Diskriminiert und krank gemacht

LGBTs sind im Gesundheitswesen mit vielen Ungleichheiten konfrontiert, doch in Österreich wird dem Thema kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bettina Enzenhofer sprach mit Andrea Nagy, einer der wenigen Expert*innen hierzulande, die auch weiß, was Lesben mit blauen Krokodilen gemein haben.

Schild auf einer Demo, das hochgehoben wird und auf dem der Text "Health is a right" in Blockbuchstaben geschrieben ist
Foto: Larissa Puro/USC Institute for Global Health/Flickr – Women’s March Los Angeles, CC BY 2.0

Bettina Enzenhofer: Viele Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen haben kein Bewusstsein für spezifische gesundheitliche Bedürfnisse von lesbischen oder bisexuellen Frauen. Eine Ärztin hat sich mal darüber empört, warum ich LGB-lnhalte in der medizinischen Ausbildung einfordere, denn die sexuelle Orientierung sei in der medizinischen Praxis irrelevant, sofern es nicht um HIV gehe. Wo sehen Sie die größten Wissenslücken? 

Andrea Nagy: Es tritt in der Regel wenig ins Bewusstsein, dass es sich bei krank machenden Bedingungen für LGBs in erster Linie um ein gesellschaftliches Rechts- und Normensystem handelt, das Menschen, die nicht heterosexuell leben, mit unterschiedlichen sozialen Sanktionen belegt. Kulturelle Marginalisierung, die durch den Minderheitenstatus hervorgebracht wird, ist ein krankmachender Faktor, der nahezu gänzlich übersehen wird. 

Daher verorte ich die größten Wissenslücken dort, wo es um Gesundheitsbedrohungen geht, die mit der gesellschaftlichen (Ent)Wertung von Homosexualität und Geschlechtsrollenabweichungen zu tun haben. Bekannte Gesundheitsdeterminanten sind beispielsweise sozio-ökonomische und umweltbedingte Verhältnisse, Lebens- und Arbeitsbedingungen, soziale Anerkennung und Zugang zu sozialen und kommunalen Netzwerken. All diese Bedingungen sind geschlechtlich und heterosexuell codiert und können für LGB-Personen Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt (z. B. durch (Hetero-)Sexismus oder homophobes Bullying) beinhalten.

Homosexualität wird von der WHO erst seit 1990 nicht mehr als Krankheit geführt. Eine aktuelle Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) weist einige EU-Mitgliedstaaten aus, in denen Gesundheitsdienstleistende Homosexualität auch heute noch pathologisieren, z. B. Italien, Ungarn oder die Slowakei. Trans* Personen werden im ICD und DSM (die wichtigsten internationalen Diagnosesysteme, mit denen Krankheiten klassifiziert werden, Anm.) bis heute pathologisiert. Auch in Österreich gibt es z. B. Psychotherapeut*innen, die homo- oder transfeindlich sind; ein Salzburger Psychotherapeut spricht auf seiner Website offen davon, dass Homosexualität „behandelt“ werden kann. Wie wirkt sich ein homo- und transfeindliches Gesundheitspersonal auf LGBTs aus?

Durch Homo- und Transfeindlichkeit wird der Zugang zu Gesundheitsdiensten erschwert, die bestehenden Ungleichheiten in Bezug auf Gesundheit werden dadurch verstärkt. Konkret kann das zum Beispiel heißen, dass eine LGBT-Person durch Ärzt*innen oder Krankenpfleger*innen mit Ignoranz, abwehrendem oder gar feindlichem Verhalten konfrontiert ist. Die Angst vor solchen Situationen kann bei LGBT-Personen zu einer generellen Scheu führen, die notwendige Hilfe zu suchen. Homo- und Transfeindlichkeit der Gesellschaft kann auch zu psychischen Belastungen bei Betroffenen führen, die wiederum ein eigenes großes Gesundheitsrisiko darstellen, vor allem bei Jugendlichen. Stichworte dazu sind „Minority Stress“ und „Internalisiertes Stigma“. Internalisiertes Stigma kann dazu führen, dass Betroffene sich selbst als wertlos betrachten. 

Laut einer anderen FRA-Studie wurden 2012 EU-weit zehn Prozent der bisexuellen und 13 Prozent der lesbischen Frauen sowie 19 Prozent der Trans*­Personen aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität im Gesundheitssystem diskriminiert. Wo sollte man ansetzen, damit LGBTs im Gesundheitswesen nicht länger Diskriminierung ausgesetzt sind? 

Aus den USA gibt es Forschungsberichte, wonach LGBT-Jugendliche aufgrund von gesellschaftlicher Diskriminierung einem höheren Risiko in Bezug auf chronische Erkrankungen ausgesetzt sind und eher Gefahr laufen, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Die Selbstmordrate ist ebenfalls erhöht. Dies wissen wir auch für Österreich. Angst vor Diskriminierung spielt auch eine Rolle, wenn LGBT-Personen Gesundheitsdienste nicht in Anspruch nehmen. Die US-Amerikanische Association of American Medical Colleges (AAMC) empfiehlt, dass Ausbildungscurricula im medizinischen Bereich sicherstellen sollten, notwendige Inhalte in Bezug auf die Trias Wissen – Können – Haltungen zu vermitteln, um ein exzellentes umfassendes Gesundheitsservice für LGBT-Patient*innen bereitstellen zu können. 

