Ignoriert und mehrfach diskriminiert: Frauen* mit Behinderungen im Gesundheitssystem
Frust, Ärger, Traumatisierungen – die Gesundheitsversorgung ist für viele Frauen* mit Behinderungen lückenhaft und reich an Barrieren. Von Christine Stöger, FmB – Interessensvertretung Frauen* mit Behinderungen

Das ist die Zusammenfassung von einem Text über Frauen* mit Behinderungen und was sie im Gesundheits-System erleben. Christine Stöger vom Verein „FmB – Interessensvertretung Frauen* mit Behinderungen“ hat den Text geschrieben.
Frauen* mit Behinderungen stoßen auf viele Probleme im Gesundheits-System.
Schon vor einem Arzttermin gibt es Hürden. Viele Praxen sind nicht barrierefrei. Informationen dazu fehlen oft oder sind schwer zu finden. Die Termin-Vereinbarung ist oft nur per Telefon möglich. Das ist für manche Menschen nicht machbar.
Ein Beispiel ist die Gynäkologie: In ganz Österreich gibt es nur 29 Praxen mit einem Kassen-Vertrag, die ein barrierefreies WC haben, einen stufenlos erreichbaren Aufzug und eine rollstuhl-gerechte Umkleide-Kabine. Für Frauen* mit Behinderungen kann es deshalb schwierig sein, eine passende gynäkologische Untersuchung oder Vorsorge zu bekommen.
Beim Arzttermin selbst fühlen sich viele Frauen* mit Behinderungen nicht ernst genommen. Ärzt*innen glauben oft, dass die Beschwerden der Patientinnen nur von der Behinderung kommen und untersuchen nicht richtig. Das nennt man medical gaslighting. Dadurch bleiben Krankheiten unentdeckt. Es kann sein, dass Frauen* mit Behinderungen nach solchen Erfahrungen Arztbesuche vermeiden. Dadurch haben sie ein höheres Risiko für chronische Krankheiten.
Auch die Sprache in Arztpraxen ist ein Problem. Ärzt*innen erklären oft schwer verständlich. Es fehlt an unterstützter Kommunikation, einfacher Sprache oder Gebärdensprache. Patientinnen können dann nicht gut entscheiden, welche Behandlung für sie passt.
Ein weiteres Problem: Viele Ärzt*innen sehen nur die Behinderung, aber nicht die Frau* dahinter. Gleichzeitig fehlt das Wissen über die individuellen Bedürfnisse von Frauen* mit Behinderungen. Und für Frauen* mit unsichtbaren Behinderungen kann es schwierig sein, überhaupt als Frauen* mit Behinderungen gesehen zu werden.
Außerdem gibt es zu wenig Forschung über die Auswirkungen von Medikamenten auf Frauen* mit Behinderungen. Und: Es gibt kaum Ärzt*innen mit Behinderungen. Ein großer Schritt hin zu einem inklusiven Gesundheits-System wäre: Wenn Patientinnen mit Behinderungen von Ärztinnen mit Behinderungen untersucht, beraten und behandelt werden können.
Bettina Enzenhofer hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at
Noch bevor ein Termin bei einer Ärztin*einem Arzt stattfindet, stoßen Frauen* mit Behinderungen bereits auf vielfältige Barrieren. Es gilt herauszufinden, welche Ordinationen zugänglich genug sind für die eigene Situation. Dabei hört „Zugänglichkeit“ nicht bei baulichem bzw. physischem Zugang (beispielsweise barrierefreier Parkplatz, rollstuhlgerechte Aufzüge und Räumlichkeiten) auf. Die Bandbreite von Bedürfnissen behinderter Patient*innen kann groß sein: Ansteckungsschutz, höhenverstellbare Untersuchungsmöbel, Dauer und Ablauf des Ersttermins, beherrschte Sprachen in der Ordination, Licht- und Lärmsituation, Mitnahme von Assistenzhunden sind nur einige Beispiele. Solche Informationen sind einerseits wichtig, um einschätzen zu können, ob ein Termin überhaupt möglich ist. Andererseits muss auch die eigene Energie gut eingeteilt werden können. Diese Recherchen sind im besten Fall zeit- und kräfteraubend, im schlimmsten Fall schwierig bis unmöglich. Die notwendigen Informationen zu umfassender Barrierefreiheit sind oft schwer auffindbar, unverständlich beschrieben, oder gar nicht angegeben. Ist dann das Auffinden einer zugänglichen Praxis erstmal gelungen, muss die Terminbuchung auch noch funktionieren: Viele Ordinationen bieten nur eine Kontaktaufnahme via Telefon an, was aus unterschiedlichen Gründen nicht selbstbestimmt möglich sein kann (zum Beispiel Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit, selektiver Mutismus, motorische Einschränkungen).
