Nehmen Sie erst mal ab“

Im September ist „PCOS Awareness Month“. Das Polyzystische Ovarialsyndrom wurde 1935 erstmals beschrieben, doch bis heute fehlt es an Wissen. Von Bettina Enzenhofer

Graffito mit 3 Katzenköpfen, die wie Luftballons gestaltet sind. Jeder Luftballon-Katzenkopf hat eine andere Farbe - pink, gelb und türkis. Insgesamt haben die 3 Katzenköpfe 4 Augen.
Artist & Foto: Christine Weidhofer

„Ich hatte einen unregelmäßigen Zyklus und zunehmende Körperbehaarung“, sagt Rachel. „Außerdem hatte ich viel zugenommen, war massivem Fatshaming ausgesetzt und hatte so starken Haarausfall, dass ich überall eine Spur Haare hinterlassen habe. Das hat mich total verunsichert.“ Bei Rachel wurde das sogenannte Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) diagnostiziert. Damit ist sie nicht alleine: Etwa acht bis 13 Prozent aller cis Frauen im gebärfähigen Alter haben PCOS (andere Geschlechter werden im medizinischen PCOS-Diskurs nicht erwähnt). Trotz dieser Häufigkeit ist PCOS extrem unterdiagnostiziert, unbekannt und untererforscht. Viele Personen mit PCOS haben einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, suchen wegen eines unerfüllten Kinderwunschs, Akne oder vermehrten Haarwuchses etliche Ärzt*innen auf, die oft außer „nehmen Sie erst mal ab, dann sehen wir weiter“ nicht viel sagen. Falls den Beschwerden doch nachgegangen wird und es sich um PCOS handelt, kann das für die betroffenen Personen ein Segen sein – endlich wird ihnen geglaubt –, es kann aber auch verunsichern: „Meine Ärztin hat mir viel Angst gemacht. Sie hat von Diabetes- und Herz-Kreislauf-Risiken gesprochen und war übergriffig. Sie wollte meinen Körper normieren: Ich solle nicht so stark behaart sein“, sagt Leo. „Ich bin nicht-binär und intergeschlechtlich, ich finde meine Haare und meinen hohen Testosteronwert cool und sexy, aber meine Ärztin besteht darauf, dass ich sicher darunter leide. Da fühle ich mich doppelt nicht ernst genommen.“

1935 berichteten die Gynäkologen Irving Freiler Stein und Michael Leventhal von Frauen mit bestimmten körperlichen Auffälligkeiten und lenkten die medizinische Aufmerksamkeit erstmals auf PCOS. Heute gelten folgende Hauptmerkmale: kleine Bläschen rund um die Eierstöcke (sogenannte polyzystische Ovarien), eine seltene oder überhaupt ausbleibende Menstruation und so viel Androgene im Blut, wie Frauen laut medizinischer Definition nicht haben sollten. Zwei dieser drei Kriterien reichen für eine Diagnose, die namensgebenden polyzystischen Ovarien sind also gar nicht notwendig für PCOS. Es gibt keinen wirklichen „Test“ auf PCOS, die Diagnose folgt dem Ausschlussprinzip – wenn sich die Auffälligkeiten nicht anders erklären lassen, ist es PCOS.

Es kann ab der Pubertät auftreten und zeigt ich von Person zu Person unterschiedlich: Mehr als die Hälfte der Menschen mit PCOS hat einen Haarwuchs, den die Medizin „männlich“ nennt – eine Folge dieser Hormonkonstellation. Zwar produzieren alle Geschlechter Androgene, doch bei cis Frauen überwiegen typischerweise Östrogene und Gestagene. Bei PCOS kann das anders und der Grund sein für Akne, Haarausfall oder ungewollte Gewichtszunahme. Hormonell bedingt kann es auch zu seltenen Eisprüngen kommen – PCOS ist einer der häufigsten Gründe für Unfruchtbarkeit. Hat die betroffene Person nur sehr selten ihre Menstruation, so gibt es ein höheres Risiko für Gebärmutterkörperkrebs. Fünfzig bis siebzig Prozent der Personen mit PCOS haben zudem eine Insulinresistenz, die zu Diabetes führen kann – und somit später zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wichtig ist also ein individueller Blick auf PCOS – was stört den*die Patient*in wirklich? Welche Form von PCOS liegt vor und ist wirklich ein bestimmtes Gesundheitsrisiko vorhanden?

