Queere Blickwinkel in der Physiotherapie
Wie ein sensibler Umgang Physiotherapie für non-binäre und trans* Personen besser macht. Von Melissa Nitschke
Non-binäre Personen werden häufig misgendert. Es sind Momente, in denen Personen nicht entsprechend ihrer Geschlechtsidentität wahrgenommen und angesprochen werden. Sei es bei Ärzt*innen, in Bäckereien, auf nahezu jedem Brief, der sie erreicht. Je nach Situation bedarf es meist Mut, dies zu korrigieren oder andere Menschen aufzuklären und zu bitten, die eigene Identität zu respektieren. Oft ist das aber auch angstbesetzt. Angst davor, sich angreifbar zu machen, Diskriminierung, verbale oder physische Angriffe zu erfahren oder auch bestimmte benötigte Leistungen nicht zu erhalten. Ich kenne diese Momente aus meinem eigenen Alltag als nicht-binäre Person.
Es ist leider nicht immer selbstverständlich, die Info non-binär zu sein preiszugeben. Sei es beim Mieten der Wohnung, bei Behörden oder auf Partys. Immer ist das die Überlegung, ob dies nun Nachteile im Umgang oder sogar Gefahren mit sich bringt.
Ich mache derzeit eine Ausbildung in der Physiotherapie. In der Praxis kann ich die beschriebenen unangenehmen Situationen oft umgehen. Da wird ohnehin schnell das unkomplizierte „Du“ genutzt. Aber auch, wenn respektvoll oder aus Gründen der Distanz gesiezt wird, kommt es manchmal zu dem Moment, der mich innerlich zusammenzucken lässt: mit „Frau“ [Nachname] betitelt oder „der junge Mann da vorne“ genannt zu werden – wie das im Krankenhaus öfter passiert. Unpassend empfand ich beide Kategorien schon seit früher Kindheit.
<ohne>
Im Zuge meiner Ausbildung habe ich irgendwann meinen Mut zusammengenommen und nachgefragt, ob bei Gelegenheit ein neuer Dienstausweis für mich gedruckt werden könnte, der auf „Frau“ verzichten würde.
Ich hatte Glück, meine Ausbilderin hat dies sofort zu einer Priorität gemacht. An dieser Stelle möchte ich das Ergebnis der IT-Abteilung nicht vorenthalten, denn nun steht dort <ohne> vor meinem Nachnamen. Ich muss immer etwas schmunzeln, wenn ich es betrachte, aber die Variante funktioniert für mich temporär – sie ist keine gute Lösung, aber sie ist okay. Sie macht mich etwas glücklicher und bietet stets Gesprächsstoff in der Therapie mit Patient*innen.
Trans*-Themen in die Physiotherapie-Ausbildung integrieren
Meiner Ausbilderin und den für das Thema engagierten Dozierenden bin ich sehr dankbar. Dem Dienstausweis folgend wurde ich gefragt, wie Befundbögen oder Präsentationen besser formuliert sein und wo Ansätze in der Physiotherapie liegen könnten, um Behandlungen besser und angenehmer für trans* Personen zu machen. Nicht jede Umgebung ist non-binären Personen gegenüber so offen und bemüht.
Sichtbarkeit und Inklusion fehlen jedoch in den Lehrmedien. Medizinische Verlage könnten und sollten Realitäten jenseits der (ohnehin sehr weißen cis-männlich), maximal aber binär zentrierten Betrachtung, abbilden und Repräsentation schaffen. Warum also nicht einmal bei Mastektomien eine angleichende Operation als Fallbeispiel wählen statt eines Karzinoms. Leider findet sich beim Lesen in der Fachliteratur ersteres maximal als kleine Zusatzinfo am Rande. Ich würde mir auch wünschen, dass Themen wie die Hormonersatztherapie oder Behandlungen nach angleichenden Operationen als solche angeführt und auch ausgeführt werden würden. Es gibt Dinge zu beachten, wenn es um Training oder eventuelle Nebenwirkungen geht oder einfach darum, dass nach einer Mastektomie oder Brustvergrößerung Narbenpflege ein Thema ist. Ich erfahre aus privaten Schilderungen jedoch, dass teilweise nie eine Nachbehandlung stattgefunden hat. Es wäre da zumindest eine Option gewesen, Personen zu vermitteln, wie wichtig die Pflege ist und wie sie sie Zuhause effektiv und angepasst durchführen können.
Offen sprechen können
Ich selbst habe den Beruf gewählt, weil es mir ein Anliegen ist, Menschen dabei zu helfen ihre Situation zu verbessern, ihnen Optionen zu zeigen und ihre Beschwerden zu lindern. Dabei ist es immer der gesamte Mensch, der vor mir steht und nicht nur ein Kreuzband oder ein Schultergelenk. Schmerz ist multifaktoriell und auch die Lebensrealität der Personen wirkt auf den Heilungsprozess ein.
In unserer Therapie haben wir die Option Patient*innen einen sicheren Ort zu geben, an dem sie offen über Probleme, Ängste und Ziele sprechen können. Das alles sind übrigens Parameter einer guten, umfassenden Diagnostik, um eine zielgerichtete Therapie anbieten zu können. Es ist also manchmal einfach nur Smalltalk über die besten Kuchenrezepte, aber wir fragen nach Hobbys oder der häuslichen Situation – oft weniger aus privater Neugierde, jedoch um herauszufinden, welche Tätigkeiten eingeschränkt sind oder wieder besser erlernt werden können.
