Ohne Geschlecht geht’s mir schlecht (aber mit auch)

Mediziner_innen wissen zu wenig über geschlechtliche und körperliche Vielfalt. Ravna Marin Siever über die Schwierigkeiten für nicht binäre Menschen im Gesundheitssystem

Menschen bei einer Demonstration von hinten, eine Person hält ein Schild hoch mit dem Text "Trans Rights are Human Rights"
Foto: Oriel Frankie Ashcroft / Pexels

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Artikel über nicht binäre Menschen im Gesundheits-System.
Nicht binär heißt:
Ein Mensch ist nicht Mann und nicht Frau.
Ein nicht binärer Mensch hat ein eigenes Geschlecht.
Das Geschlecht ist nicht binär.
Es gibt mehr Geschlechter als nur 2.
Aber viele Menschen glauben:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Auch viele Ärzt_innen glauben das.
Das ist ein Problem für nicht binäre Menschen.
Zum Beispiel für Ravna Siever.
Ravna muss Ärzt_innen oft erklären:
Es gibt mehr als 2 Geschlechter.
Es gibt mich.
Und ich bin nicht binär.
Aber dann ist zu wenig Zeit für andere Fragen.
Ravna will den Ärzt_innen lieber andere Fragen stellen.
Zum Beispiel:
Was passiert, wenn ich manchmal Hormone nehme?
Gibt es Nebenwirkungen?
Aber Ärzt_innen wissen das oft nicht.
Ärzt_innen haben eine Antwort für Frauen und Männer.
Ärzt_innen haben keine Antwort für nicht binäre Menschen.
Ravna sagt:
Nicht binäre Menschen sind Expert_innen.
Forscher_innen sollen nicht binäre Menschen fragen.
Das wäre gut für die Gesundheit von nicht binären Menschen.
Dann könnte Ravna mit Ärzt_innen endlich über wichtige Fragen reden:
über Ravnas Krankheiten
und wie Ravna wieder gesund wird.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast:
schreib an be(at)ourbodies.at

„Herr Siever bitte in Sprechzimmer 1!“
Ich stehe auf. Blicke folgen mir durchs Wartezimmer. Heute habe ich kein männliches Passing, meine Brüste zeichnen sich durch das Shirt deutlich ab und unter meiner FFP2-Maske lugen keine Bartstoppeln hervor, weil ich frisch rasiert bin.
„War Herr jetzt richtig?“
„Ich bevorzuge es, einfach mit meinem Namen aufgerufen zu werden. Ravna Siever.“
„Bei uns in der Kartei steht jetzt ein M.“
„Ich habe keinen Geschlechtseintrag. Das sollte auch so in den Daten meiner Versichertenkarte stehen.“
„Ah. Dann muss das korrigiert werden.“
Ich weiß, dass die Arztperson damit nicht viel anfangen kann, ich sehe es ihr an. Aber sie ist eine von denen, die Dinge einfach akzeptiert und umsetzt, auch wenn sie sie nicht versteht. 

Behandlungszeit minus Aufklärungszeit

Als nicht binäre und behinderte Person im deutschen Gesundheitssystem zu (über-)leben ist kräftezehrend. Ich gehe nicht nur einmal im Jahr zu irgendwelchen Routineuntersuchungen und gelegentlich bei Erkrankungen. Sondern ich bin regelmäßig bei Ärzt_innen, habe Termine in Untersuchungszentren und muss immer wieder Erklärungen über mich liefern. Erklärungen, die über meine Erkrankungen hinausgehen. Dabei ist doch schon für die Erkrankungen keine Zeit. 

Gerade bei Spezialist_innen ist die Wartezeit lang und die Sprechzeit pro Patient_in knapp bemessen. Es wäre gut, wenn mein Geschlecht und mein Geschlechtseintrag nur dann eine Rolle spielen müssten, wenn mindestens eines von beidem medizinische Relevanz hat. Aber tatsächlich muss ich oft Aufklärungsarbeit leisten, die von der Zeit abgeht, die ich behandelt werde (und für die ich nicht bezahlt werde, im Vergleich zur Arztperson).

Wann ist mein Geschlecht medizinisch relevant? Keine Ahnung, bisher war es das noch nie. Was relevant ist, ist manchmal meine körperliche Ausstattung. Welche Organe habe ich? Welche Besonderheiten gibt es vielleicht? Wie viele Schwangerschaften gab es und wie gingen sie aus? Wie ist mein Hormonstatus? 

