„Sie warten, bis es stirbt“

Strikte Abtreibungsgesetze gefährden das Leben aller Schwangerer – das zeigen Fälle aus Polen und Italien. Fundamentalist*innen schert das wenig. Von Brigitte Theißl

Demonstration, eine Person hält ein Schild mit dem Text "Abortion is healthcare"
Foto: Gayatri Malhotra / Unsplash

Izabela ist im fünften Monat schwanger, als sie im vergangenen September in ein Krankenhaus in Pszczyna eingeliefert wird. Die 30-Jährige hat viel zu früh Fruchtwasser verloren, ihr Zustand verschlechtert sich rapide. „Das Baby wiegt 485 Gramm. Dank des Abtreibungsgesetzes muss ich mich jetzt hinlegen. Und sie können nichts tun. Sie warten, bis es stirbt oder etwas beginnt, und wenn nicht, muss ich eine Sepsis befürchten“, schreibt sie nachts per SMS an ihre Mutter, wie der polnische Sender TVN24 berichtet. „Sie hatte große Angst“, erzählt Mutter Barbara im Interview. Wenig später verstirbt Izabela auf dem Weg in den Operationssaal, wo der lebensrettende Kaiserschnitt hätte stattfinden sollen. Obwohl der Fötus nicht überlebensfähig war, hatten die Ärzt*innen seinen Tod abgewartet. „Es kommt eben vor, dass Frauen bei der Geburt ihres Kindes sterben“, so der zynische Kommentar von Marek Suski von der PiS.

Der Fall Izabela S. löste wütende Proteste im ganzen Land aus. Zehntausende Menschen gingen im November auf die Straße. „Keine Einzige mehr – Marsch für Iza“, so der Leitspruch der Demonstrationen, die sich in über siebzig Orten quer durch Polen formierten. Das Handeln der Ärzt*innen ist direkt auf das polnische Abtreibungsgesetz zurückzuführen, sind Kritiker*innen überzeugt. Erst vor einem Jahr war eines der strengsten Gesetze Europas erneut verschärft worden: So wurde die medizinische Indikation gestrichen, selbst schwer fehlgebildete Föten dürfen nicht länger abgetrieben werden. Entsprechend könnten auch die diensthabenden Ärzt*innen im Fall Izabela S. strafrechtliche Konsequenzen gefürchtet haben.

Fundamentalistische Erfolge

Seit Jahren kämpfen in Polen Pro-Choice-Aktivist*innen für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung – ihr Gegner ist ein äußerst mächtiger. Hinter der rechten PiS-Regierung steht eine finanz- wie vernetzungsstarke Lobby, die ihre katholisch-fundamentalistische Agenda regelmäßig in Gesetzesvorlagen gießt.

Kaum ein anderes Thema demonstriert so eindrücklich, wie fragil feministische Errungenschaften sind. Nicht nur in Polen nehmen Rechte und christliche Fundamentalist*innen gezielt Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren zum Schwangerschaftsabbruch und nutzen ihn – ebenso wie Debatten um die Sterbehilfe oder Sexarbeit – als Vehikel, um ihre LGBTIQ- und frauenfeindliche Agenda voranzutreiben.

Strikte Beschränkungen des Schwangerschaftsabbruchs sowie Versorgungslücken gefährden indes nicht nur das Leben von ungewollt Schwangeren, sondern auch das von allen Schwangeren, bei denen es gesundheitliche Komplikationen gibt. Izabela S. ist kein Einzelfall. 2016 starb Valentina Milluzzo im sizilianischen Catania an einer Blutvergiftung. Die 32-Jährige erlitt eine Fehlgeburt ihrer Zwillinge in der 19. Schwangerschaftswoche, eine lebensrettende Abtreibung verweigerten die diensthabenden Ärzt*innen. „Solange es lebt, werde ich nicht intervenieren“, so die Begründung, berichtete der Anwalt der Familie. Die Ärzt*innen widersprechen der Darstellung, 2019 startete ein Prozess wegen Totschlags. 

Obwohl ein Schwangerschaftsabbruch in Italien bis Ende der zwölften Woche straffrei ist, verweigern im katholisch geprägten Staat eine große Mehrheit der Ärzt*innen aus Gewissensgründen ihre Arbeit. In Sizilien sind es ganze 87 Prozent, Molise im Süden und Trentino-Südtirol stehen mit über neunzig Prozent an der Spitze. 