Medical Gaslighting
Nach langer Vorbereitungs- und Wartezeit ist es so weit: Der Termin steht an. Während Menschen ohne Behinderungen einfach zur Ordination spazieren, müssen sich Frauen* mit Behinderungen regelrecht mental für den Termin wappnen. Warum?
Ein besonders schmerzhafter Grund dafür ist das sogenannte „medical gaslighting“: Symptome, die Patient*innen gerne mit medizinischem Personal besprechen möchten, werden von diesem nicht ernst genommen oder heruntergespielt. Besonders menstruierende Menschen bekommen häufig zu hören, dass ihre Beschwerden „ja ohnehin nur zyklusbedingt seien“ oder „sowieso nur von der Behinderung kommen“ – ohne dass eine adäquate Untersuchung der berichteten Symptome vorgenommen wird. Ebenso herrscht immer noch der „Hysterie“-Topos vor, und zahlreiche Ärzt*innen verkennen beispielsweise Schmerzsymptome von Frauen* als psychosomatisch. Viele Frauen* mit Behinderungen müssen bei jedem Arztbesuch aufs Neue darum kämpfen, ernst genommen zu werden – das kostet Energie und stellt eine deutliche Zusatzbelastung dar. So bleibt vom Arzttermin nicht nur Frust, sondern es erfolgt auch keine Behandlung und Linderung von Symptomen. Im schlimmsten Fall werden dadurch ernsthafte und chronische Erkrankungen nicht erkannt, welche zum Zeitpunkt der ersten Symptome womöglich behandelbar gewesen wären. Frauen* mit Behinderungen können durch diese schlechten Erfahrungen traumatisiert werden und vermeiden zukünftige (Vorsorge-)Termine deswegen. Durch diese fehlende Prävention haben sie ein höheres Risiko für Folgekrankheiten. Tatsächlich ist es bei Menschen mit Behinderungen daher bis zu zehnmal häufiger als bei Menschen ohne Behinderungen, zusätzlich zur bestehenden Behinderung eine chronische Krankheit zu entwickeln.
Unverständliche (Fach-)Sprache
Für eine gelungene Interaktion zwischen Ärzt*in und Patient*in ist vor allem eines notwendig: verständliche Kommunikation. Was sich schon vor dem Termin auf den Websites zeigt bezüglich komplizierter oder unvollständiger Informationen, das setzt sich im persönlichen Termin oft fort. Es mangelt an Angeboten zur unterstützten Kommunikation, zum Beispiel Kommunikation mit technischen Hilfsmitteln oder Bildern. Durch unterstützte Kommunikation könnten Patient*innen die Informationen der Ärztin*des Arztes besser verstehen und so selbstbestimmt entscheiden, ob sie beispielsweise die vorgeschlagenen Medikamente einnehmen möchten oder nicht. Allzu oft werden Diagnosen und Behandlungsmethoden nicht ausreichend erklärt – sei es, weil die Zeit fehlt oder weil der Wille fehlt, sich individuellen Kommunikationsbedürfnissen anzupassen. Wenn die Informationen für die Patient*innen nicht verständlich kommuniziert werden, wie sollen sie sich medizinisch gut aufgehoben fühlen? Wie sollen sie Behandlungen durchführen lassen, über die sie nicht ausreichend aufgeklärt wurden? Frauen* mit Behinderungen müssen wie alle Menschen das Recht auf eine gut verständliche medizinische Beratungsleistung haben – in einem inklusiven Gesundheitssystem sollten Ordinationsteams ohne große Diskussion und Vorbereitung Kommunikationsformen wie Einfache Sprache, unterstützte Kommunikation, Gebärdensprache und weitere aufgreifen können. Sie müssten sich an die kommunikativen Möglichkeiten der Patient*in anpassen können.