Was ist aber, wenn die Patient*innen sich nicht trauen, diese Dinge in der Therapie offenzulegen? Oft kennen sie dies schon aus anderen medizinischen Kontexten und letztlich bleibt auch die Frage, ob sie sich überhaupt trauen, sich auf den Weg zu machen bei Beschwerden, oder ob der Gang zur Physiotherapie schon von vorneherein gemieden wird, da dies bedeuten könnte, sich in verletzliche oder bewertende Situationen zu begeben – auch wenn in diesem Fall vielleicht das bereits erwähnte Kreuzband das Problem ist. In der Behandlung ist das viel größere Problem dann aber der nicht übereinstimmende Name, die Anrede, oder das Entkleiden im Behandlungsraum.
Auch wenn dies manchmal die Grenzen unserer fachlichen Kompetenz erreicht, so sind wir oft mehr als nur die Therapeut*innen des Bewegungsapparates. Selbst innerhalb der Ausbildung, in der ich mich noch befinde, habe ich es oft genug erlebt, dass Menschen während der Behandlung aus dem Nichts ihr Innerstes offenbaren oder beginnen zu weinen und einem das Herz ausschütten. Ich finde das nie komisch oder denke, dass mich das nicht interessiert. Vielmehr sehe ich es als Privileg an, dass Menschen entscheiden diese Verletzlichkeit mit mir zu teilen und mich daran teilhaben lassen. Ich sehe es als Chance, ein weiteres Teil des Rätsels der Beschwerden zu vervollständigen.
Sensibel und konsensuell
Generell ist dies ein Plädoyer für einen sensiblen Umgang. Natürlich setzt eine physiotherapeutische Behandlung eine gewisse professionelle Nähe und je nach Behandlungsoptionen auch physischen Kontakt zwischen Therapeut*innen und Patient*innen voraus. Die meisten Menschen sind sich dessen auch bewusst, wenn sie ihre Behandlung antreten. Doch Personen, die Dysphorie erleben, können an gewissen Bereichen des Körpers deutlich mehr Probleme haben, Berührungen oder eine Lenkung des Fokus darauf auszuhalten. Und auch abseits der Thematik erfahre ich immer öfter aus Gesprächen im privaten Umfeld, dass auch aufgrund traumatischer Gewalterfahrungen das Berühren bestimmter Bereiche schnell eine Retraumatisierung auslösen können. Ich hole mir in diesen Bereichen also immer nochmal gesondert Konsens ein oder kommuniziere direkt, dass ich dort jetzt arbeiten wollen würde, um die Arbeit transparent und möglichst wenig angstbehaftet gestalten zu können.
Safer Space
Mir als queere Person ist es ein besonderes Anliegen ein sicherer Ort für queere Menschen in meiner Behandlung zu sein. Zudem habe ich Einblicke in die Lebensrealität und vor allem die Ängste dieser Personen. Aber ich kann nur an alle anderen Kolleg*innen appellieren offen zu sein und Berührungsängste zu verlieren. Erfahrungsgemäß lernen Personen schnell dazu, wenn es um den Gebrauch von Pronomen geht. Es ist auch nicht so kompliziert beim Aufrufen im Wartezimmer eine geschlechtsspezifische Anrede zu vermeiden. In jedem Fall lohnt es sich, weil es Menschen ein besseres Gefühl gibt. Ein Gefühl gesehen und ernstgenommen zu werden. Und manchmal, das kann ich definitiv bestätigen, macht es den gesamten Tag dieser Personen besser.
Ich kann nur von mir und meiner Schule reden und feststellen, dass dort Wert auf eben diesen respektvollen Umgang gelegt, daran gearbeitet und dazugelernt wird, Befunde und Präsentationen umfassender zu machen und darüber aufzuklären, wie wichtig und sensibel der Umgang mit trans* Personen sein sollte und kann.
Wo ließe sich also besser damit anfangen, angehende Therapeut*innen aufmerksam zu machen und zu schulen als in der Ausbildung. Natürlich ist zu hoffen, dass dies auch Praxen und Kliniken außerhalb des Ausbildungsbetriebes zunehmend erreicht. Damit alle Patient*innen gerne zur Therapie kommen und die Hilfe bekommen, die sie benötigen.
Melissa Nitschke, 29, (Pronomen: dey/dem/deren), studierte Musik und arbeitete als Bassist*in. Im Anschluss eine Ausbildung in der Physiotherapie seit 2020. Melissa möchte sich therapeutisch in Zukunft vor allem in der Behandlung von Musiker*innen spezialisieren. Zudem queere Perspektiven in der Physiotherapie etablieren und helfen die Sensibilisierung dafür zu verbessern. Dabei steht interdisziplinäres, ganzheitliches und auch intersektionelles Denken im Vordergrund. Wenn Melissa nicht gerade über Anatomiebüchern sitzt, findet man Melissa auf Konzerten, Bühnen oder mit einem Kaffee in der Hand.