Endlich: Empowernde Aufklärungsbücher für alle
Lange Zeit haben Aufklärungsbücher für Kinder und Jugendliche vorrangig Klischees reproduziert – das ist zum Glück vorbei. Ein Überblick über zeitgemäße, empowernde und inklusive Bücher rund ums Thema Sexualerziehung von Carla Heher
Lange konnte ich auf die Frage nach guten Aufklärungsbüchern komplett vorbehaltlos nur eines empfehlen: „Wie entsteht ein Baby? Ein Buch für jede Art von Familie und jede Art von Kind“ (Mabuse Verlag 2014) vom US-amerikanischen Sex-Educator Cory Silberberg. Es beschränkt sich auf die Darstellung des Wesentlichen und beschreibt, was es braucht, damit ein Baby entstehen kann: Eizelle, Samenzelle und Gebärmutter. Der Autor kommt dabei ohne Geschlechterzuschreibungen aus. Das liest sich dann etwa so: „Nicht jeder Mensch hat eine Gebärmutter. Manche ja, manche nein.“ So einfach kann es sein. Am Ende des Buches steht kein Abbild einer glücklichen heteronormativen Kleinfamilie, sondern die Frage: „Wer hat dabei geholfen, dass die Eizelle und die Samenzelle zusammenkamen, aus denen du entstanden bist? Wer war glücklich, dass ausgerechnet DU dabei entstanden bist?“ Durch diese Reduzierung (unterstützt durch die knallig bunten Illustrationen von Fyona Smith) lässt Silberberg Platz für Details, die jede Familie individuell für sich besprechen kann. Konkrete Worte (dafür auch keine falschen) findet man in diesem Buch jedoch nicht, dabei wären diese genauso wichtig.
Aufklärung für ein positives Selbstbild
In herkömmlichen Büchern war bislang kein Platz für korrekte Bezeichnungen von Körperteilen, Darstellungen und Erzählungen abseits von Hetero- oder Cis-Normativität, Vielfalt in Wort und Bild, Gefühle, Grenzen und Konsens oder für einen positiven und wertschätzenden Umgang mit dem eigenen Körper. Diese Themen sollten in zeitgemäßen Aufklärungsbüchern unbedingt Platz haben, tragen sie doch zu einem positiven Selbstbild ohne Scham und Sprachlosigkeit bei. Erfreulicherweise sind in den letzten Jahren erstmals Bücher erschienen, die diese Kriterien erfüllen.
„Sex und so“
„Sex und so“ (Ullstein 2020) von der Konzepterin und Journalistin Lydia Meyer (illustriert von Carli Fridolin Biller) ist das erste deutschsprachige Aufklärungsbuch für Jugendliche (und Erwachsene), das sich außerhalb eines binäres Geschlechtersystems bewegt und wirklich für alle geschrieben wurde – für Leser_innen jedes Geschlechts und jeder Altersstufe. Denn „Aufklärung dauert ewig. Fast alles, was in diesem Buch besprochen wird, fängt mit der Pubertät an und geht ein Leben lang weiter“, wie die Autorin im Vorwort erklärt. So geht es unter anderem um (queeren) Sex, Geschlechteridentitäten und Pornos, um Druck und Mobbing, es geht um Verhütung abseits vom Nicht-Schwanger-Werden, um Schwangerschaftsabbrüche und Konsens, Unsicherheiten, Körpernormen, Schönheitsideale und so vieles mehr. Zwischendurch lässt Meyer immer wieder Personen von ihren eigenen Erfahrungen mit diesen Themen (u.a. Intergeschlechtlichkeit, Endometriose oder die Akzeptanz des eigenen, dicken Körpers) erzählen. Dieses Buch zeigt Perspektiven auf und bietet Orientierung: umfassend informativ, aber kein Ratgeber.
„Unverblümt! Klare Fakten zu Sex und Aufklärung“
Ebenfalls vor allem an Jugendliche richtet sich „Unverblümt. Klare Fakten zu Sex und Aufklärung“ (Fischer Sauerländer 2020) von der kanadischen Bloggerin und Journalistin Myriam Daguzan Bernier. Als Heranwachsende hätte sie so ein Buch gern gelesen – Motivation genug, es selbst zu schreiben. Denn nach Besuchen bei ihrer Gynäkologin war Daguzan Bernier verunsicherter als zuvor, ihre unbeantworteten Fragen wurden mehr statt weniger. Eben jenen unbeantworteten Fragen von damals widmet sich die Autorin, wie der Titel schon verrät, unverblümt und direkt: Es gibt mehr als zwei Arten von Menschen, erfüllte Sexualität hat nichts mit einem perfekten Körper zu tun, sexuelle Orientierung ist wandelbar und vaginale Penetration ist nur eine von vielen Arten, Lust zu empfinden. Daguzan Bernier erklärt verschiedenste Phänomene und Begriffe rund um Sexualität, Identität, Beziehungen (auch jener zu sich selbst) und Körper von A wie Asexualität über M wie Masturbation bis hin zu Z wie Zustimmung. Das Buch vermittelt Fakten, erläutert Diskurse und empfiehlt Ansprechpartner_innen. Die Illustrationen von Cécile Gariépy sind ebenso direkt, außerdem lustig und inklusiv.
