Wie die Kritische Medizin Wien das Gesundheitssystem verändern will
Das Gesundheitssystem aufmischen? Dafür setzt sich die „Kritische Medizin Wien“ ein. Seit zwei Jahren arbeitet die Gruppe an der Vision einer guten Gesundheitsversorgung für alle. Interview: Lucia Mair

Das ist die Zusammenfassung von einem Interview. Die Wissenschafterin Lucia Mair hat der Gruppe „Kritische Medizin Wien“ viele Fragen über ihr Tun gestellt.
„Kritische Medizin Wien“ gibt es seit 2022. Die Gruppe besteht vor allem aus Medizin-Studierenden. Sie sind frustriert über das Medizin-Studium. Viele wichtige Themen werden nicht unterrichtet und fehlen in der Forschung. Außerdem behandeln Ärzt*innen Studierende und Patient*innen oft respektlos. Deshalb haben sich die Studierenden zusammengetan. Sie wollen etwas ändern. Sie wollen die Gesundheits-Versorgung gerechter machen.
Rassismus, Sexismus, Klassismus und Behinderten-Feindlichkeit sind auch in der Medizin ein Problem. Die Studierenden erleben, dass zum Beispiel Frauen oder Menschen mit dunkler Hautfarbe von Ärzt*innen schlechter behandelt werden. „Kritische Medizin Wien“ sagt: Alle Menschen haben das Recht auf eine gute gesundheitliche Versorgung.
Die Gruppe trifft sich regelmäßig und lädt Expert*innen ein. Sie veranstaltet Workshops zu Themen wie Antirassismus im Gesundheits-System, Schwangerschafts-Abbruch oder zur gesundheitlichen Versorgung von wohnungslosen Menschen.
Bei Kritische Medizin Wien dürfen alle mitmachen, die das Gesundheits-System gerechter machen wollen. Man muss nicht Medizin studieren. Die Gruppe freut sich über neue Gesichter!
Bettina Enzenhofer hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at
Lucia Mair: Eure Gruppe nennt sich „Kritische Medizin“. Wer steckt hinter diesem Namen?
Kritische Medizin: Wir sind eine aktivistische Gruppe von überwiegend Studierenden und setzen uns für eine möglichst inklusive, solidarische und diskriminierungsarme Gesundheitsversorgung ein. Dafür organisieren wir Workshops und bilden uns miteinander weiter. Besonders wichtig ist uns dabei die kritische Reflexion unserer Rolle als Gesundheitspersonal.
Zurzeit bestehen wir noch hauptsächlich aus Medizinstudierenden, die auf der Medizinischen Universität Wien studieren. Von dieser sind wir aber unabhängig. Unser erstes Treffen fand im Herbst 2022 statt. Wir waren alle etwas frustriert vom Medizinstudium. Davon, dass so viele zentrale Themen im Stundenplan vernachlässigt werden und auch von dem teils so respektlosen Umgang mit Patient*innen und Studierenden durch Vorgesetzte. Wir haben überlegt, welche Themen uns bewegen oder wütend machen und wo wir uns Veränderung wünschen.
Für die Zukunft wünschen wir uns, dass wir eine interdisziplinär arbeitende und noch diversere Gruppe werden – eine Gruppe, die verschiedene Perspektiven und Stimmen beinhaltet. Wir freuen uns also auch explizit über Menschen, die nicht Medizin studieren: über Menschen, die in anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung oder in der Gesundheitsorganisation tätig sind, über Menschen, die mit einer Krankheit leben oder von Diskriminierung betroffen sind und überhaupt über alle, die bei uns mitmachen wollen.
Lucia Mair: Warum braucht es aus eurer Sicht ausgerechnet in der Medizin kritische Stimmen?
Kritische Medizin: Die Medizin, wie sie heute in Mitteleuropa praktiziert wird, benachteiligt ganz klar bestimmte Bevölkerungsgruppen. Kolonialismus, Rassismus, Klassismus, Sexismus und Behindertenfeindlichkeit prägen immer schon die Geschichte der Medizin – dies wird jedoch kaum aufgearbeitet und reflektiert. Diese Phänomene bestimmen mit, über wen und zu welchen Themen geforscht wird. Sie verändern die Art, wie wir über gewisse Gesundheitsthemen denken und welche Behandlungen als wichtig erachtet werden. Und sie bestimmen, wie Gesundheitspersonal täglich mit Patient*innen umgeht.
Wir erleben das in unserem Studium: Im Praktikum müssen wir zusehen, wie die Schmerzen einer rassistisch markierten Frau nicht ernst genommen werden, während der weiße Mann neben ihr eine sehr gute Behandlung bekommt. Im Studium lernen wir kaum darüber, wie sich Hautkrankheiten auf dunkler Haut zeigen. Menstruelle Gesundheit, wie zum Beispiel Endometriose, ist ein bisher von der Forschung weitgehend ignoriertes Thema. Medikamente werden vor allem an Männern getestet und auch die empfohlene Dosis ist häufig an einen Stoffwechsel und ein Gewicht angepasst, die weniger auf Frauen zutreffen.
