Kinder oder keine

Vielerorts werden zu niedrige Geburtenraten beklagt – doch längst nicht alle Kinder sind erwünscht. Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit nimmt strukturelle Diskriminierung in den Blick. Von Brigitte Theißl

Demoschild mit dem Text "Reproductive Justice for all", "safety over politics"
Foto: Charlotte Cooper/Flickr – Reproductive Justice for All, CC BY 2.0 (Bildausschnitt zugeschnitten)

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Text über reproduktive Gerechtigkeit. Reproduktive Gerechtigkeit heißt: Alle sollen selbst über ihren Körper bestimmen können. Und alle sollen in sozialer Sicherheit Kinder oder keine Kinder bekommen können und nicht diskriminiert werden. Davon sind wir aber weit entfernt. Politiker*innen sagen zum Beispiel: Akademiker*innen sollen mehr Kinder bekommen. Und: Arme Menschen sollen weniger Kinder bekommen. Das ist Klassismus.
In der Geschichte wurden auch Bevölkerungsgruppen gegen ihren Willen sterilisiert. Die Sterilisation ist ein medizinischer Eingriff: Menschen werden unfruchtbar gemacht. Sie können dann keine Kinder mehr bekommen. In den USA wurden z.B. Schwarze Frauen und Native Americans zwangs-sterilisiert.
Rassismus, Klassismus und Antisemitismus haben in der Bevölkerungspolitik immer schon eine große Rolle gespielt. Aber auch homosexuelle, inter und trans Menschen werden diskriminiert. 
Schwarze Feministinnen in den USA haben das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit entwickelt. Sie sagen: Alle sollen frei von Diskriminierung und sozial abgesichert sein und Kinder bekommen können, über ihre Verhütung bestimmen und eine Schwangerschaft abbrechen können. Das ist gerecht. 

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Brigitte Theißl
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

„Es gibt viele gute Gründe, keine Kinder zu bekommen. Und den besten, es doch zu tun: dich. (..) Du bist kein Luxus, du bist unbezahlbar.“ Unterlegt mit verträumten Klängen und Bildern des ungetrübten Mutter-Vater-Kind-Glücks warb der „Du bist Deutschland“-Spot 2007 für mehr Kinderfreundlichkeit – so die offizielle Losung. Die groß angelegte Kampagne der Bertelsmann AG, die von zahlreichen Medien und Prominenten unterstützt wurde und schon zwei Jahre zuvor an die Eigenverantwortung der Deutschen appellierte, ist nur im Kontext ihrer Zeit zu verstehen. Sozialabbau stand ganz oben auf der Tagesordnung der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder, die im November 2005 vom Kabinett Merkel I abgelöst wurde. Das schlechte Abschneiden in der PISA-Studie beschäftigte die Republik ebenso wie der demografische Wandel: Die niedrigen Geburtenraten bereiteten nicht nur Politik und Ökonom*innen, sondern auch dem Feuilleton Kopfzerbrechen. Diese Sorge galt jedoch längst nicht allen Frauen. „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder“ – so formulierte FDP-Vorstandsmitglied Daniel Bahr 2005 in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“, was andere nicht auszusprechen wagten. Die Falschen, das waren für den Jungpolitiker die „sozial Schwachen“. Akademikerinnen hingegen würden zu wenige Kinder bekommen, deren Gebärbereitschaft müsse man gezielt fördern – dann sähen auch die PISA-Ergebnisse bald wieder besser aus. 

Sozialdarwinismus

Auch wenn nicht alle so offen menschenverachtend argumentierten, entspann sich in den Nullerjahren eine klassistische Debatte, die im deutschen Reality-TV ebenso ihren Niederschlag fand wie in Qualitätsmedien. „Hartz IV steht für die ästhetische und kulinarische Verrohung ganzer Bevölkerungsschichten, für die Erosion des Kulturbewusstseins in gerade jenen Kreisen, die die Exegese eines Durs-Grünbein-Verses oder einer Hindemith-Oper am nötigsten hätten“, schrieb Daniel Haas 2010 auf „Spiegel Online“ und versah seine Kolumne mit dem Vermerk „nicht ganz ernst gemeint“. Auf die Spitze trieb dies schließlich Thilo Sarrazin, der in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ sozialdarwinistisch argumentierte und dabei Klassismus und Rassismus eng verknüpfte. 