Welche Barrieren in der Gesundheitsversorgung erleben lesbische und bisexuelle Frauen oder Trans* Personen in Österreich? Wie kann man diese Barrieren beseitigen?

Jenseits von individuellen Fällen im persönlichen Nahbereich wissen wir viel zu wenig über die österreichische Situation. Es sollte mit geeigneten Forschungsaktivitäten angesetzt werden, die Barrieren und Bedürfnisse erheben können, und es sollte mit existierenden Selbstvertretungsorganisationen zusammengearbeitet werden, die über eine Menge Erfahrungen verfügen. Wir machen das aktuell in einem Forschungsprojekt an der FH St. Pölten und arbeiten mit einer Vertreterin der Rosa Lila Villa zusammen. Die Österreichische Gesellschaft für Public Health hat eine Kompetenzgruppe „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ gegründet, die in Österreich ebenfalls Nachholbedarf an Forschungen im Bereich LGBTI und Public Health konstatiert. In ihren Zielen und Visionen versteht sie sich „als wissenschaftliche Plattform für LGBTI-Gesundheitsthemen“, und sie möchte „mit ihren Forschungsarbeiten und Aktivitäten zu einer Verbesserung der Gesundheits- und Lebensbedingungen von schwulen, lesbischen, bisexu­ellen, transidenten und intersexuellen Personen beitragen“. Forschungen, die die Ist-Situation darstellen, sehe ich als einen Ausgangspunkt für Veränderung. 

In den USA oder England gibt es eigene LGBT Health Zentren, in Österreich gibt es in diesem Bereich so gut wie nichts. Wie lässt sich das erklären?

Der angloamerikanische Raum hat durch das liberale Wohlfahrtsmodell, das nicht nur Positives enthält und enthalten hat, im Gegensatz zu unserem konservativ-korporatistischen Modell einen Vorsprung in der Beteiligung und Mitsprache von Betroffenenvertretungen. Durch den aktiven Kampf, der im liberalen Modell geführt werden musste, um überhaupt Mindeststandards an sozialer Absicherung zu installieren, gibt es möglicherweise mehr Übung bzw. bereits eine längere Tradition an Kämpfen für Bürger*innenrechte, was in dieser Entwicklung wohl positiv zum Tragen kommt. 

Im Österreichischen Frauengesundheitsbericht 2010/11 heißt es: „In unserem Gesundheitssystem finden lesbische Frauen keine gesonderte Berücksichtigung. Medizinischem Fachpersonal ist wenig über die Lebenslage, über gesundheitsbezogene Bedürfnisse oder spezifische Krankheitsrisiken bekannt. Es gibt keine speziellen Einrichtungen für die sexuelle Gesundheit und keine speziellen gynäkologischen Dienste, die auf lesbische Frauen zugeschnitten sind.“ Wie optimistisch sind Sie, dass wir zukünftig nicht mehr eine derartige Ignoranz lesen müssen?

Kennen Sie den Kurzfilm „Zwei blaue Krokodile und die Lücke im System“? Mit Kimberlé Crenshaws Bild einer Straßenkreuzung greift der Film eine frühe Metapher für lntersektionalität auf, mit der verdeutlicht werden soll, dass unterschiedliche Verletzlichkeiten verschieden bearbeitet werden können. Nach einem Verkehrsunfall gibt es in dem Film keinen spezialisierten Dienst für blaue Krokodile und die möglichen Perspektiven sind: erstens durch Selbstorganisation eine Ambulanz für blaue Krokodile zu errichten, zweitens, dass verbesserte Hilfeleistungen entstehen, die mit lntersektionalität umgehen können, drittens, dass sich alle kümmern, unabhängig von der Farbe und von der Artzugehörigkeit. Übertragen auf die Anerkennung der besonderen Verletzlichkeiten oder gesundheitlichen Bedürfnisse von lesbischen Frauen sind ähnliche Perspektiven denkbar: Selbstorganisation und politischer Druck, verbesserte Hilfeleistungen, die mit Differenz(en) umgehen können und diese berücksichtigen, und eine Gesellschaftsänderung, die bestehende Kategorien verändert oder neubewertet.

Andrea Nagy war zum Zeitpunkt des Interviews Dozentin an der FH St. Pölten und leitete im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit das Forschungsprojekt „Ungleichheiten von LGBTIQ-Personen in Bezug auf Sozial- und Gesundheitsdienste und bereits existierende ,Lösungsansätze‘ – Bestandsaufnahme von LGBTIQ-Themen in der Sozialen Arbeit“. Seit 2018 forscht und lehrt die Soziologin an der Freien Universität Bozen/Italien.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge VIII/2016.

Teilen:
Skip to content