Queer ist auch behindert!

Behinderung kann als queeres Anliegen beschrieben werden. Über Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Von Katharina Payk

Menschenmenge bei der Pride Parade Berlin, im Vordergrund Rollstuhlfahrer*innen, eine Regenbogenfahne und ein großes Transparent mit dem Text "behindert und verrückt feiern Pride Parade Berlin"
Foto: Mike Herbst/Flickr – Pride Parade 2013 , CC BY-NC 2.0

Als ich unlängst mit zwei Freundinnen über Pränataldiagnostik sprach, sagte die eine: „Stimmt, es ist nicht immer korrekt, was einem da prognostiziert wird. Einer Bekannten wurde gesagt, ihr Kind werde schwerbehindert sein, doch dann kam es raus und war ganz normal, ein wunderschönes Baby.“ Als ich sie darauf hinwies, dass genau das ja das Problem sei, dass Menschen mit Behinderungen offensichtlich als abnormal und nicht als schön gelten und deshalb geradezu eine Angst vor Behinderung existiert, und dass ein solcher Satz sehr verletzend für Menschen mit Behinderungen sein kann, schämte sie sich. Aber sie sprach nur aus, was viele denken. Selbst das Geschlecht ist den meisten unwichtig (zumindest, sofern es kein intergeschlechtliches Baby ist): Egal ob Junge oder Mädchen, Hauptsache „gesund“ und „es ist alles dran“!

Eindeutig müssen wir sein, Mädchen oder Junge, nichts dazwischen, und schon als Babys schön. Gesund. Nicht behindert. Nicht queer. Nicht inter*. Nicht trans*. Aber unsere Körper und Psyche sind grundsätzlich fragil. Selbst wer „gesund“ geboren wird, kann krank oder behindert werden. Unsere Sexualität wird sich im Laufe des Lebens verändern, manch ein_e Heter@ hat sich mit über fünfzig nochmal queer verliebt. Späte Coming Outs, asexuelle Phasen, Ausfall aus der Leistungsgesellschaft durch Krankheit – Queer und Dis_ability gehen alle Menschen an, die sich emanzipatorisch mit ihrem Körper und ihrer Lust auseinandersetzen.

Wunder Punkt

In queer-feministischen Praxen und Diskursen ist es essenziell wichtig, neben gender, race, class und desire auch die Kategorie dis_ability („Be_Hinderung“) miteinzubeziehen. Behinderung ist kein persönliches, individuelles Schicksal, genauso wie es das nicht ist, schwul, lesbisch oder bi* zu sein. Mit einer Behinderung zu leben ist vielmehr ebenso wie die Tatsache, queer zu l(i)eben, von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt – aber geht oft auch mit einem großen Selbstermächtigungspotenzial einher.

Genau wie „schwul“ oder „Frau“ mit ganz bestimmten (Rollen-)Bildern verbunden sind, sind auch behinderte Menschen durch vermeintliche Merkmale markiert. Dazu gehören gemeinhin Hilfsbedürftigkeit, Schwäche und Asexualität. Sexualität wird Menschen mit Behinderung meistens abgesprochen, selbstbestimmte Sexualität erst recht. Das reicht von der Vorstellung, behinderte Körper seien nicht sexy, bis hin zu Reproduktionskontrollen oder der Ablehnung von Sexualassistenz oder Sexualbegleitung. Sexualität ist daher für viele behinderte Menschen der wundeste Punkt oder zumindest ein hart zu erkämpfender Bereich ihrer Selbstbestimmung. Auch hier gibt es – wenn auch nicht eins zu eins – Parallelen zu lesBiSchwulen oder trans* Biografien. Die Teilhabe an vielen gesellschaftlichen Komfortzonen wird queeren Sexualitäten erschwert oder verwehrt. Denn die Frage danach, wie Menschen mit Behinderungen an gesellschaftlichen Ressourcen teilhaben, hängt in erster Linie von der Beschaffenheit der Umwelt ab. Der Körper, der in Begehren und Schönheit nicht dem Mainstream entspricht, wird von sexueller Selbstbestimmung entkoppelt. Wer „Makel“ hat, darf Sexualität – wenn überhaupt – nur unter ganz bestimmten Bedingungen genießen. „Sei froh, dass du so einen netten Partner gefunden hast“, hören behinderte Menschen nicht nur oft von anderen, sondern sagen sich das mitunter irgendwann selbst. Persönliche Ansprüche, freie Entscheidung, Sexyness und Reproduktion werden Menschen mit Behinderungen allzu oft abgesprochen. Die gesellschaftliche Ausgrenzung wird noch spürbarer, wenn jemand beispielsweise behindert ist und lesbisch, schwul oder bisexuell lebt. Doppelt ausgeschlossen, doppelt diskriminiert. Zugleich existiert aber auch die Möglichkeit, aus zwei emanzipatorischen Bewegungen Selbstermächtigung und Sinn zu schöpfen.

Verstrickt

Eine Verschmelzung der Gender Studies, Disability Studies und der Queer Studies stellen die Queer Dis_ability Studies dar. Sie diskutieren die Gemeinsamkeiten und Verwobenheiten von Behinderung und LGBTI-Erfahrungen. Gemein ist ihnen, dass sie in der Gesellschaft als „fehlerhaft“, „anders“, „merkwürdig“ markiert und als solche an den Rand gedrängt und ausgeschlossen sind. In das grundsätzlich durchlässige Queer-Konzept lässt sich Dis_ability nicht nur gut einbringen, sondern es gehört auch von Anbeginn dazu, weil Queer gegen Normierungen und (Fremd-)Zuschreibungen aufbegehrt. Queer stellt sich gegen Polarisierungen, also die Auffassung, es gebe beispielsweise nur heterosexuell oder homosexuell, Mann oder Frau und behindert oder nicht-behindert – und nichts dazwischen und darüber hinaus. Queer eröffnet die Möglichkeit und gibt die Wahrscheinlichkeit zu bedenken, dass wir alle (potenziell) auch das Andere und das Dazwischen sind oder es irgendwann in unserem Leben einmal sein werden.