„Samira und die Sache mit den Babys“
Auch für Kinder gibt es mittlerweile gute Lektüre: In „Samira und die Sache mit den Babys“ (stolzeaugen.books 2021) wird Intersektionalität auf allen Ebenen mitgedacht. Geschrieben hat es Souzan AlSabah, die beruflichunter anderem im Bereich der intersektionalen Gesundheits- und Präventionsarbeit tätig ist und weiß, wovon und für wen sie schreibt. Im Mittelpunkt des liebevoll und leicht erzählten Buches steht die sechsjährige Samira, die gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem viereinhalbjährigen Bruder lebt und bald ein Geschwisterchen erwartet. AlSabah verbindet in diesem Buch Wissen rund um Schwangerschaft und Geburt mit Grundlegendem zum eigenen Körper und kritisiert hierbei binäre Denkmuster, patriarchale Mythen und gewaltvolle Bezeichnungen. So antwortet die Mutter zum Beispiel auf die Frage, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen ist: „Es ist jetzt schon geliebt, bald auf der Welt und wird ganz sicher ein süßes Kind“. Genitalien werden hier grundsätzlich nicht automatisch einem Geschlecht zugeordnet, zudem heißt es im Buch: „Alle Genitalien sind einzigartig und sehen unterschiedlich aus“. Spannend ist, dass AlSabah auf den Begriff Vulvina zurückgreift, der von der Sexualpädagogin EllaBerlin entwickelt und konzeptionell umgesetzt wurde. Großartig ist auch, dass wichtige Themen Platz haben, die sonst in Aufklärungsbüchern nicht vorkommen, zum Beispiel Vorhautbeschneidung oder Selbstbestimmung („Du bist Chef:in von Deinem Körper und Du spürst ganz genau, ob eine Berührung ok ist oder nicht, verlass Dich da auf Dich selbst.“). Liebenswürdig sind die kleinen Details, wie zum Beispiel die am Weg in den Kindergarten nach Second-Hand-Babykleidung stöbernde Mama. Die Illustrationen von Özlem Sakalkesen sind superschön und machen dieses einzigartige Buch zu einem herausragenden Gesamtwerk, das in keiner Aufklärungsbuch-Auswahl fehlen sollte. Feministische Aufklärungfür mit viel Gefühl und Herz und für alle!
„Erbsenklein Melonengroß“
Dasselbe gilt für das gendersensible Vorlesebuch rund um Familie und Geburt „Erbsenklein Melonengroß“ (Achse 2021), geschrieben von der Sexualpädagogin Cornelia Lindner und illustriert von Verena Tschemernjak. Es geht um Toni, ein Kind, das ein Geschwisterchen erwartet. Die Geschichte erzählt unaufgeregt über Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt, sodass sich viele Familien wiederfinden können, und beantwortet Fragen wie: Wie groß ist das Baby? Wie kommt das Baby in den Bauch? Was machen Menschen, wenn sie biologisch keine Kinder bekommen können? Und wie kann Toni schon jetzt mit dem Geschwisterchen spielen? Bemerkenswert ist neben den feinen und stimmungsvollen Illustrationen die Sprache: Mit Sätzen wie „Wenige Papas haben einen Uterus. Viele Mamas haben einen Uterus, aber nicht alle“ oder (es geht um die Beschreibung einer Art von Sex) „Dabei kann die Vagina weich und feucht werden, der Penis kann hart werden und sich aufstellen. Wenn beide Personen das wollen, nimmt die Vagina den Penis in sich auf“ setzt Cornelia Lindner neue Maßstäbe und zeigt auf, wie wirkmächtig Sprache ist – und wie sehr sich ein sorgfältiger Umgang damit lohnt.
„Selma, Küsse, Kuddelmuddel“
Zwischen Kinder- und Jugendbuch ist der turbulente Roman „Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ (Leykam 2022) von der Sozialpädagogin Laura Melina Berling angesiedelt. Darin geht es nicht nur um Freund*innenschaft, Solidarität und Selbstermächtigung, sondern auch um körperliche Veränderungen und weitere Themen, die in der Pubertät Fragen aufwerfen. Zusätzlich gibt es immer wieder (großartig von Hannah Rödel) illustrierte Infoboxen, z.B. zu Brustwachstum, Periode und Hygiene, aber auch zu Küssen und Konsens. Sämtliche in die Geschichte eingebettete Fakten, Hinweise und Anregungen sind nie belehrend, sondern immer mit Gefühl, Leichtigkeit und auf Augenhöhe. Ein unkonventionelles (nicht nur) Aufklärungsbuch, das in diesem Überblick unbedingt Platz haben sollte.
Es ist so erfreulich, dass zukünftige Generationen Zugang zu solchen empowernden Ressourcen haben – gleichzeitig es ist es auch nie zu spät, als erwachsene Person die Bücher zu lesen, die man als Kind gerne gelesen hätte.
Carla Heher ist Familienmutter, Pädagogin und Kinderbuchinfluencerin. Sie hat 2012 den Blog buuu.ch mit gegründet. Dafür, für das Missy Magazine und ihren Podcast DIVERSE KINDERBÜCHER, bespricht sie leidenschaftlich gerne ebensolche.