Expert_innen für den eigenen Hormonhaushalt

Zu trans und nicht binären Personen, die Hormontherapien machen oder gemacht haben, gibt es viel zu wenig Forschung darüber, welche Veränderungen diese bedingen. Das bisschen, was es gibt, ist viel zu wenig bekannt. Die meisten von uns sind Expert_innen für den eigenen Hormonhaushalt geworden. Nicht, weil wir es unbedingt wollten, sondern weil die medizinische Versorgungslage das erfordert. Selbst Endokrinolog_innen haben oft wenig Erfahrung und noch weniger Ahnung von der Hormonversorgung für trans Personen – wollen Selbiges aber selten eingestehen. Ich habe endlich eine gute Endokrinologin gefunden – die weiß zwar auch vieles nicht, steht da aber dazu. „Ich kenne keine Forschung dazu und das Beste, was ich machen kann, ist eine Einschätzung auf Grund von anderem Wissen abzugeben“, sagte sie.

Nun ist es keineswegs so, dass Hormon(blocker)-Therapien rein experimentell sind. Das muss ich an dieser Stelle leider betonen, weil sonst Menschen auf den Plan treten, die gern über Körper anderer Menschen bestimmen wollen, dass und wie die ein Geschlecht definieren. Gerade Hormonblocker sind gut erforscht, Hormonersatztherapien auch – aber oft nur hinsichtlich der Langzeitnutzung von cis und/oder inter Personen. Ob Wechseljahre, Krebs oder anderes: Testosteron(-blocker), Östrogen & Progesteron(-blocker) sind keine unerforschten Medikamente. Allerdings fehlt es an Wissen darüber, was passiert, wenn (nicht binäre oder binäre) trans Personen Hormone beispielsweise in sehr geringen Mengen oder mit Pausen einnehmen. Klar ist aber: eine Hormonbehandlung, die von der betroffenen trans Person gewünscht wird, hat ganz massive Vorteile, die körperlichen Veränderungen durch die Hormonbehandlung können Dysphorie lindern; der zum eigenen Geschlecht passende Hormonhaushalt wird als Entlastung empfunden.

Educated guesses“

Weniger klar sind die Nebeneffekte, die die Hormone haben können. Der menschliche Hormonhaushalt ist ein hochkomplexes System mit vielen Wechselwirkungen und maßgeblichen Auswirkungen auf den gesamten Gesundheitszustand – psychisch und physisch. Und selbst gute Fachärzt_innen können hier oft nur „educated guesses“ machen, weil es zu wenig Forschung gibt. 

Ist beispielsweise mein Herzinfarktrisiko eher das einer gleichaltrigen cis Frau oder eines cis Mannes? Welche Symptome sind erwartbar? Hängt das von meinem aktuellen Hormonstatus ab, davon, wie lange ich welchen Hormonen ausgesetzt war oder von etwas anderem?

Hormone beeinflussen zum Beispiel auch das Schmerzempfinden – als nicht binärer Mensch mit chronischen Schmerzen ein durchaus relevanter Faktor. Habe ich östrogenbedingt einen Zyklus, sind meine Schmerzen zyklusabhängig unterschiedlich stark. Bin ich auf Testosteron eingestellt, sind sie eher konstant. Auf Testosteron ist es leichter, Muskeln aufzubauen, was bei der Stabilisierung meiner hypermobilen Gelenke hilft. Ohne Testosteron kann ich die Schmerzen besser verarbeiten.

Bezieht uns in die Forschung ein!

Nun habe ich persönlich kein Problem damit, mit meinem Körper und meinem Hormonhaushalt herumzuexperimentieren, bis ich für mich etwas gefunden habe, das (derzeit) gut funktioniert. Für mich ist das Teil davon, meinen Körper zurückzuerobern und über mich selbst zu bestimmen. Doch für viele wäre es hilfreich, mehr Orientierung zu haben. Und die kann es nur geben, wenn trans und nicht binäre Menschen adäquat in die Forschung miteinbezogen werden. Nicht nur als Randthema und nicht nur aus cis Perspektive. Es braucht Forscher_innen-Teams, die selbst betroffen sind oder eng im Austausch mit Betroffenen stehen.

Nicht binäre Personen sind oft damit konfrontiert, dass das medizinische System in Deutschland sie binär machen möchte. Wir kommen in dem System nicht vor und viele nicht binäre Personen müssen oft lügen, um an Behandlungen zu kommen und behaupten, sie wären binäre trans Männer/Frauen. 

Brustentfernung wird bezahlt, Verkleinerung nicht

Viele Dinge, die mir mit meiner Dysphorie helfen würden, werden von der Krankenkasse nicht übernommen, denn sie hat ein cisnormatives, binäres Bild von Geschlecht und eine konkrete Vorstellung davon, was für trans Personen „geschlechtsangleichende Operationen“ sind, die vielleicht übernommen werden. 

