Gefühl von Schutz und Selbstwirksamkeit“

Traumatische Ereignisse wie der Amoklauf in Graz hinterlassen tiefe Spuren – bei Betroffenen, Angehörigen und der Gesellschaft. Wie kann man einen Umgang mit solchen traumatischen Ereignissen finden? Flora Neubert hat bei der Psychotherapeutin Gisela Hajek nachgefragt.

Zwei Personen halten sich an den Händen
Foto: Sơn Bờm/Pexels

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist die Zusammenfassung von einem Interview mit der Psychotherapeutin Gisela Hajek. Die Journalistin Flora Neubert hat das Interview geführt. In dem Interview spricht Gisela Hajek über traumatische Ereignisse und was sie mit Menschen machen.

Der Amoklauf in Graz im Juni 2025 war so ein traumatisches Ereignis. Ein junger Täter hat dabei Schüler:innen und ein Lehrerin getötet.

Betroffene von so schlimmen Ereignissen haben große Angst und ein Gefühl der Ohnmacht erlebt. Gisela Hajek sagt: Jetzt brauchen die Betroffenen wieder ein Gefühl von Schutz und von Selbst-Wirksamkeit. Selbst-Wirksamkeit heißt: Ich vertraue darauf, dass ich schwierige Situationen erfolgreich bewältigen kann.

Den meisten Menschen tut es gut, über solche schlimmen Ereignisse zu reden, zum Beispiel mit Freund:innen. Hilfreich ist auch: Sich zu überlegen, wie oft so ein schlimmes Ereignis vorkommt – nämlich selten. Für Betroffene von schweren Gewalt-Erfahrungen ist Psychotherapie wichtig.

Wir Menschen sind aber sehr unterschiedlich. Jede:r geht anders um mit solchen Situationen. Das ist völlig in Ordnung.

Traumatische Ereignisse wie ein Amoklauf betreffen die ganze Gesellschaft. Im besten Fall diskutiert dann die ganze Gesellschaft darüber. Komplexe Situationen können aber auch negative Effekte haben: Menschen fühlen sich verunsichert und wollen eine einfache politische Lösung.

Terroristische Attentäter und Amokläufer sind fast nur Männer. Gewalt-Prävention für Burschen und Männer ist deshalb wichtig, sagt Gisela Hajek.

Brigitte Theißl hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at

Flora Neubert: Was brauchen Überlebende eines Amoklaufs und deren Angehörige? 

Gisela Hajek: Es gibt kurzfristige und langfristige Maßnahmen. Kurzfristig brauchen Betroffene vor allem wieder das Gefühl von Schutz und Selbstwirksamkeit. Von Selbstkontrolle, weil so etwas zu erleben ein Gefühl von immenser Angst und Ohnmacht auslöst. Je schneller es Menschen gelingt, sich wieder mit einer Wirksamkeit zu erleben, umso weniger heftig ist dann das Trauma, das sich daraus entwickeln könnte. 

Flora Neubert: Wie kann eine solche Selbstwirksamkeit konkret aussehen? 

Gisela Hajek: Das kann unterschiedlich sein. In der Regel tut es Leuten gut, darüber zu reden. Nicht, es zu zerreden, das kann ja auch passieren. Aber mit anderen in Kontakt zu sein. Und ganz wichtig ist es, das Problem zu analysieren, zu verstehen, einzuordnen und einen Bezug herzustellen: „Wie oft passiert das?“ Nämlich zum Glück total selten. Aber es kann auch ganz konkret sein – etwa, dass man sein Verhalten ändert, wie man sich Dinge zum Beispiel online anschaut. Oder wie man im Leben mit Situationen umgeht, also zum Beispiel an der Schule vorbeispazieren, solange sie jetzt noch zu war. Das ist sehr individuell, aber da geht es wirklich ums Handeln: Was brauche ich, damit ich wieder merke: Ich fühle mich sicherer.

Flora Neubert: Und welche langfristigen Maßnahmen gibt es?

Gisela Hajek: Nach einer solch schweren Gewalterfahrung sind langfristige, traumafokussierte Psychotherapien wichtig, ergänzt durch Phasen der Stabilisierung, Trauma­bearbeitung und Rückfall­prophylaxe. Parallel sollten schulische Gruppen- und Familien­angebote, regionale Krisen­dienste sowie klare Selbstfürsorge-Routinen genutzt werden, um Symptome zu mindern und Resilienz aufzubauen. Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen zu verkraften und aus ihnen sogar gestärkt hervorzugehen.

Flora Neubert: Gerade dieses Gefühl, jede*r könnte Opfer eines Amoklaufs werden, hat viele Personen beschäftigt. Wie kann man es schaffen, das für sich in Relation zu setzen? 