Einverleibt

Außerdem haben Queer und Dis_ability gemein, dass Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen eine große Rolle spielen: So wird einer bi*sexuellen Person oftmals unterstellt, sich nicht entscheiden zu können und eigentlich tatsächlich homo- oder heterosexuell zu sein. „Bisexuell, das gibt es doch nicht wirklich“, höre ich oft. Wer behindert oder nicht-behindert ist, wird ebenfalls oft von anderen festgelegt. Von „Ach Quatsch, du bist doch nicht behindert, du kannst doch alles wie jede_r andere auch“ über „Du bist schön/klug/flink/stark … trotz deiner Behinderung“ bis zu übereifrigen Hilfs-„Angeboten“ gibt es ein großes Spektrum an Vorurteilen und Stigmatisierungen, die mit Beleidigungen, Verletzungen und (Re-)Traumatisierungen einhergehen.

Solche Fremdzuschreibungen werden einverleibt und prägen schließlich das Selbstbild: Viele behinderte Menschen und auch queere Menschen haben die Abneigung der heteronormativen und ableistischen Gesellschaft gegen sie verinnerlicht. Der Besitzer meines Lieblingscafés, der mit dem Juwelier in meinem Grätzl verpartnert ist, kommentierte die gemeinsame Anschaffung eines Welpen mir gegenüber mit den Worten: „Weißt ja, schwulen Männern steht halt ein Hund besser als ein Kind.“ Und meine eigentlich bi*sexuelle Freundin S. begnügt sich bei ihren Dates mit Männern, weil in intimen Situationen mit Frauen eine Art Selbsthass hochkomme, wie sie sagt. In meiner Studienzeit erklärte mir ein Freund das Lesbischsein seiner Schwester mit der Tatsache, dass sie blind ist und deshalb glaubt, „keinen Mann abzukriegen“. Mir würden noch viele weitere Beispiele zu internalisierter Homo-, Bi*-, und Trans*-phobie bzw. internalisierter Behindertenfeindlichkeit einfallen.

Sprache

Auffallend ist, dass sowohl „schwul“ als auch „behindert“ in unserer Gesellschaft von vielen Menschen als Schimpfwörter verwendet werden – also, um etwas oder jemanden zu degradieren und abzuwerten. Gerade der Umgang mit Sprache ist im Bereich Gender und Queer wie auch im Bereich Dis_ability ein wichtiges Anliegen, denn Sprache spiegelt nicht nur Realität, sondern schafft sie zugleich auch. Die behindertenfeindlichen Sprichwörter und Phrasen kennen wir alle („Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock“; „Sag mal, bist du schwerhörig oder was?“). Transportiert wird zudem auch sprachlich eine Passivität von behinderten Menschen. Die Phrase „Sie sitzt im Rollstuhl“ wunderte mich schon als Kind … „Aber meistens fährt sie doch und beim Schlafen liegt sie sicher auch!“, dachte ich mir damals.

Barrierenvielfalt

Aber in der Queer-Fem-Szene ist noch viel zu tun. Bei all den Gemeinsamkeiten: Queer-feministische Plätze sind vorwiegend Plätze für nicht-behinderte Menschen. Regenbogensexualitäten haben eine hippe Szene. Eigene Lokale, eigene Clubs, eigene Styles. Queer sein ist – zumindest innerhalb der Szene – sexy. Es geht ums Flirten, ums „Wer-mit-wem“, es gibt sogar vermehrt queer-feministische Sexpartys. Aber begehrt die „schräge“ Sexualität auch das nicht-Uniforme, das Asymmetrische, das Transgressive? Wer darf dorthin, wer ist gemeint, wer ist begehrt?

Noch immer sind jedoch die meisten Räume nicht rollitauglich. Aber Barrierefreiheit erschöpft sich auch nicht in Rampen und Klos: Dis_ability meint nicht nur Menschen mit Rollis. Neben Gender-Vielfalt, bei der oft nicht-binäre Menschen nicht mitbedacht werden, ist auch die Pluralität an Dis_abilities mitzudenken: Bauliche Barrieren abzubauen, bringt einer gebärdensprechenden Person wenig. Nicht jeder nicht- oder schwerhörenden Person wiederum hilft ein Angebot an Gebärdendolmetsch, und Menschen mit sogenannten kognitiven Behinderungen werden beim Barriereabbau oft ganz vergessen. Queer-feministische Räume sind offen für Trans*menschen. Queere Frauen*räume heißen selbstverständlich auch Frauen* mit Transhintergrund willkommen. Und zu allen queeren Identitäten gehören immer auch queer crips, Menschen mit Behinderung, die lesbisch, bi*, trans*, inter*, non-binär sind.

Queeres Potenzial gemeinsam nutzen

Als Mensch mit Behinderung zu erfahren, dass Trans*menschen ähnlich vulnerabel und exponiert in ihrer Körperlichkeit sind, als lesbische Frau* zu sehen, dass die Sexualität von behinderten Menschen in der Gesellschaft ähnlich ignoriert und ausradiert wird wie die eigene, dass der Zugang zu öffentlichen Toiletten sowohl behinderten Menschen wie auch nicht-binären Menschen meist verunmöglicht wird – die ähnlichen Ausgrenzungserfahrungen in eine gemeinsame Wut kulminieren lassen – und endlich explodieren, das wäre ein guter Anfang für eine wahre crip-queere Revolution.

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge IV/2017.

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