Die deutsche Demografie-Debatte zeigt exemplarisch auf, was Schwarze Feministinnen schon vor Jahrzehnten – auch innerfeministisch – kritisierten. Sie waren es, die in den 1990er-Jahren den Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit prägten. In der Pro-Choice-Bewegung, die von weißen Mittelschichts-Frauen dominiert war und um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kämpfte, sahen sie sich und ihre Anliegen nicht ausreichend vertreten. Denn für von Rassismus oder Armut Betroffene sei nicht nur das Recht auf Abtreibung, sondern auch das Recht auf ein Familienleben von zentraler Bedeutung. 1997 gründete sich in den USA das SisterSong Women of Color Reproductive Justice Collective, das reproduktive Rechte verschränkt betrachtete: Race, Klasse, Behinderung, Nationalität und Sexualitäten müssten stets im Fokus der politischen Kämpfe um reproduktive Selbstbestimmung stehen. „SisterSong definiert reproduktive Gerechtigkeit als das Menschenrecht auf körperliche Autonomie, das Recht, Kinder zu haben, keine Kinder zu haben und unsere Kinder in einer sicheren und zukunftsfähigen Umgebung aufzuziehen“, ist heute auf der Website des Kollektivs zu lesen. 

Mutter-Ideal

Nach wie vor blickt die Gesellschaft ganz anders auf unterschiedliche Mütter: Verantwortungslosigkeit wird häufig jenen Müttern unterstellt, die von struktureller Diskriminierung betroffen sind und um ein selbstbestimmtes (Über-)leben ringen. Mütter etwa, die sich auf eine gefährliche Flucht machen, um sich und ihrer Familie ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Mütter, die ihren Kindern nicht jeden Tag ein frisch gekochtes, gesundes Abendessen auf den Tisch stellen können, weil sie in Vollzeit schuften und dennoch jeden Cent umdrehen müssen, Regenbogenfamilien, die immer noch um eine vollständige Gleichstellung kämpfen oder Menschen mit Behinderung, die vorwurfsvolle Blicke ernten, wenn sie von ihrer geplanten Schwangerschaft erzählen. Das bürgerliche Idealbild der weißen Mittelklasse-Mutter diene dazu, alle anderen abzuwerten, sie als unfähige, unzureichende Mütter abzuwerten, schreiben Loretta Ross und Ricki Solinger in ihrem Buch „Reproductive Justice. An Introduction“.

Zwangssterilisation

Die Diskriminierung in Hinblick auf reproduktive Rechte war lange Zeit aber auch in Gesetze gegossen – und ist es vielerorts immer noch. In den USA etwa wurden zwischen 1907 und 1981 über 60.000 Menschen zwangssterilisiert, berichtet der „Spiegel“ – viele davon Schwarze Frauen und Native Americans. Die Betroffenen seien „geisteskrank, gemeingefährlich, der Fortpflanzung unwürdig“, so die offizielle Begründung der Behörden. Sie wurden etwa damit erpresst, im Falle einer Verweigerung des Eingriffs die staatliche Sozialhilfe zu verlieren. 

Frühe US-amerikanische eugenische Programme dienten den Nazis als Vorbild, die einen Mutterkult zelebrierten, während sie „minderwertige“ Frauen zwangssterilisierten, Zwangsabtreibungen durchführten, ihnen die Kinder abnahmen und medizinische Experimente durchführten.

Auch wenn die Praxis heute gesellschaftlich geächtet ist, existiert Zwangssterilisation in der EU nach wie vor. Erst im Dezember vergangenen Jahres sprach sich das Europaparlament dafür aus, die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung, die in 13 Mitgliedstaaten immer noch erlaubt ist, zu beenden. In Tschechien will der Staat erstmals Tausende Romnija entschädigen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren zwangssterilisiert wurden. Die Geburtenrate in der lokalen Roma-Bevölkerung sei zu hoch, so die Begründung der damaligen Machthaber*innen – ihre rassistische Abwertung schreibt sich bis heute fort.

Eine andere Form der erzwungenen Sterilisation erlebten trans Menschen in Deutschland, wenn sie ihren Personenstand ändern wollten. Das Transsexuellengesetz schrieb diese menschenverachtende Praxis bis 2011 fest. „Dauernd fortpflanzungsunfähig“, so die einst geforderte Voraussetzung für die Personenstandsänderung. Der deutsche Bundesverband Trans* geht von mehr als 10.000 Betroffenen aus, erst das Bundesverfassungsgericht bereitete der Praxis nach der Klage einer trans Frau ein Ende.