„Unsere“ Medizin ist vor allem von und für weiße Männer gemacht. Das finden wir unfair. Und so möchten wir uns weiterbilden und das gesellschaftliche Problembewusstsein stärken.
Zusätzlich wird häufig Personen für ihre Erkrankungen Schuld gegeben oder Verantwortung zugeschoben. Hier ist es an der Politik, Entscheidungen zu treffen, die wirklich großflächig gesundheitsfördernd wirken, mit dem Ziel einer besseren Vorsorge. Erst so wird ein gesundes Leben überhaupt erst für die breite Masse möglich.
Lucia Mair: Es gab in den Siebzigern in Wien schonmal eine „Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin“, die sich vor allem mit der Geschichte der NS-Medizin in Österreich befasste. Was habt ihr von eurem Vorgänger*innen gelernt?
Kritische Medizin: Einer der Hauptgründer der damaligen „Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin und Volksgesundheit“, Werner Vogt, war Unfallchirurg und 1979 mitverantwortlich für die Aufklärung der Kindermorde am Spiegelgrund, die zur Rehabilitierung von Friedrich Zawrel und zum Prozess gegen den NS-Arzt Heinrich Gross beitrug.
Die aktivistische Arbeit der Arbeitsgemeinschaft und ihre Kritik an der Ärztekammer sowie des derzeitigen Gesundheitssystems möchten wir weiterführen, weil weiterhin Unrecht passiert. So häufig erleben wir, wie sich ärztliche Personen über andere erheben oder es zumindest eine ausgeprägte Hierarchie mit Patient*innen oder auch Kolleg*innen aus anderen Gesundheitsberufen gibt. Das führt zu fehlendem Bewusstsein, Entmündigung und im schlimmsten Fall zu Gewalt. Menschen brauchen ein Gesundheitssystem, das sich an ihren Bedürfnissen orientiert. Nicht ausschließlich Ärzt*innen, sondern vor allem auch Patient*innen und Zugehörige sollten über ihre gesundheitlichen Belange entscheiden.
Allgemein sollten Strukturen, die Unterversorgung und Gewalt verursachen, reflektiert und verändert werden. Alle Menschen haben das Recht auf gute gesundheitliche Versorgung und es ist in unserer Verantwortung, sie dabei nach unserem besten Vermögen zu begleiten und zu unterstützen.
Lucia Mair: Ihr habt euch einiges vorgenommen, und die Bandbreite an Themen ist riesig. Wie sieht das konkret aus, wie seid ihr strukturiert und was habt ihr seit eurer Gründung umgesetzt?
Kritische Medizin: Unsere Gruppe ist seitdem kräftig gewachsen. Eine Kerngruppe macht auf freiwilliger Basis die Strukturarbeit. Seit diesem Herbst finden unsere Plena am ersten und dritten Dienstag des Monats in Wien im Amerlinghaus statt. Manchmal verbringen wir unsere Treffen mit Organisationsarbeit oder auch mit Teambuilding-Aktivitäten. Meistens laden wir Expert*innen oder Peers ein, die spannende Inputs zu ihrem Fach geben. Immer übernimmt eine andere Person von uns die Moderation des Abends.
Zusätzlich arbeiten wir in Untergruppen, die sich jeweils mit Projekten beschäftigen und Veranstaltungen planen. Bisher haben Workshops zu Narrativer Medizin, Schwangerschaftsabbrüchen, Medizingeschichte von Menschen mit Diskriminierungserfahrung im Josephinum, Geburtshilfe im Fluchtkontext, zur gesundheitlichen Versorgung von wohnungslosen Menschen, zu Antirassismus im Gesundheitssystem und auch zu Machtmissbrauch im Krankenhaus stattgefunden.
Lucia Mair: Ihr seid noch im Studium und habt dadurch eine spezielle Rolle im Gesundheitssystem: Ihr rotiert durch viele Bereiche und habt gleichzeitig noch relativ wenig Verantwortung. Wie beeinflusst das eure Arbeit?
Kritische Medizin: Als Studierende bringen wir zwar im klinischen Alltag weniger Erfahrung mit, aber dafür auch einen offenen Blick für das, was passiert. Diese Rolle gibt uns Raum für Beobachtung und Reflexion. Zum einen auf persönlicher Ebene mit Patient*innen: Häufig fehlt Gesundheitspersonal Zeit oder Motivation, um Patient*innen respektvoll zu behandeln und sie ins Zentrum zu setzen. Eigentlich sollten medizinische Entscheidungen zusammen getroffen werden – Ärzt*in und Patient*in schauen miteinander, was wichtig und möglich ist.
In der Praxis erleben wir aber fast immer, dass Ärzt*innen entscheiden und wenig nach den Anliegen der Patient*innen fragen. Dazu kommt, dass teilweise Verhalten missinterpretiert und Stereotypen zugeschrieben wird. Das passiert besonders häufig bei Menschen, die Diskriminierung erleben und führt zu schlechterer gesundheitlicher Versorgung. Dabei müsste es eigentlich genug Kompetenzen und Ressourcen geben, einen Individuen-zentrierten, respektvollen Umgang zu finden sowie gemeinsame Ziele und Entscheidungen anzustreben.