Barrieren in der Gynäkologie
Am Beispiel Gynäkologie zeigen sich weitere Versorgungslücken. Frauen* mit Behinderung beschäftigen sich genauso wie Frauen* ohne Behinderung mit Themen wie sexueller Aufklärung, Hormonen, Verhütung und Schwangerschaft, Menstruationsbeschwerden, Erkrankungen des Beckenbodens oder der Brüste und viele mehr. Der Unterschied ist aber, dass der Zugang oft fehlt und so nur schwer Vorsorge stattfinden kann: In der Suche nach barrierefreien Ordinationen zeigt sich, dass in ganz Österreich nur 85 Gynäkologie-Praxen mit ÖGK-Vertrag ein barrierefreies WC haben. Davon besitzen nur 29 Ordinationen einen stufenlos erreichbaren Aufzug und eine rollstuhlgerechte Umkleidekabine. Setzt man weitere Bedürfnis-Filter (beispielsweise zusätzlich zum Aufzug ein Blindenleitsystem von der Straße zum Ordinationseingang), verpufft auch diese Anzahl ganz schnell und hinterlässt die Frage, wie eine Frau* mit (mehrfachen) Behinderungen zu einer adäquaten gynäkologischen Untersuchung oder Vorsorge kommen soll. Besonders dann, wenn sie nicht privat hohe Honorarkosten dafür tragen kann oder möchte. Ebenso für ein Brustkrebs-Screening ist es schwer herauszufinden, ob die notwendigen Geräte auf Frauen* im Rollstuhl oder kleinwüchsige Frauen* eingestellt werden können.
Fehlender intersektionaler Gedanke
Frauen* mit Behinderungen werden von zwei Richtungen mit Schwierigkeiten bzw. Ungerechtigkeiten durch medizinische Fachkräfte konfrontiert: Einerseits wird nicht ausreichend auf die individuellen Bedürfnisse eingegangen, die sich aus den Behinderungen ergeben, andererseits wird das Frau*sein hinter den Behinderungen oft nicht gesehen. Die konkreten Auswirkungen dieses fehlenden Bewusstseins auf gesundheitliche Themen sind vielfältig. Sie reichen beispielsweise vom Ignorieren der komplexen hormonellen Zusammenhänge bis zu fehlender Forschung zu den spezifischen Auswirkungen von Medikamenten auf Frauen* mit Behinderungen. Lebt eine Frau* dann auch noch mit einer unsichtbaren Behinderung (oder mehreren), muss sie zusätzlich dafür kämpfen, überhaupt als Frau* mit Behinderungen wahrgenommen zu werden – hier ist das Bewusstsein seitens der medizinischen Fachkräfte mangelhaft. Anstatt Hilfe zu bekommen, bleibt von Arztterminen oft die bittere Enttäuschung, wieder nicht gesehen zu werden und die Erkenntnis, dass sich Ärzt*innen nicht ausreichend auf die individuellen Bedürfnisse von Frauen* mit Behinderungen einstellen können oder wollen.
Wo sind Ärzt*innen mit Behinderungen?
Auf einer Metaebene ist anzumerken, dass es kaum Ärzt*innen gibt, die selbst Behinderungen haben. Vielleicht ist es an der Zeit, das Medizin-Studium nicht nur um wichtige Inhalte aus den Bereichen und Überschneidungen Inklusion, Barrierefreiheit und Feminismus zu erweitern, sondern auch das Studium selbst barrierefreier zu machen? Schließlich könnte ein Abbau von Barrieren in medizinischen Ausbildungen dazu führen, dass Frauen* mit Behinderungen auch von Frauen* mit Behinderungen untersucht, auf Augenhöhe beraten und behandelt werden können. Das wäre ein großer Schritt in Richtung inklusiveres und diskriminierungsfreies Gesundheitssystem für alle.
Links für die Suche nach barrierefreien Ordinationen:
arztbarrierefrei.at/#/search
praxisplan.at -> Erweiterte Suche -> Messdaten über Zugänglichkeit der Ordination
Christine Stöger ist Office Managerin im Verein FmB – Interessensvertretung Frauen* mit Behinderungen. Sie ist selbst von (unsichtbaren) Behinderungen betroffen und erlebt zu viel medical gaslighting.