Obwohl die Publikationen zu PCOS in den letzten 85 Jahren massiv zugenommen haben, weiß man bis heute vieles nicht – etwa, was nun wirklich die Ursache ist. Auch behandeln kann man nicht PCOS an sich, sondern nur dessen Symptome: So wird etwa die Pille verschrieben, um Akne und das vermehrte Ausschütten von Androgenen zu verhindern sowie den Zyklus unter Kontrolle zu bringen. Zusätzlich hören die meisten Patient*innen von ihren Ärzt*innen, dass sie abnehmen sollen, weil das die Symptome verbessern würde und sie ohnehin gefährdet seien, Diabetes zu entwickeln. Eine ganzheitliche Behandlung fehlt weitgehend. Viele Ärzt*innen schenken der Erhaltung der Fertilität mehr Aufmerksamkeit als anderen Beschwerden, unter denen ihre Patient*innen möglicherweise mehr leiden, so wie Stimmungsschwankungen, Ängste oder Depressionen. Eine aktuelle Studie mit Ärzt*innen in Nordeuropa ergab, dass Awareness, Diagnose und Management von PCOS „suboptimal“ sind – erst recht bezogen auf das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität, die oft genug durch blöde Blicke und Kommentare anderer beeinträchtigt ist.

In einer androzentrisch geprägten Wissenschaft wie der Medizin überrascht ein PCOS­-Diskurs nicht, in dem es oft weniger darum geht, ob bestimmte Phänomene gesund oder krank sind, sondern mehr darum, dem Bild von „Weiblichkeit“ gerecht zu werden. „Alles, was einer Frau zugeschrieben wird, soll sie erfüllen: nicht dick sein, keine Akne haben, kein ,männliches‘ Behaarungsmuster, keine ,männlichen‘ Hormone“, sagt Magdalena. „Ich wurde oft ,Mannweib‘ genannt – nur weil ich bin, wie ich bin.“ Magdalena sucht bis heute nach seriöser Information über PCOS und Stoffwechsel, hörte von Ärzt*innen jedoch meist nur: „PCOS haben viele Frauen, damit müssen Sie jetzt leben, ist nicht so schlimm.“ Außerdem ist für Magdalena eine heteronormative Aufklärung, die sich nur an cis Frauen und deren Reproduktion richtet, mehr abschreckend als hilfreich. Auch Rachel wurde von Ärzt*innen zu wenig aufgeklärt und bezog das meiste Wissen über Soziale Medien. Und Leo hat unmittelbar erfahren, was schlechte Auf­klärung bewirken kann. Seine Ärztin sagte, mit PCOS sei eine Schwangerschaft sehr unwahrscheinlich bzw. brauche es dafür medizinische Unterstützung: „Das war mir egal, ich wollte sowieso keine Kinder bekommen. Nach dieser Information habe ich auf Kondome verzichtet. Doch es war eine unnötige Fehlinformation, denn plötzlich war ich schwanger.“

Zum Weiterlesen: 
Informationen zur Wirksamkeit bestimmter Behandlungen (Cochrane, englischsprachig)
Ganzheitlicher Blick auf PCOS: Hannah Pehlgrimm: Das polyzystische Ovarial-Syndrom (PCOS), in: „clio – die Zeitschrift für Frauengesundheit“ 88/2019 (bestellbar unter ffgz.de)

Dieser Text erschien zuerst in Missy Magazine 5/2020. Das Missy Magazine freut sich über Abos.

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