Teilweise liegt es an mangelndem Bewusstsein oder fehlenden Möglichkeiten, sich fortzubilden. Vieles steckt aber auch im System, in dem wir leben: unzureichende Wohnverhältnisse, Bangen um Entscheidungen vom AMS und in Bezug auf den Aufenthaltsstatus, herausfordernde Arbeitsbedingungen, wenig Wissen um Krankheit und Gesundheit und vor allem Armut. Diese Faktoren beeinflussen körperliche und psychische Gesundheit viel stärker als eigenes Verhalten. Und auch für eine gesunde Ernährung und Bewegung braucht es ja bestimmte Ressourcen.
Das sieht man auch in Wien: Im reichsten Bezirk Döbling liegt die Lebenserwartung durchschnittlich bei 83 Jahren, im ärmsten Bezirk Favoriten bei 75 Jahren. Das sind neun Jahre Unterschied und 45 Minuten mit den Öffis. Und da sprechen wir nur von den Lebensjahren und nicht der Lebensqualität.
Kurz gesagt: Gesellschaftliche Faktoren haben eine immense Auswirkung auf Gesundheit, auf vielen Ebenen. Und so braucht es kritische Stimmen und gemeinsame Tatkraft für große Veränderungen.
Lucia Mair: Medizinstudierende sind nicht gerade für ihre politische Haltung bekannt. Wie sind die Reaktionen auf euch – in der Medizin und außerhalb?
Kritische Medizin: Wir sind häufig verblüfft, wie selten Mitstudierende die gesellschaftspolitische Dimension in der Medizin sehen. Aber selbst, wenn sie zuerst nicht so Lust auf Engagement in dem Bereich haben, wird dann im Gespräch trotzdem häufig deutlich, dass sie unterschwellige Dynamiken wahrnehmen.
Auch wenn es für viele in der Medizin etwas weniger „brennt“ als für uns: Sehr häufig erleben wir positives Feedback, Freude und Dankbarkeit. Menschen drücken aus, wie wichtig sie es finden, was wir tun und dass wir Raum für diese Themen und Perspektiven schaffen.
Lucia Mair: Welche Fragen wollt ihr euch in Zukunft anschauen?
Kritische Medizin: Im Wintersemester haben wir den Schwerpunkt auf antirassistische Arbeit im Kontext des Gesundheitssystems gesetzt. Dabei war es uns wichtig, unsere eigenen Gedanken, Verhalten und unsere Privilegien zu reflektieren und zu erarbeiten, wie wir antirassistisch handeln können.
Im Sommersemester möchten wir uns dann mehr mit Medizingeschichte, unter anderem im Nationalsozialismus und den Auswirkungen und Kontinuitäten davon beschäftigen.
Auch Themen wie Menstruationsgesundheit, Inklusion von behinderten Menschen, Gewichtsdiskriminierung, und die Versorgung von Menschen, die von Armut betroffen sind, Drogen nutzen oder in Haft sind, interessieren uns.
Wir haben auch Lust, uns mehr mit psychiatrischer Versorgung zu beschäftigen. Hier ist die Versorgungssituation mit den stark begrenzten kassenfinanzierten Therapieplätzen in Österreich katastrophal. Gerade psychische Beschwerden führen häufig dazu, dass Menschen weniger handlungsfähig sind und dann zusätzlich soziale, berufliche und körperliche Bereiche leiden. Und auch wenn Menschen grundsätzlich Anrecht auf eine bestimmte Versorgung haben, ist das Gesundheitssystem so zergliedert und kompliziert organisiert, dass es gerade Menschen mit weniger Ressourcen schwerfällt, die Dienste zu erhalten, die wichtig für sie sind.
Lucia Mair: Was sollten Menschen wissen, die euch unterstützen oder bei euch mitmachen wollen?
Kritische Medizin: Wir sind eine liebe Gruppe und offen für alle, die nur mal bei Veranstaltungen oder einzelnen Treffen dabei sein möchten – aber auch für die, die richtig Lust haben dauerhaft mitzuarbeiten.
Dass ein Interesse an gesundheitspolitischen Themen Voraussetzung ist, erklärt sich wohl selbst. Und grundsätzlich erwarten wir einen respektvollen Umgang miteinander. Queerfeindlichkeit, Rassismus, Ableismus, und andere Formen von Gewalt und Diskriminierung tolerieren wir nicht.
Es ist so schön in der Gruppe gemeinsam an Themen zu arbeiten, gerade wenn sie scheinbar so übermächtig sind. Plötzlich geht dann doch viel mehr als gedacht und es ist richtig toll, wenn Menschen von unseren Plena und Veranstaltungen angeregt und berührt und bestärkt nach Hause gehen. Das möchten wir gerne weiter möglich machen und teilen.
Auf Instagram könnt ihr über unsere Plena und Veranstaltungen up-to-date bleiben. Ihr könnt grundsätzlich immer zu uns dazustoßen. Immer wieder organisieren wir auch Willkommens-Plena, da könnt ihr uns besonders gut kennenlernen. Wir freuen uns über alle neuen Gesichter!
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