Nur eine Minderheit der Täter*innen ist pädophil“

Warum wird sexuelle Gewalt so selten zur Anzeige gebracht? Und wohin können sich Betroffene in Wien wenden? Verena Weißenböck von der Beratungsstelle TAMAR im Interview mit Saskya Rudigier und Sara van Dordrecht vom Grätzlradio „Gitti“

Porträtbild von Verena Weißenböck. Verena Weißenböck hat zusammengebundene braune Haare, trägt eine Brille und ein schwarzes Oberteil und lacht in die Kamera. Sie sitzt vor einer großen Pflanze mit vielen grünen Blättern.
Verena Weißenböck, © Sara van Dordrecht

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Interview. Saskya Rudigier und Sara van Dordrecht haben mit Verena Weißenböck von der Beratungsstelle TAMAR gesprochen. TAMAR ist eine Wiener Beratungsstelle für Frauen und Familien.
Im Interview geht es um sexuelle Gewalt. Betroffene von sexueller Gewalt machen meistens keine Anzeige. Es gibt auch nur wenige Verurteilungen bei sexueller Gewalt. Die Täter*innen sind oft keine Fremden, sondern zum Beispiel Teil der Familie. Viele Frauen haben als Kind oder Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt, können aber erst als Erwachsene darüber reden. TAMAR hilft ihnen: zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapie-Platz. Manchmal ist man unsicher: Habe ich sexuelle Gewalt erlebt? Oder hat mein Kind sexuelle Gewalt erlebt? Dann kann man auch zu TAMAR gehen.
Kinder sollen wissen: Es gibt Kinder-Rechte. Der Schutz vor sexueller Gewalt ist zum Beispiel ein Kinder-Recht. Sexual-Aufklärung ist für Kinder wichtig. Dann können Kinder leichter sagen: Mir ist etwas passiert. Das war nicht okay.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Gitti: Nur neun Prozent aller Fälle von sexualisierter Gewalt werden angezeigt. Liegt das daran, dass viele Täter*innen den Betroffenen bekannt sind? Immerhin finden 45 Prozent der Übergriffe innerhalb des Familien- und Bekanntenkreises statt. 

Verena Weißenböck: Das spielt auf jeden Fall eine Rolle. Aber auch bei Täter*innen, die man vorher nicht kannte, ist es sehr schwer, die Gewalt anzuzeigen. Besonders schwierig ist es unserer Erfahrung nach, wenn es Täter*innen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis sind. Kombiniert mit Schuld und Scham und vielleicht auch Drohungen. Oder Unsicherheit und der Frage, ob das jetzt schon eine Grenzüberschreitung war. Dann ist es enorm schwer, etwas zu sagen oder anzuzeigen.

Wir in der Beratungsstelle haben mit vielen Frauen zu tun, denen sexualisierte Gewalt in der Kindheit oder in der Jugend widerfahren ist, die aber erst jetzt darüber reden können oder bereit für eine Anzeige sind. Die Justiz hat das erkannt, indem die Verjährungsfristen ausgeweitet wurden.

G: Wenn Aussage gegen Aussage steht, ist es wahrscheinlich schwierig, dass ein*e Täter*in nach so vielen Jahren verurteilt wird.

VW: Zehn Prozent der Anzeigen landen im System und sind der Kinder- und Jugendhilfe und der Polizei bekannt. Ich kann es nur aus den vergangenen Jahren schätzen, ich würde sagen, davon werden ungefähr zwischen 15 bis 17 Prozent der Täter*innen verurteilt. Aber es ist wahnsinnig schwierig, etwas im juristischen Sinn zu beweisen, weil das Gesetz im Zweifel für den Angeklagten ist. Da kann der sexuelle Übergriff von Richter*innen oder Staatsanwält*innen geglaubt werden, aber wenn es keine Beweise gibt, wird der Fall eingestellt oder die Täter*innen werden sogar freigesprochen.

