Konstruierte Wahrheiten
Biologistische Geschlechterkonzepte haben Konjunktur. Dabei fordert die feministische Kritik die Vorannahmen der Naturwissenschaften schon seit den 1970er-Jahren heraus. Bettina Enzenhofer befragte dazu die Biologin und Gender-Studies-Professorin Sigrid Schmitz.
Bettina Enzenhofer: Viele Genderforscher_innen widmen sich der Biologie. Führt die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit einer Naturwissenschaft auch zu mehr Anerkennung im Wissenschaftsbetrieb?
Sigrid Schmitz: Wenn ich feministische Naturwissenschaftskritik betreibe, muss ich verstehen, was biologische Forschung macht. Die Biologie ist ja nicht per se schlecht, ich finde sie hochinteressant und unglaublich wichtig. Man kann sich darauf einlassen und schauen, wie man Natur und Kultur bei der Untersuchung von Geschlechteraspekten zusammendenken kann. Immer vor dem Hintergrund, dass jede Untersuchung Wissen konstruiert, das gilt für die Genderforschung genauso wie für die Biologie. Weil die Genderforschung das aber für sich mehr aufdeckt und diskutiert, wird sie auch eher angreifbar. Aber von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus ist das, was Genderforschung macht, wesentlich wissenschaftlicher, als von einer klassisch objektivitätsorientierten Wissenschaft auszugehen. Das ist das Potenzial, das ich nach wie vor sehe. Es gibt ja auch aufgeschlossene Lebenswissenschaftler _innen.
Welche Theorie zur Geschlechtsentwicklung ist heute in der Biologie prominent?
Das StufenmodelI ist nach wie vor vorherrschend – also die Vorstellung, dass sich zwei Geschlechter ausgehend von den Chromosomen zu den Gonaden und den Geschlechtsorganen unterschiedlich ausprägen. Auch die Hormonregulation ist hier einbezogen. Das heißt, die Entwicklung von Körper und Verhalten wird zum großen Teil als Resultat der biologischen Entwicklung gesehen. Es gibt allerdings auch widersprüchliche Befunde. Man müsste in der Forschung wesentlich stärker auf komplexere Modelle fokussieren, die gegenüber Umwelteinflüssen und ihrer Wirkung auf die Hormone und körperlichen Merkmale offen sind.
Die US-amerikanische Biologin Anne Fausto-Sterling erforscht beispielsweise, wie biologische Faktoren mit sozialer Erfahrung, Normen und Strukturen bei der körperlichen Entwicklung zusammenwirken – das geht bis in die Knochen und hat auch geschlechtliche Aspekte. Hier sind komplexe Untersuchungsdesigns gefragt, die ein Umdenken in der Wissenschaft erfordern würden, aber das ist bisher kaum verwirklicht. Das hat auch mit der Wissenschaftspolitik zu tun: Man führt kleine Studien durch und muss schnell Ergebnisse publizieren. Da sind langfristig angelegte Untersuchungsdesigns, die auf die Verkörperung von Erfahrung, also Embodiment, fokussieren, sehr schwierig durchzusetzen.
Wie hängt ein dichotomes Geschlechtermodell mit gesellschaftlichen Umbrüchen zusammen? Heißt es beispielsweise in der Forschung und in Medien vermehrt, „die Frauen sind nun mal so“, wenn Frauen in „männliche“ Bereiche vordringen?
Das ist ein interessantes Spannungsfeld. Einerseits wird immer wieder über die Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur diskutiert. Andererseits gibt es den Kanon: „Wir haben so viel in puncto Gleichstellung erreicht, aber es gibt nun mal Unterschiede.“ Hier hat wieder einmal, insbesondere in der populären Verbreitung, das Beharren auf biologischen Unterschieden Konjunktur. In diesem Zusammenhang geht es auch darum, die Gender Studies zu diskreditieren, sie einmal mehr als „unwissenschaftlich“ darzustellen. Ich würde die These vertreten, dass das viel mit der ökonomischen Entwicklung zu tun hat. Wenn der Arbeitsmarkt enger wird, wenn es um Ressourcen und um die Verteidigung von gut bzw. besser bezahlter Arbeit geht, werden deterministische Zuschreibungen an weibliche Versorgungsarbeit und männliche Produktionstätigkeit wieder stärker. Ich habe das Gefühl, dass das im Moment passiert – erschreckenderweise! Interessanterweise kommen diese populären Einwürfe gegen „Gender“ immer von Männern – zuletzt etwa vom Journalisten Harald Martenstein in „Die Zeit“.
Zurück zu den biologischen Untersuchungsdesigns: Wo müsste man außer an der Wissenschaftspolitik noch ansetzen, um in Richtung „Embodiment“ komplexer forschen zu können?
