komorbiditäten wie Angststörungen, Depressionen und selbstverletzendes Verhalten, weil sie die Ursache der Probleme bei sich suchen. Ihnen wird vermittelt, sie seien selbst schuld, wenn sie Schwierigkeiten haben, sich in die Gesellschaft einzufügen oder Leistung zu erbringen. Das löst viel persönliches Leid aus. Diese Mädchen und Frauen versuchen unter allen Umständen, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, gehen dabei weit über ihre Grenzen und geben unter Umständen ihre körperliche Autonomie auf.

Nie gelernt zu haben, dass sie liebenswert und akzeptabel sind, macht sie anfällig für toxische Beziehungen, Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung. Das kann sich erst ändern, wenn in der Diagnostik mehr darauf geachtet wird, wie sich weiblich sozialisierte Personen mit Autismus verhalten.

Wie hat sich die Diagnose auf Ihr Leben ausgewirkt?

Im Großen und Ganzen positiv. Ich bekam damit die Möglichkeit, meine eigenen Bedürfnisse zu identifizieren und zu validieren, Traumata aus der Vergangenheit zu erkennen und damit zu arbeiten. Die Diagnose weckte aber auch viel Frustration und Wut. Sie lässt mich die Barrieren erkennen, die die Gesellschaft neurodivergenten Menschen baut. Sie zeigt, wie wenig Teilhabe man als Person mit Behinderung bekommt und wie wenig man selbst dagegen tun kann.

Sie twittern und bloggen seit zehn Jahren zu Autismus und haben ein semibiografisches Buch geschrieben. Was sollen neurotypische Menschen wissen – also Menschen, die der neurologischen Norm entsprechen?

Ich möchte nichtautistische Menschen daran erinnern, uns auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen und die Marginalisierung behinderter Menschen zu verhindern.

Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind autistisch – damit sind wir nicht mehr als eine Normvariante, die zum Facettenreichtum der Gesellschaft beiträgt.

Welche Gesellschaft fordern autistische Menschen ein?

Autist:innen – so wie behinderte Menschen im Allgemeinen – sind keine homogene Gruppe, in der alle die gleichen Interessen verfolgen und Forderungen aufstellen. Viele von uns kämpfen mehr oder weniger stark mit internalisiertem Ableismus, mit dem Glauben, weniger wert zu sein als nichtbehinderte Menschen und es dadurch verdient zu haben, ausgeschlossen zu werden.

Wir könnten theoretisch eine inklusive, gerechte Gesellschaft sein, in der niemand arm oder ausgeschlossen sein muss, in der alle teilhaben können, die teilhaben wollen. Aber so funktionieren wir leider nicht. Die Gesellschaft hat ein Interesse an Ungleichheit, an Ungerechtigkeit. Daher frage ich mich, ob marginalisierte Personen wirklich eine Chance haben, etwas zu verändern. Wir haben keine Lobby, die für uns kämpft, im Gegenteil. Auf unserem Ausschluss fußt eine finanzstarke Wohlfahrtsindustrie, die ein Interesse daran hat, sich selbst und die von ihr errichteten Parallelwelten zu erhalten.

Welche Barrieren müssten als Erstes beseitigt werden?

2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Behindertenrechtskonvention, ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie ist eine gute Basis für dringend notwendige Veränderungen. Doch Behinderung wird nach wie vor stark defizitorientiert betrachtet. Obwohl wir uns am sozialen Behinderungsmodell orientieren sollten, halten wir uns ans medizinische, das den behinderten Mensch auf sein tragisches Schicksal reduziert und ihn selbst als Ursache seiner eigenen Probleme ansieht. Das Leben vieler behinderter Menschen findet weiterhin in den geschlossenen Welten der Behindertenwerkstätten, Heime oder Förderschulen statt, fernab der Mehrheitsgesellschaft.

Autist:innen wurden und werden infolgedessen mit gewaltvollen Methoden wie Festhaltetherapien und allen Spielarten der Angewandten Verhaltensanalyse (ABA) zur Anpassung gezwungen. Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche, ihre eigene Art, wahrzunehmen und zu sein, werden dabei ignoriert. Selbstbestimmung und ­Autonomie werden als störend wahrgenommen.
Die größte Barriere ist in meinen Augen das Menschenbild nichtbehinderter Personen, und es liegt an jeder einzelnen, diese Barriere abzubauen.

Marlies Hübner hat 2018 das Buch „Verstörungstheorien. Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne“ veröffentlicht und bloggt unter robotinabox.de.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge IV/2021.

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