G: Das Strafausmaß ist im Vergleich zu vielen anderen Verbrechen oft gering.

VW: Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann mehr Verurteilungen. Ich weiß gar nicht, ob ich mir höhere Strafen wünschen würde. Es ist so schon schwer genug, wie die Beweise sein müssen und gewichtet werden, um überhaupt eine Verurteilung zu erreichen. 

Und von den Klient*innen her, auch von den Kindern, habe ich das Gefühl, dass eine Verurteilung der große Wunsch ist: Das stimmt, was ich erzählt habe, das ist so passiert, da wird mir geglaubt. Da gibt es jetzt eine Konsequenz, wie klein die auch immer sein mag für die Person, die mir das angetan hat. Das ist ein Ziel von Klient*innen. 

Ich wünsche mir, wir könnten das öfter erreichen. Beziehungsweise ist es gut, wenn man sich ein Ziel setzt, das mit einer Anzeige erreicht werden möchte, wie: Ich habe mich das getraut, ich habe das offiziell gemacht. Und ich weiß, dass das nicht in Ordnung war!

Sonst ist die Gefahr groß, dass wenn das Strafverfahren nicht mit einer Verurteilung ausgeht, nur die Enttäuschung bleibt. Natürlich spielt auch die Höhe der Strafe eine Rolle, ich würde das trotzdem als zweitrangig betrachten. 

G: Kommen mehr Erwachsene in die Beratungsstelle oder Bezugspersonen gemeinsam mit jüngeren Kindern?

VW: Wenn die Bezugspersonen und Kinder als eine Klientin gezählt werden, dann kommen mehr Erwachsene in die Beratung. Jedoch arbeiten wir in diesem Setting zu zweit, denn die Bezugsperson hat ihre Themen und auch das Kind möchte vielleicht nicht alles vor der Mama oder dem Papa erzählen und braucht einen eigenen Raum. So betrachtet ist es ziemlich ausgeglichen.

Es kommen aber auch viele Frauen im Erwachsenenalter zu uns und sagen: Vor 10 Jahren, vor 15 Jahren, vor 20 Jahren oder vielleicht noch länger ist mir etwas passiert und es geht mir jetzt noch immer durch den Kopf. Und da geht es oft gar nicht um eine Anzeige im Zuge einer Prozessbegleitung, sondern um Beratung. Oder wie könnte man gemeinsam eine Therapeutin finden, weil es sich die Betroffenen finanziell nicht leisten können. Wir versuchen dabei zu unterstützen und zum Beispiel einen Kassenplatz zu findet. Das ist leider sehr schwierig, aber wir versuchen es.

G: Und wenn ich jetzt Angehörige*r bin und den Verdacht habe, dass mein Kind oder im Bekanntenkreis vielleicht ein Kind betroffen ist: Woran könnte ich sexuelle Gewalt erkennen?

VW: Böse gesagt: Ich weiß es nicht. Jedes Symptom kann als Ursache sexuelle Gewalt aber auch eine andere Ursache haben. Wir sind gerne und wirklich immer wieder auch für Nachbar*innen, Verwandte, Lehrer*innen, Kindergärtner*innen, Nachmittagsbetreuer*innen, für alle da, die sagen: Ich habe ein komisches Gefühl.

Als Beratungsstelle können wir keinen Verdacht aufdecken, aber wir können begleiten und unterstützen. Was fällt jemandem auf? Gibt es noch andere Erklärungen für die Auffälligkeit? Fällt das auch anderen Personen auf? Wann sollte man anfangen, die Geschehnisse zu dokumentieren und wo ist ein Punkt, wo sich der Verdacht schon so verdichtet hat, dass man es nicht mehr auf sich beruhen lassen kann? Das muss nicht immer eine Anzeige sein. Für den Schutz des Kindes oder der Jugendlichen ist die Kinder- und Jugendhilfe da. Dorthin würde ich auch die Verantwortung geben, in dem Wissen, dass die Betroffenen dort in guten Händen sind.