Während ich mir meine Brüste recht problemlos entfernen lassen könnte, ist die Verkleinerung, die ich gerne hätte – zur Minderung von Schmerzen und Dysphorie, etwas, das die Krankenkasse als kosmetische Operation einstuft. Denn, so das cisnormative, binäre Denken: Männer haben ja keine Brüste und wenn ich keine Frau bin, muss ich ein Mann sein. Ich bin aber nicht binär. Und während meine Brüste in sozialen Kontexten oft Dysphorie auslösen, mag ich sie trotzdem behalten, aber gern kleiner, problemlos versteckbar unter Kleidung. Ich habe damit meine drei Kinder ernährt, ich mag die Optik von Brüsten an und für sich und das Gefühl von Brüsten in der Hand. Irgendwie hänge ich also an ihnen. Aber meine Brüste sind auch groß und schwer, ich nehme sie dysphoriebedingt beständig wahr. Es gibt keinen Moment am Tag, an dem ich mir nicht bewusst bin, dass ich Brüste habe. Das ist ziemlich anstrengend. Für die meisten Menschen mit Brüsten sind Brüste eher sowas wie Hände: Sie haben welche, aber ihnen ist nicht jeden Moment bewusst, dass sie existieren. Erst wenn die Hände weh tun, kalt werden, nass werden, rückt ihre Existenz ins Bewusstsein.

Binäre Durchschnittswerte

Doch auch bei viel alltäglicheren medizinischen Dingen fehlt es an Bewusstsein für geschlechtliche und körperliche Vielfalt. So wird zum Beispiel bei vielen Blutuntersuchungen bei den Ergebnissen ein Referenzrahmen angegeben, der den genommenen Wert mit Durchschnittswerten vergleicht. Diese Durchschnittswerte sind meist binär gegendert – und es ist relevant mit welchem Durchschnitt ich warum verglichen werde. Was ist das Relevante für den entsprechenden Blutwert? Mein aktueller Hormonhaushalt? Genetik? Morphologie (zum Beispiel das Verhältnis von Fett- zu Muskelmasse)? Etwas anderes? 

Dass in der Medizin häufig „der weiße Durchschnittsmann“ als Orientierungswert genommen wird, und das problematisch ist, ist in der Gender Medizin schon lange ein Thema. Doch allzu oft geht es darum, dass „Frauen“ anders funktionieren würden. Gemeint sind dann aber meist wieder nur weiße cis Frauen, die nicht inter sind, die nicht behindert sind, die nicht Schwarz sind – und die dann auch wieder nur einer von weißen cis Männern konstruierten Norm entsprechen. Natürlich ist es hilfreich, Durchschnitte als Orientierung zu haben. Allzu oft werden sie aber als eine „gesunde Norm“ herbeifantasiert, statt auf die individuellen Patient_innen in ihrer Gesamtheit zu schauen. Dafür ist ja in einem auf Kapitalismus optimierten Gesundheitssystem auch gar kein Raum. 

Das muss sich ändern. Weil Menschen hochkomplexe, vielfältige Wesen sind, deren Gesundheit nicht an ihrer Verwertbarkeit als humane Ressource des Marktes gemessen werden sollten. Und damit ich nicht mehr in Sprechzimmer 1 sitzen und über den Vielfalts-Teilaspekt „Geschlecht und Körperkonfiguration“ aufklären muss, statt behandelt zu werden wie jeder durchschnittliche weiße endocis Mann.

Ravna Marin Siever lebt mit siener Familie am Berliner Stadtrand und schreibt und spricht on- und offline hauptsächlich zu den Themen geschlechtsoffene Erziehung und Geschlechtervielfalt. Im März 2022 erschien sien erstes Buch „Was wird es denn? Ein Kind! – Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt“ im Beltz Verlag.

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Artikel über nicht binäre Menschen im Gesundheits-System.
Nicht binär heißt:
Ein Mensch ist nicht Mann und nicht Frau.
Ein nicht binärer Mensch hat ein eigenes Geschlecht.
Das Geschlecht ist nicht binär.
Es gibt mehr Geschlechter als nur 2.
Aber viele Menschen glauben:
Es gibt nur 2 Geschlechter.
Auch viele Ärzt_innen glauben das.
Das ist ein Problem für nicht binäre Menschen.
Zum Beispiel für Ravna Siever.
Ravna muss Ärzt_innen oft erklären:
Es gibt mehr als 2 Geschlechter.
Es gibt mich.
Und ich bin nicht binär.
Aber dann ist zu wenig Zeit für andere Fragen.
Ravna will den Ärzt_innen lieber andere Fragen stellen.
Zum Beispiel:
Was passiert, wenn ich manchmal Hormone nehme?
Gibt es Nebenwirkungen?
Aber Ärzt_innen wissen das oft nicht.
Ärzt_innen haben eine Antwort für Frauen und Männer.
Ärzt_innen haben keine Antwort für nicht binäre Menschen.
Ravna sagt:
Nicht binäre Menschen sind Expert_innen.
Forscher_innen sollen nicht binäre Menschen fragen.
Das wäre gut für die Gesundheit von nicht binären Menschen.
Dann könnte Ravna mit Ärzt_innen endlich über wichtige Fragen reden:
über Ravnas Krankheiten
und wie Ravna wieder gesund wird.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast:
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