Wie es sich anfühlt, mit einer Zwangsstörung zu leben
Wiederholtes Überprüfen, ständige Ängste: Mein Kontrollzwang strengt enorm an und schränkt mein Leben ein. Der Weg hinaus ist schwer. Von Franzi

Das ist die Zusammenfassung von einem persönlichen Text von Franzi. Franzi beschreibt darin ihr Leben mit einer Zwangs-Störung.
Eine Zwangs-Störung ist eine psychische Krankheit. Bei einer Zwangs-Störung haben Menschen den inneren Zwang, bestimmte Handlungen oder Gedanken immer wieder zu wiederholen. Man kann diese Zwänge nicht unterdrücken.
Franzi ist besonders stark von einem Kontroll-Zwang betroffen. Sie hat große Angst, dass sie einen Brand verursacht. Sie denkt oft daran, was Schlimmes passieren könnte. Franzi kontrolliert deshalb immer minutenlang, ob alle elektrischen Geräte ausgeschaltet sind. Besonders stark kontrolliert sie den Herd: Sind alle Schalter aus? Das kontrolliert Franzi oft mehrmals hintereinander. Sie macht Kontroll-Gänge durch alle Räume. Sonst kann sie die Wohnung nicht verlassen. Und sie macht Fotos und Videos vom ausgeschalteten Herd. Franzi weiß, dass diese Handlungen übertrieben sind. Aber sie kann mit dem wiederholten Kontrollieren nicht aufhören.
Die Zwangs-Erkrankung belastet Franzi sehr und schränkt ihr Leben ein. Manche Menschen nehmen das nicht ernst. Sie sagen: Hör doch auf damit! Aber Franzi kann nicht einfach aufhören, den Herd zu kontrollieren. Deshalb macht sie jetzt eine Verhaltens-Therapie. Dort lernt sie, ihr Verhalten langsam zu verändern. Sie setzt sich den Situationen aus, vor denen sie Angst hat. Die Therapie ist sehr anstrengend. Aber Franzi hat bereits kleine Fortschritte gemacht. Und sie hofft, dass sie irgendwann ganz ohne Zwangs-Störung leben kann.
Brigitte Theißl hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at
Bevor ich die Wohnung verlasse, mache ich meinen Kontrollgang: Sind alle Lichter aus? Sind die Kippschalter bei den Steckdosenverteilern aus? Der Wasserkocher? Die elektrische Zahnbürste? Und steckt in keiner Steckdose ein Ladegerät? Das Anstrengendste ist aber mein Herdkontrollzwang. Obwohl ich beispielsweise seit Tagen nichts gekocht habe, muss ich kontrollieren, ob alle Herdschalter abgedreht sind. Ich schaue hin, ich sehe, dass sie abgedreht sind, ich entferne mich vom Herd, gehe ins Vorzimmer und ziehe meine Schuhe an, um die Wohnung zu verlassen. Doch dann muss ich wieder zum Herd zurückgehen und nochmal schauen. Und nochmal.
Du kannst nicht anders
Bei einer Zwangserkrankung weißt du: Was dir dein Zwang sagt, ergibt keinen Sinn. Du weißt, was eine vergleichsweise berechtigte Sorge ist (in meinem Beispiel: ich könnte eines Tages vergessen, den Herd abzuschalten) und was übertrieben ist (wenn der Herd seit Tagen aus ist, wird er zum jetzigen Zeitpunkt auch aus sein). Du weißt auch, dass eine einmalige, kurze Kontrollhandlung völlig ausreichen würde. Aber du musst die Handlung trotzdem weit öfter als nur ein Mal ausführen. Immer und immer wieder von vorne. Du kannst nicht anders.
Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung haben zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben eine Zwangsstörung. Darunter fallen Zwangshandlungen wie Kontrollzwänge oder Waschzwänge sowie Zwangsgedanken, wie zum Beispiel, dass man einer anderen Person Schaden zufügen oder sich unangemessen verhalten könnte. Meine Zwangsstörung zeigt sich in der Form vieler verschiedener Zwangshandlungen und -gedanken. Manche davon sind mir so unangenehm, dass ich sie nicht einmal anonym ins Internet schreiben möchte. Mit anderen kann ich offen umgehen. Mein stärkster und einschränkendster Zwang ist mein Kontrollzwang. Er betrifft alles, das potenziell einen Brand verursachen könnte.
Immer und immer wieder
In meiner Wohnung darf es wegen meiner Zwangsstörung kein Bügeleisen geben. Es darf eigentlich auch keine Kerzen und kein Feuerzeug geben – bzw. müssen sie gut versteckt sein. Würde ich diese Gegenstände bei mir zuhause sehen, hätte ich Angst, dass die Kerzen brennen könnten, wenn ich die Wohnung verlasse. Dass sie umfallen und alles in Brand setzen würden. Auch ein kleines Teelicht in einem feuerfesten Glas ist unmöglich. Kürzlich habe ich zufällig bei meinem täglichen Kontrollgang eine Kerze gesehen, die noch in einer unausgepackten Umzugskiste war. Mein Glück: Es war eine wirklich kleine Kerze, die in meine Handtasche passt. Also habe ich sie eingepackt und bis abends mit mir herumgetragen. Nur so konnte ich sicher sein, dass es keine Gefahr gibt. Wie viele Male habe ich bereits mein Handy-Ladekabel aus genau diesem Grund vom Büro mit nachhause genommen? Weil ich Angst hatte, dass ich es in einer Steckdose steckend im Büro vergessen könnte, und als Folge die ganze Firma abbrennen könnte?
Vor vielen Jahren habe ich von einer zwangserkrankten Person den Tipp bekommen, Fotos vom abgeschalteten Herd zu machen, um mich auch später noch vergewissern zu können, dass er wirklich aus ist. Das habe ich lange Zeit gemacht. Aber auch mit diesem Trick ist es nicht ausreichend, einfach ein Foto zu machen und dann die Wohnung zu verlassen. Nein, du machst zehn Fotos, zwanzig, bis du es irgendwann schaffst, trotz deiner Restangst die Wohnung zu verlassen. Eine Zeit lang habe ich beim Verlassen der Wohnung zusätzlich die Sicherung vom Herd rausgenommen, um mir sicherer zu sein. Mittlerweile mache ich Handyvideos, bevor ich die Wohnung verlasse. Ich gehe die ganze Wohnung ab und filme alles, das potenziell gefährlich sein könnte: Steckdosen, Lichter, Ladekabel, elektrische Zahnbürste, Wasserkocher, Wasserhähne, Fenster, und natürlich den Herd. An guten Tagen schaffe ich eine Videoaufnahme in vier Minuten. An schlechten Tagen kann es zehn Minuten dauern. Denn es reicht nicht, meinen Kontrollgang einmal zu machen und auf Video festzuhalten. Die besonders gefährlichen Gegenstände muss ich wieder und wieder filmen – vor allem den Herd.
Übertriebenes Zweifeln
Ich stehe vor dem Herd, schaue ihn an, schaue auf das Handydisplay, wieder auf den Herd, wieder aufs Display, ich zoome in die laufende Videoaufnahme hinein, schaue nochmal ganz genau, zoome hinaus, schaue wieder auf den Herd, wieder auf das Handydisplay, zoome wieder hinein und es hört einfach nicht auf. Denn während ich kontrolliere und glaube, mir halbwegs sicher sein zu können, dass der Herd aus ist – und spätestens, wenn ich gerade die Wohnung verlassen will –, drängt sich immer derselbe Gedanke auf: Aber was, wenn er doch nicht aus ist? Was, wenn ich meinen Augen doch nicht trauen kann? Was ist, wenn der Herd an ist, die Wohnung zu brennen beginnt, der Brand auf die Nachbarwohnungen übergeht und ich am Ende schuld bin, wenn alles abbrennt und meine Nachbar:innen sterben?