Gisela Hajek: Verstehen reicht da leider nicht aus, denn damit assoziieren wir den Verstand, die Logik. Wir müssen es emotional, mental verarbeiten können. Und es gibt glaube ich nichts, das so ansteckend ist, wie Angst und Paranoia. Das hat auch gute Gründe, denn es hat etwas mit Schutzbedürfnissen zu tun. Wir leben in einer Zeit, in der es viel Unsicherheit und Verunsicherung gibt. Ob wir auf Kriege blicken, Geschlechterdiskurse, politische Diskurse. Gerade junge Leute sind da sehr offen und neugierig. Sie interessieren sich vielleicht zum ersten Mal für solche Themen und sind dem sehr ausgesetzt. Wenn man etwas erlebt, das an eigene Ängste andockt, die im Alltag nicht so spürbar sind, dann spüren wir die mehr. Was man tun kann, ist, sich Zeit geben, wieder in den Alltag hineinzufinden. Alltag, Routine, Austausch mit anderen. Was vielen auch hilft, sind soziale Kontakte. Junge Mädchen treffen sich weit mehr mit Freund*innen, um Probleme zu besprechen. Das führt bei ihnen dazu, dass sie wieder mehr Selbstkontrolle erleben und Ängste besser einordnen können. Und auch vielleicht die eigene Wut besser einordnen können, denn viele Menschen haben völlig zu Recht auch Wut. Zwar nicht so stark, dass sie deswegen grausam oder gewaltvoll anderen gegenüber sind, aber Wut kennen wir alle. Auch das Gefühl von Ungerechtigkeit oder ungerecht behandelt zu werden. Bei Buben oder jungen Männern ist es häufig so, dass sie sich mit Freund*innen treffen, um sich vom Alltag abzulenken. Sie haben eher Angst, die Selbstkontrolle zu verlieren, wenn sie über ihre Probleme reden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass in Österreich viele Kinder und Jugendliche leben, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflüchtet sind oder andere Formen von Gewalt erfahren haben – auch sie brauchen besondere Aufmerksamkeit, Schutz und langfristige Unterstützung.

Flora Neubert: Ein Mitarbeiter des Erstversorgungszentrums schilderte nach dem Amoklauf in Graz in einem ORF-Interview, wie unterschiedlich die Reaktionen von Überlebenden sind. Manche haben einen sehr großen Redebedarf, andere haben viele Fragen, wiederum Dritte sind in sich gekehrt und wollen nicht allein sein, aber sich noch nicht aktiv verbal austauschen. Wie ist es zu erklären, dass der Umgang so unterschiedlich ist?

Gisela Hajek: Wir Menschen sind unterschiedlich. Manchen hilft es, über Dinge zu reden, weil sie das als entlastend empfinden. Generell ist es so, so funktioniert auch Psychotherapie: Wenn wir etwas sagen, dann spüren wir es mehr. Manchmal, wenn große Ängste oder Spannungen damit verbunden sind, gibt es eine andere Hemmschwelle, darüber zu reden. Es gibt aber auch Menschen, die einfach zuerst mehr mit sich selbst ausmachen. Das ist nicht per se gut oder schlecht. Es gibt einen Unterschied zwischen allein sein und einsam sein. Alleinsein kann etwas sehr Heilsames sein – im Unterschied zu Einsamkeit. Wenn ich in solchen Momenten einsam bin, ist das ungesund. 

Flora Neubert: Wie kann man Personen, die es bevorzugen, zuerst zu schweigen, signalisieren, dass es immer die Möglichkeit gibt, darüber zu reden? Unabhängig davon, ob sie einen persönlichen Bezug zum Amoklauf haben oder einfach medial davon erfahren?

Gisela Hajek: Das eine ist, es klar anzusprechen, natürlich nicht alle fünf Minuten. Aber klar zu sagen: „Ich weiß, du brauchst vielleicht noch ein bisschen Zeit. Aber ich bin da, wenn du es brauchst.“ Und vielleicht am nächsten Tag noch mal zu fragen. Etwas anderes ist tatsächlich Gemeinsamkeit. Manchmal heißt das wirklich danebensitzen und eine Hand halten. Auch in Graz haben die Schüler:innen einen Kreis um die Schule gebildet, bevor sie wieder eröffnet wurde. Oder einen Blumenstrauß ablegen. Aber oft ist es wirklich auch das gemeinsame in einem Raum sein.

Flora Neubert: Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sich ein so traumatisches Erlebnis in das kollektive Gedächtnis einbrennt?

Gisela Hajek: Aufarbeitungsbedarf. Denn wir haben sehr viele traumatische Erlebnisse auf gesellschaftlicher Ebene. Es ist für jede*n unterschiedlich, was als belastend bis hin zu traumatisch erlebt wird. Für manche in Österreich war der Ausbruch des Ukraine-Kriegs wahnsinnig bedrohlich – aber noch kein Trauma im eigentlichen Sinne. Auch auf die Coronapandemie gab es viele heftige, unterschiedliche Reaktionen darauf. Im besten Fall löst so ein traumatisches Erlebnis gesellschaftlich einen Diskurs aus, der auch auf politischer Ebene umgesetzt wird. Was immer ein bisschen gefährlich ist: Komplexe Situationen führen meistens dazu, dass Menschen einfache Lösungen wollen. Denn wenn es eh schon so kompliziert ist, dann tut es gut, wenn man irgendwie ein Muster, eine Schablone, ein Vorbild, eine Regelung hat – vielen Menschen zumindest. 