In Österreich gibt es durch das Gewaltschutzgesetz eine generelle Anzeigepflicht, wenn es um sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen geht. 

Natürlich muss, wenn Gefahr im Verzug ist, sofort gehandelt werden. Aber wenn ich einen Verdacht habe und ich mir noch nicht sicher bin, was mein Gefühl bedeutet, würde ich mir Zeit nehmen und mich beraten lassen.

G: Durch die große mediale Präsenz des Falls Teichtmeister wurde der Begriff „Kinderpornografie“ problematisiert und man gewann den Eindruck, ein neues Bewusstsein entsteht.

VW: Da gibt es wirklich ganz viele verschiedene Aspekte in der Berichterstattung. Ich glaube, man kann es als Anlass nehmen, weg von der Person Teichtmeister zu gehen, zu dem hin, wie verbreitet Missbrauchsdarstellungen von Kindern sind und was das auch über eine Gesellschaft aussagt.

G: Was sind die Ursachen für sexuelle Gewalt an Kindern? 

Nur eine Minderheit der Täter*innen ist pädophil. Es hat viel mehr mit Macht zu tun und mit der Lust an der Macht, zum Teil vielleicht auch aus einem Besitzdenken heraus. Ich habe einen Artikel aus der Zeitschrift „Trauma & Gewalt“ von Barbara Kavemann im Kopf, darüber, was es Kindern so schwer macht zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung war: Erziehung zum Gehorsam, kein Wissen über Kinderrechte und keine altersentsprechende Sexualaufklärung. Wenn ich jetzt den Bogen zu dem spanne, warum so viele Kinder missbraucht werden, dann würde ich die Erziehung zum Gehorsam in dem Zusammenhang, „es“ nicht sagen können, nochmal hervorheben. Ich glaube, dass diese Erziehung zum Gehorsam und autoritäre Strukturen Missbrauch sehr befördern, gemeinsam mit dem Nicht-Wissen, dass das falsch ist.

Verena Weißenböck ist Geschäftsführerin, Beraterin, Kinderpsychotherapeutin und Prozessbegleiterin bei der Frauen- und Familienberatungsstelle TAMAR
Kontakt: beratungsstelle@tamar.at / 01/334 04 37 / Wexstraße 22/3/1, 1200 Wien

Das Interview ist das überarbeitete Transkript aus der „Gitti“-Sendung „Lebenslinien – Brigittenauer Beraterinnen“ vom 3. März 2023 auf Radio Orange 94.0
Mehr über das Grätzlradio „Gitti“: https://o94.at/programm/sendereihen/gittihttps://www.instagram.com/gittiradio/

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Interview. Saskya Rudigier und Sara van Dordrecht haben mit Verena Weißenböck von der Beratungsstelle TAMAR gesprochen. TAMAR ist eine Wiener Beratungsstelle für Frauen und Familien.
Im Interview geht es um sexuelle Gewalt. Betroffene von sexueller Gewalt machen meistens keine Anzeige. Es gibt auch nur wenige Verurteilungen bei sexueller Gewalt. Die Täter*innen sind oft keine Fremden, sondern zum Beispiel Teil der Familie. Viele Frauen haben als Kind oder Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt, können aber erst als Erwachsene darüber reden. TAMAR hilft ihnen: zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapie-Platz. Manchmal ist man unsicher: Habe ich sexuelle Gewalt erlebt? Oder hat mein Kind sexuelle Gewalt erlebt? Dann kann man auch zu TAMAR gehen.
Kinder sollen wissen: Es gibt Kinder-Rechte. Der Schutz vor sexueller Gewalt ist zum Beispiel ein Kinder-Recht. Sexual-Aufklärung ist für Kinder wichtig. Dann können Kinder leichter sagen: Mir ist etwas passiert. Das war nicht okay.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Teilen:
Skip to content