Was ich spüre, ist richtig!“

Im Bereich der Sexualität halten sich traditionelle Geschlechterrollen besonders hartnäckig, sagt Veronika Graber. Bettina Enzenhofer sprach mit der Sexualpädagogin über Mädchen-Workshops für eine selbstbewusste Sexualität.

Graffito mit dem Schriftzug "Consent". 2 Personen sprechen miteinander: Eine Person stellt eine Frage, die andere Person sagt "No!", die erste Person sagt "OK".
Artist: Linda Steiner, Foto: Rip Off Crew

Bettina Enzenhofer: Was bedeutet selbstbewusste Sexualität von und für Mädchen und wie kann man sie fördern?

Veronika Graber: Selbstbewusstsein in der Sexualität bedeutet, gemäß den eigenen Vorstellungen und Wünschen und gemäß der eigenen Lust zu leben. Gerade in puncto Sexualität gibt es viele gesellschaftliche Normen, (Moral-) Vorstellungen und mediale Bilder, die Mädchen einschränken und ihre Lebensentwürfe in eine bestimmte Richtung drängen. Ziel ist es – auch in den Workshops des Grazer Frauengesundheitszentrums, dem entgegenzuwirken und die Vielfalt von Sexualitäten von Mädchen und Frauen aufzuzeigen, damit Mädchen einen lustvollen und selbstbestimmten Umgang mit ihrem Körper erlernen können. Wissen ist eine Voraussetzung dafür. Nach wie vor wissen viele Mädchen nicht über die Klitoris, das zentrale Lustorgan von Frauen, Bescheid. Lust und Begehren von Mädchen und Frauen hatte gesellschaftlich lange Zeit einen geringen Stellenwert und diese Bilder halten sich hartnäckig. Daneben spielen auch Fähigkeiten wie die Stärkung des Selbstbewusstseins eine Rolle, um die eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche wahrzunehmen und dafür einzustehen, gemäß dem Motto: was ich spüre, ist richtig, was ich will, ist wichtig!

Welches Setting braucht emanzipatorische Sexualerziehung?

Sexuelle Entwicklung ist nicht losgelöst von der gesamten persönlichen Entwicklung von Mädchen und jungen Frauen. Das heißt, sie findet ohnehin von klein auf und im Elternhaus statt, auch wenn es gerade nicht um das berühmte Aufklärungsgespräch geht. Wie gestalten die Bezugspersonen Beziehung? Welche Namen haben sie für die Geschlechtsorgane? Haben sie überhaupt Namen dafür? Manche Mädchen bringen das Wort „Scheide“ oder „Vagina“ nicht über die Lippen, so ungewohnt und peinlich ist es ihnen. Wie soll ich einen positiven Bezug zu etwas bekommen, das ich nicht mal benennen kann?
In der Schule kann Sexualität in verschiedenen Unterrichtsfächern thematisiert werden. Um intimere Fragen zu besprechen, sind Lehrerinnen nicht immer die richtigen Ansprechpersonen. Wie funktioniert Selbstbefriedigung? Woran erkenne ich, dass ich verliebt bin? Mädchen interessiert, was sie persönlich betrifft. In mädchenspezifischen Workshops können solche Fragen von schulexternen ausgebildeten Sexualpädagoginnen in geschütztem Rahmen besprochen werden. 

Was sind die konkreten Inhalte Ihrer Workshops? Hat sich in den letzten Jahren auch durch veränderte Mediennutzung etwas geändert? 

Die Vielfalt an medialen Bildern und Inhalten zu Sexualität ist heute viel größer und der Zugang dazu leichter. Viele Mädchen kennen bereits im Alter von zwölf Jahren Begriffe und Bilder, die direkt aus Pornos kommen. Dies bringt den Auftrag mit sich, klarzustellen, dass es sich dabei nicht um Dokumentarfilme handelt und Sex nicht ein fixer Ablauf ist, der mit Oralsex anfängt und mit Analsex aufhört. 

Gleichzeitig sind diese Bilder jedoch sehr weit weg von ihrer Lebensrealität. Da beschäftigt sie vielleicht gerade die Frage, ob sie schon einen Tampon benutzen können oder ob die Frauenärztin sehen kann, dass ein Mädchen masturbiert hat. Ein Rezept für passende Inhalte pro Schulstufe gibt es nicht. Mir ist wichtig, die Sexualitäten von Mädchen und Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, da der Blick auf Sexualität gesellschaftlich ein männlicher ist. Das Wort „Penis“ ist bei Begriffsammlungen in Mädchenworkshops meist viel schneller da als „Vagina“, ,,Klitoris“ und ,,Scheide“.

Inwieweit kann in den Workshops auf die Verschiedenheit der Mädchen eingegangen werden – was bedeutet z. B. sexuelle Selbstbestimmung für Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben? Oder für Mädchen, die merken, dass ihr Körper, ihre Geschlechtsidentität oder ihre sexuelle Orientierung nicht dem entspricht, was als „Normalität“ gilt? 

Das Bedürfnis, in die Norm zu passen, beim Sex alles richtig zu machen, ist bei den Mädchen sehr groß. Das zeigen Fragen wie „Ab wann ist es normal, Sex zu haben?“ oder „Wie küsse ich richtig?“. Diese Normalität kann ich erweitern, indem ich Vielfalt sichtbar mache. Die Sprache ist dafür essenziell. „Wenn du dich in eine Person verliebst, das kann ein Bub sein, das kann ein Mädchen sein …“ klingt für manche Mädchen anfangs ungewohnt, doch bald fangen sie selbst an, verschiedene Möglichkeiten nicht nur mitzudenken, sondern zu benennen. Dasselbe gilt für Geschlechterrollen und die Frage, was es heißt, ein Mädchen zu sein.