Es mag eine moralische Haltung sein, aber man müsste viel mehr Forschungsziele definieren, unter denen interdisziplinär ein bestimmtes Thema bearbeitet wird. Wenn Wissenschaft der Gesellschaft dient, muss man überlegen, welche Wissenschaft gefördert werden soll. Es gibt zwar inzwischen einige Ansätze, die unter Einbezug der Genderforschung multiple Kategorien, Interrelationen, kulturelle und soziale Einflüsse beachten. Das ist nicht nur wichtig, es ist auch eine methodische Innovation für viele Bereiche. Aber daraus wurden einzelne Case Studies, die nun wieder sehr begrenzt einzelne Aspekte in den Vordergrund stellen. Das finde ich nach wie vor problematisch. Wenn es beispielsweise nur darum geht, in der Technik mehr Frauen einzubeziehen, dann wird es oft reduktionistisch – man denke etwa an die „Pink Corners“ im Mediamarkt. Und besonders problematisch ist, dass es oft mit dem Argument endet: „Jetzt haben wir doch Gender berücksichtigt.“ Aber eine grundsätzliche feministische Naturwissenschaftskritik geht eben weiter.
Feministische Naturwissenschaftskritik fragt beispielsweise nach dem Einfluss, den gesellschaftliche Geschlechtervorstellungen und Naturwissenschaften aufeinander haben.
Es war nie so, dass die Naturwissenschaft etwas entwickelt hat, auf das sich dann die Gesellschaft bezog, oder umgekehrt, dass gesellschaftliche Konstellationen vorab die Naturwissenschaft beeinflusst haben. Man muss das vielmehr als Koproduktion sehen. Ein Beispiel ist die Entwicklung der Medizin: Geschlechterrollen sind lange Zeit zweigeschlechtlichen Zuschreibungen gefolgt. Im Zuge der Etablierung der modernen Medizin im 18. Jahrhundert wurden diese massiv in den Körper eingeschrieben. Etwa der Knochenbau – ein breites Becken bei Frauen, ein großer Kopf bei Männern, das war stark verbunden mit bestimmten gesellschaftlichen Vorstellungen von rationalen Fähigkeiten im Gegensatz zu Gebärfähigkeiten, obwohl diese Darstellungen zum Teil gar nicht den realen Ausmaßen entsprachen. Aktuelle Beispiele aus der Hirnforschung zeigen, wie in der Naturwissenschaft bestimmte Vorstellungen von männlich konnotierter Rationalität und weiblich konnotierter Emotionalität von vornherein als Vorlage dienen, um danach zu suchen. Mit Methoden der Naturwissenschaftskritik oder der Feminist Science Studies kann man aufzeigen, wie durch die Methodenauswahl, durch das Setzen der Kategorien bestimmte Ergebnisse in den Blick genommen werden. So ist in der Hirnforschung die Einteilung in Frauen und Männer (als einzige Kategorie) nach wie vor Grundlage, denn ansonsten kann kein Hirnscanner arbeiten. Dabei wäre es aber notwendig, multiple Genderkategorien einzuführen. Gleiches gilt für die Auswertung – Sprachfähigkeit oder räumliche Orientierung sind wesentlich heterogener verteilt als nach der einfachen Differenz „Geschlecht“.
Andere Ergebnisse werden nicht zugelassen, weil der Forschungsblick eingeschränkt ist?
Das passiert nicht unbedingt bewusst. Aber es kommen bestimmte Dinge in den Blick und andere eben nicht. Zum Beispiel werden in der Biologie Gruppenunterschiede zwischen Frauen und Männern hervorgehoben, während die Unterschiede innerhalb und über die Geschlechtergrenzen hinweg kaum wahrgenommen werden.
Wie kommt die feministische Kritik in den Naturwissenschaften an?
Das muss man auf verschiedenen Ebenen sehen. Es gibt eine Reihe von Themenfeldern, wie zum Beispiel die Hirnforschung oder die Epigenetik, bei denen auch innerhalb der Naturwissenschaft klar ist, wie stark Natur und Kultur miteinander verschränkt sind. So geht es etwa seit den letzten Jahren in den Environmental Epigenetics um die Frage, wie Umwelteinflüsse die Aktivierung von Genen steuern.
In der Biologie gibt es inzwischen eine größere Offenheit dafür, dass soziale Phänomene die Natur verändern. Und zwar auf eine nachhaltige Weise, die über Generationen hinweg weitergegeben werden kann. Aber es besteht der große Anspruch, diese sozialen Faktoren messbar zu machen. Hier sucht auch die Biologie interdisziplinäre Kooperationen, ich selbst führe viele Diskussionen und habe gemeinsame Veranstaltungen gemacht. Gleichzeitig ist die Art und Weise, wie naturwissenschaftliche Experimente designt werden, noch zu reduktionistisch. Und besonders, wenn ich einen Schritt weiter gehe und hinterfrage, inwieweit das experimentelle Design zu objektiven Wahrheiten führen kann, oder inwieweit bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen die Auswertung und die Interpretation bestimmen, ich mich also auf die Ebene der wissenstheoretischen Kritik begebe, wird es ganz schwierig. Denn damit kritisiert man einen Grundpfeiler naturwissenschaftlicher Forschung als objektive Forschung. Ich will damit nicht sagen, dass man Wissenskonstruktionen nicht nutzen kann – aber sie sind keine absoluten Wahrheiten.
Sigrid Schmitz ist Biologin und war zum Zeitpunkt des Interviews Professorin für Gender Studies in Wien.
Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Oktober 2013.