Flora Neubert: Gewaltdelikte sind in Österreich ein mehrheitlich männliches Problem. Wo können wir in der Prävention ansetzen?

Gisela Hajek: Es braucht on- wie offline mehr Angebote für junge Burschen. Gewalt ist kein rein männliches Phänomen. Männer verüben statistisch deutlich häufiger sexualisierte und schwere körperliche Gewalt als Frauen; ihre Taten sind meist offensiv, öffentlich oder auf Dominanz ausgerichtet. Wenn Frauen Gewalt ausüben, geschieht das häufiger indirekt oder psychisch, zum Beispiel verbale Abwertung, soziale Ausgrenzung. 

Attentäter bei School Shootings sind fast immer Burschen. Sie müssen viel mehr aktiv abgeholt werden. Es braucht attraktive Gegenangebote zu Incels und Figuren wie Andrew Tate. Junge Männer haben viele Fragen und Sorgen, fühlen sich schlecht, einsam und mangelhaft, wenn sie kein Gegenüber haben. Mit „kein Gegenüber“ ist vor allem das Fehlen tragfähiger Beziehungen – romantischer Partner*innen, enger Freundschaften oder positiver (männlicher) Rollenvorbilder – gemeint; Betroffene bleiben ohne spürbare Rückmeldung, Bestätigung und emotionale Unterstützung. Besonders gefährdet zeigt die Forschung eine kleine, aber wachsende Gruppe sozial isolierter, heterosexueller Burschen und junger Männer, die sich selbst als „involuntary celibates“ (Incels) verstehen: Sie berichten deutlich mehr Einsamkeit, weniger soziale Netzwerke und ausgeprägte Feindseligkeit gegenüber Frauen als Vergleichsgruppen. Bei Schulschützen finden sich zusätzlich in über 80 Prozent chronische Zurückweisungserfahrungen – Mobbing, romantische Abfuhren oder Konflikte mit Lehrkräften – oft kombiniert mit depressiver Symptomatik und starker Online-Nutzung. Entscheidend ist also nicht ein einzelnes demografisches Merkmal, sondern die riskante Kombination aus jungem männlichem Alter, anhaltender sozialer Isolation, wahrgenommenem sexuellen Misserfolg und digitaler Einbettung in misogyne Communities.

Es braucht daher die Förderung von Communities: Sich in echt treffen, sich in echt auseinandersetzen. Das müssen nicht immer tiefgründige Gespräche sein, das geht auch in Sportvereinen. 

Es braucht Eltern, die Zeit haben. Es braucht Väter, die Präsenz zeigen und die mit ihren Kindern etwas machen. Väter sollten sich damit auseinandersetzen, dass sie einen Sohn haben. Eltern sollten bereit sein, sich selbst Hilfe zu holen, wenn ihre Kinder in Krisen sind, etwa bei Rat auf Draht. Es ist heftig, wenn Eltern nicht aushalten, wenn es ihren Kindern schlecht geht, pauschalierend gesagt. Nämlich nicht, weil sie sich nicht kümmern wollen oder sie nicht lieben, sondern weil sie es tatsächlich nicht aushalten. Denn sie sind manchmal selbst voll mit Arbeit, Leben oder auch eigenen Traumata. Oder sie haben das Gefühl, versagt zu haben, wenn es dem eigenen Kind nicht gut geht. Die Kinder wollen manchmal von den Eltern selbst keine Hilfe, sondern lieber von jemand anderem außerhalb. Man kann ab 14 Therapie machen, ohne dass die Eltern es wissen – wenn man einen Platz findet, der finanziert wird. Und das ist total sinnvoll und gut so, weil es Situationen gibt, in denen es für die Kinder oder Jugendlichen hilfreich ist.

Es braucht mehr Initiativen auf Social Media, wie etwa „Gender.Wahn“, eine Initiative, die zu den Themen Gender, Gewalt und Gerechtigkeit Aufklärung auf Social Media betreibt. Auch in Oberösterreich gibt es Online-Streetworking-Angebote, die aber vermutlich nicht österreichweit ausgerollt werden. Auch Angebote in Schulen und auf Festivals ­­braucht es. Ich glaube, es geht viel übers Interesse. Es muss spannend sein. Es sollte nicht aus nicht aus einem Mangel heraus vermittelt werden: „Du brauchst irgendetwas.“ Sondern aus einer Stärkung heraus: „Cool, dass du da bist!“ 

Gisela Hajek hat Psychologie und Psychotherapiewissenschaften studiert. Sie ist die wissenschaftliche Leiterin des psychotherapeutischen Bereitschaftsdienstes, sowie Psychoanalytikerin und klinische und Gesundheitspsychologin in freier Praxis. Sie lebt, arbeitet und forscht in Wien.

Flora Neubert ist Journalistin und Studentin der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Translation. Sie lebt und arbeitet in Wien.

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