Geburten bremsen

Diskriminierend kann Bevölkerungspolitik aber auch dann sein, wenn sie das Label der internationalen Zusammenarbeit trägt und postuliert, die Emanzipation von Frauen zu fördern, argumentieren die Gesine Agena, Patricia Hecht und Dinah Riese in ihrem Buch „Selbstbestimmt. Für reproduktive Rechte“. „Viele NGOs betonen zwar inzwischen verstärkt die Rolle reproduktiver Rechte, warnen jedoch weiter vor einem scheinbar unaufhaltsamen und dramatischen Anstieg der Weltbevölkerung im und durch den globalen Süden“, schreiben die Autorinnen. Feministische Ideen seien längst von internationalen Organisationen vereinnahmt und umgedeutet worden: So solle der Zugang zu Verhütungsmitteln und Bildung Frauen in ihrer Selbstbestimmung stärken – und damit das Bevölkerungswachstum gebremst werden. An globalen, kapitalistischen Ungleichverhältnissen werde indes nicht gerüttelt. In der Entwicklungspolitik galt indes eine Art „demografischer Imperativ“: So wurden zwischen 1950 und 1994 entwicklungspolitische Projekte und Zahlungen meist an die Etablierung bevölkerungspolitischer Programme geknüpft. 

Der demografische Wandel, dem die „Du bist Deutschland“-Kampagne noch mit Sorgenfalten entgegenblickte, wird hierzulande immer stärker spürbar. Arbeitskräfte fehlen vor allem in Dienstleistungssektoren wie dem Tourismus und der Pflege, Tausende Lehrer*innen stehen kurz vor der Pensionierung. Angesichts dessen prescht selbst die Wirtschaft mit der Forderung nach mehr Kinderbetreuungseinrichtungen vor, „Ohne (qualifizierte) Migration wird es nicht gehen“ scheint sich auch in konservativen Parteien als Marschrichtung durchzusetzen. Dass dieser Wandel am Arbeitsmarkt auch für mehr reproduktive Gerechtigkeit sorgt, bleibt dennoch zu bezweifeln. Alleinerziehend zu sein oder mehrere Kinder zu haben, zählt in Deutschland und Österreich nach wie vor zu den größten Armutsrisiken. Familienleistungen begünstigen oft Familien mit höherem Einkommen, während Menschen mit Migrationsgeschichte mit massiven Hürden bei der Anerkennung ihrer Ausbildungen kämpfen und durchschnittlich weniger verdienen. 

Reproduktive Gerechtigkeit aber umfasst nicht nur die selbstbestimmte Entscheidung, Kinder oder keine zu gebären, zu adoptieren oder in Pflege zu nehmen, sondern auch, gemeinsam mit ihnen ein menschenwürdiges Leben in materieller Sicherheit und frei von Diskriminierung zu führen. Das gute Leben – es ist ohne reproduktive Gerechtigkeit nicht zu denken. 

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge 1/2023.

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Text über reproduktive Gerechtigkeit. Reproduktive Gerechtigkeit heißt: Alle sollen selbst über ihren Körper bestimmen können. Und alle sollen in sozialer Sicherheit Kinder oder keine Kinder bekommen können und nicht diskriminiert werden. Davon sind wir aber weit entfernt. Politiker*innen sagen zum Beispiel: Akademiker*innen sollen mehr Kinder bekommen. Und: Arme Menschen sollen weniger Kinder bekommen. Das ist Klassismus.
In der Geschichte wurden auch Bevölkerungsgruppen gegen ihren Willen sterilisiert. Die Sterilisation ist ein medizinischer Eingriff: Menschen werden unfruchtbar gemacht. Sie können dann keine Kinder mehr bekommen. In den USA wurden z.B. Schwarze Frauen und Native Americans zwangs-sterilisiert.
Rassismus, Klassismus und Antisemitismus haben in der Bevölkerungspolitik immer schon eine große Rolle gespielt. Aber auch homosexuelle, inter und trans Menschen werden diskriminiert. 
Schwarze Feministinnen in den USA haben das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit entwickelt. Sie sagen: Alle sollen frei von Diskriminierung und sozial abgesichert sein und Kinder bekommen können, über ihre Verhütung bestimmen und eine Schwangerschaft abbrechen können. Das ist gerecht. 

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Brigitte Theißl
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