Beim Thema sexuelle Grenzüberschreitungen geht es um die Stärkung ihrer Wahrnehmung: Wo fängt sexuelle Gewalt an? Manche Mädchen sagen dann: „Naja, aber wenn der das nicht so gemeint hat …“ Doch ob etwas sexuelle Belästigung war, kann immer nur die Betroffene selbst sagen! In unseren Workshops erfahren die Mädchen, dass die Schuld nie bei ihnen liegt und wohin sie sich wenden können, wenn sie Hilfe benötigen.

Auf „everydayfeminism.com“ beschrieb ein Artikel „17 Lügen über Sex, die wir Mädchen nicht länger beibringen sollten“. Darunter finden sich die Aussagen „Sex tut manchmal weh“ oder „wenn man einmal mit Sex begonnen hat, darf man nicht mehr währenddessen ,Stopp‘ sagen“. Begegnen Ihnen solche Annahmen in den Workshops? 

Die Vorstellung, das erste Mal Geschlechtsverkehr müsse weh tun, ist leider weit verbreitet. Mädchen fragen: „Was kann ich tun, wenn es beim zweiten Mal und danach immer noch weh tut?“ Wir sprechen dann darüber, wie sie merken können, dass sie bereit sind für Geschlechtsverkehr. Wenn der Kopf und der Bauch ja sagen, reicht das noch nicht aus. Auch die Erregung oder Lust muss da sein, sonst ist eine Frau nicht bereit, etwas in ihre Scheide aufzunehmen. Das Bespiel zeigt auch, dass penetrativer Geschlechtsverkehr nach wie vor als „der Sex“ wahrgenommen wird. Andere Praktiken wie das Streicheln oder Lecken der Klitoris besitzen nicht den gleichen Stellenwert, auch wenn junge Frauen berichten, dadurch viel häufiger zum Orgasmus zu kommen. Auch die Frage, wer beim Kennenlernen den ersten Schritt oder später einen Heiratsantrag macht, ist bei heterosexuellen Mädchen mit ganz klassischen Erwartungen verbunden. Mediale Bilder haben eine sehr starke Wirkung: Wie oft sehen wir in Filmen Frauen Frauen heiraten oder Männern einen Heiratsantrag machen?

Eine Studie fand kürzlich heraus, dass schon unter Jugendlichen die sexuelle Doppelmoral ausgeprägt ist. In einer anderen Studie gaben mehr als die Hälfte der befragten Mädchen, aber nur ein Viertel der Burschen an, noch nie masturbiert zu haben. Wie lassen sich diese Unterschiede im Umgang mit Sexualität erklären?

Traditionelle Geschlechterrollen zeigen sich in der Sexualität sehr stark, Burschen und Männer werden als die Aktiven dargestellt, die Befriedigung ihrer Lust suchen, Mädchen und Frauen hingegen meist noch als passiv und ertragend. Selbstbefriedigung ist für Mädchen dadurch oft ein tabuisiertes Thema. Und wenn sie es tun, reden sie nicht darüber. Häufig ist damit das Klischee verbunden: „Das machen nur Mädchen, die keinen Freund abkriegen“. So eine Vorstellung schränkt natürlich stark die Erkundung der eigenen Lust und Erregung und ein positives Erleben des Körpers ein.

Viel schauen sich Mädchen auch von medialen und realen Vorbildern ab. Junge Frauen werden stark sexualisiert und gleichzeitig schief angeschaut, wenn sie selbstbewusst ihre Sexualität leben und zum Beispiel sexuelle Erfahrungen mit unterschiedlichen Personen machen. Das ist ein Spannungsfeld, das sie nicht auflösen können.

In Deutschland zeigten die Debatten anlässlich des Bildungsplans, wie groß die Widerstände gegen Sexualpädagogik sind, auch in Österreich ist das anlässlich der Aktualisierung des Grundsatzerlasses „Sexualerziehung an Schulen“ beobachtbar. Wie kann man diesem Widerstand begegnen? 

Der Diskurs über Sexualität ist stark von Werten, Normen und Moralvorstellungen geprägt. Damit verbunden sind oft auch Ängste. Was geschieht, wenn SexualpädagogInnen ohne Beisein von LehrerInnen einen Workshop abhalten? Nach wie vor gibt es Schulklassen, in denen das Thema Sexualität in ein oder zwei Unterrichtsstunden in Biologie abgehandelt wird. Ich kenne auch LehrerInnen, die das Thema nach schlechten Erfahrungen mit Eltern ganz aus dem Unterricht verbannt haben. Unsere Erfahrung ist, dass Informationen über Inhalte und Ziele der Workshops an Elternabenden Sorgen nehmen können. Gerade weil Sexualität nach wie vor ein heißes Thema ist, wäre es hilfreich, wenn Politik und Schulen Stellung beziehen und gleichzeitig Ressourcen für umfassende sexual pädagogische Angebote zur Verfügung stellen würden. Wichtig wäre zudem auch, die Professionalisierung der Berufsgruppe der SexualpädagogInnen – in Österreich eine ungeschützte Berufsbezeichnung. Damit verbunden könnten Kriterien und Prinzipien festgelegt werden, die eine qualitätsvolle und geschlechtergerechte Umsetzung der Angebote garantieren.

Veronika Graber ist Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin und war zum Zeitpunkt des Interviews im Grazer Frauengesundheitszentrum tätig, das Workshops zum Thema sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen zwischen zehn und zwanzig Jahren anbietet. 

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge VIII/2015.

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