Hürden und Versorgungslücken

Dass die Möglichkeit des straffreien Abbruchs keine flächendeckende Versorgung sichert, zeigt auch das Beispiel Deutschland. Im katholisch geprägten Süden sei es gerade in Kleinstädten und Dörfern besonders schwierig, eine entsprechende Praxis zu finden, so Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland, im Interview mit „Deutschlandfunk Kultur“. Vielerorts müssen ungewollt Schwangere lange Reisen auf sich nehmen. Seit 2003 ist die Zahl der Praxen und Kliniken, die in Deutschland Abbrüche durchführen, um ganze 46 Prozent gesunken. Ein drastischer Nachwuchsmangel steht bevor, im Medizinstudium wird der Schwangerschaftsabbruch kaum thematisiert. Auch dass radikale Abtreibungsgegner*innen Ärzt*innen wie Kristina Hänel drangsalieren und vor Kliniken demonstrieren, dürfte auf viele Mediziner*innen abschreckend wirken.

Der hürdenreiche Weg zum Schwangerschaftsabbruch birgt indes weitere gesundheitliche Risiken, wie Autorin Sibel Schick auf Instagram und bei „nd Online“ berichtete. Wenige Tage vor der in Deutschland verpflichtenden Konfliktberatung erkrankte Schick an einer Lungenarterienembolie. Da sie im ersten Trimester schwanger war, wollten die Ärzt*innen im Krankenhaus sie wegen der Strahlungsbelastung nicht untersuchen. Dass Schick plante abzutreiben, spielte keine Rolle – sie könne es sich schließen anders überlegen und dann klagen. Er nach vier Tagen fanden die Mediziner*innen eine rechtlich sichere Untersuchungsmethode – die Diagnose beidseitige Lungenarterienembolie wurde gestellt. „Was, wenn ich jetzt sterbe? Und was, dass ich abtreiben werde? Das hat keine Rolle gespielt. Meine Stimme wurde nicht gehört, ich hatte das Gefühl, dass eine Lebensgefahr in Kauf genommen wurde“, schreibt Schick auf Instagram. 

Auf dem Totenbett

Wie (ungewollt) Schwangere zum zynischen Spielball politischer Kräfte werden, demonstrierten zuletzt mehrere US-Bundesstaaten. Seit dem 1. September vergangenen Jahres gilt in Texas das strengste Abtreibungsgesetz der USA. Nicht nur ist ein Abbruch damit ab der 6. Woche („Herzschlaggesetz“) verboten, auch wurde eine Jagd auf Beteiligte an Abtreibungen ausgerufen. Privatpersonen sind dazu angehalten, Verdächtige wie medizinisches Personal, Sozialarbeiter*innen oder sogar Taxifahrer*innen anzuklagen. Bei einer Verurteilung winkt eine Belohnung von 10.000 Dollar. 

„Roe v. Wade liegt auf dem Sterbebett“, schreibt ein Journalist auf „Vox.com“. Es ist jenes Grundsatzurteil des Obersten Gerichts von 1973, das das Recht von ungewollt Schwangeren auf eine Abtreibung schützt. Doch schon im Juni wird ein Urteil erwartet, das Roe v. Wade endgültig aushebeln könnte: Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization. Der Fall dreht sich um ein Gesetz in Mississippi, das den Schwangerschaftsabbruch ab der 15. Woche verbietet und damit Roe v. Wade widerspricht. Während der mündlichen Verhandlung im Dezember signalisierte die konservative Mehrheit des Gerichts deutlich, dass sie das Gesetz beibehalten will, so Beobachter*innen. In diesem Fall wäre Roe v. Wade Geschichte. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Öffentlichkeit vollständig versteht, was auf dem Spiel steht“, so Fatima Goss Graves, Präsidentin und CEO des National Women’s Law Center, im Interview mit der „Huffington Post“.

Bundesstaaten könnten fortan den Schwangerschaftsabbruch selbsttätig ohne jegliche Einschränkungen regeln – ein Albtraum für ungewollt Schwangere in konservativen Staaten. Zwölf Staaten wie Idaho und Ohio haben laut Guttmacher Institut bereits sogenannte trigger laws vorbereitet, die Abtreibung (fast) vollständig verbieten werden, sollte das Grundsatzurteil fallen. Verbote, die besonders Einkommensarme treffen, die weniger mobil sind. 

Am 22. Jänner, dem Jahrestag von Roe v. Wade, halten Pro-Choice-Organisationen traditionell Kundgebungen ab. In diesem Jahr sind sie spannungsgeladen wie kaum jemals zuvor. „Es muss der Beginn sein eines gesellschaftserschütternden Kampfs, um den Angriff auf die Abtreibungsrechte abzuwehren“, macht Aktivistin Sunsara Taylor deutlich, was auf dem Spiel steht.

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge I/2022.

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