Hinter diesen Zwängen steckt eine falsche bzw. übertriebene Bewertung der Situation: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich beim Kontrollieren in meinem Urteil täuschen würde, ist äußerst gering – mir erscheint sie aber sehr hoch, ebenso wie die ausgedachten Konsequenzen, zu denen mein falsches Urteil führen könnte. In der Literatur lese ich, dass Menschen wie ich über ihre Zwangshandlungen Sicherheit zurückbekommen wollen. Das ständige Zweifeln, ob man eine Handlung beim ersten Mal richtig gemacht hat, zeichnet uns Zwangserkrankte ebenso aus.
Es ist nie genug
Ich weiß nicht, wie oft ich kurz nach Verlassen der Wohnung – nach etlichen Kontrollgängen – wieder in meine Wohnung zurückgegangen bin, um mich nochmal neu zu versichern: Dass das Licht ab ist, dass der Ofen ab ist, dass die Haustür zugesperrt ist.
Oft taucht während meines Kontrollzwangs ein weiterer auf: Während ich kontrolliere, beginnt dann ein bestimmter Rhythmus in meinem Kopf, eine immer gleiche Melodie, die ich bis zu einer bestimmten Stelle durchdenken muss, bis ich eine bestimmte Handlung machen kann. Also: Ich kontrolliere, es ist anstrengend, ich bin mit Runde 1 fertig und bereite mich darauf vor, demnächst die Wohnung zu verlassen, plötzlich beginnt die Melodie. Sie unterbricht meinen Kontrollgang. Ich muss sie fertig hören, um „endlich“ mit Kontroll-Runde 2 starten zu können. Auch das ist ein innerer Zwang, den ich nicht unterbinden kann – und der das Kontrollieren noch mehr in die Länge zieht.
Schade um die Lebenszeit
Meine Zwangserkrankung belastet mich und schränkt mich ein. Jedes bevorstehende Verlassen der Wohnung oder des Büros, oder auch jedes Verlassen einer Unterkunft im Urlaub ist mit dem Gedanken verbunden, dass ich je nach Situation bestimmte Dinge kontrollieren muss. Selbst wenn ich bei Freund:innen bin und wir gemeinsam deren Wohnung verlassen, muss ich fragen, ob der Herd fix aus ist. Oder wenn mich Freund:innen darum bitten, dass ich während ihrer Abwesenheit die Katze füttere, die Pflanzen gieße, ist meine Antwort: Ja – aber sie müssen ihr Bügeleisen verstecken, ihre Kerzen, den Wasserkocher. Katzenfutter und Gießkanne am besten weit weg vom Herd stellen. Und ja, es ist schon mal vorgekommen, dass dann in ihrer Abwesenheit mein Blick auf ein Bügeleisen gefallen ist, ich es auf den Boden ins Vorzimmer direkt vor die Haustür gestellt habe, und danach unzählige Fotos davon gemacht habe.
Das ständige Den-Zwang-Mitdenken und -Ausüben ist anstrengend. Und es kostet mich Lebenszeit. Ich muss vorab mitplanen, wie viel Zeit ich einrechnen muss, um trotz meiner Kontrollhandlungen rechtzeitig zu einem Termin zu kommen. Belastend ist auch: im Alltag immer wieder mit meiner psychischen Erkrankung konfrontiert zu sein und mich wieder und wieder daran zu erinnern, dass diese Gedanken und Handlungen nicht „normal“ sind, dass der Großteil der Bevölkerung diese Störung nicht hat. Und dass ich es immer noch nicht geschafft habe, diese Zwangshandlungen und Gedanken zu stoppen.
„Hör einfach auf damit“
Das ist übrigens eine der nervigsten Aussagen, die ich immer wieder von anderen höre: Warum ich diese Handlungen nicht einfach unterlasse? Weil es doch klar sei, dass zum Beispiel der Herd aus ist? No shit, Sherlock! Das Fiese an einer Zwangsstörung ist ja, dass dir die Sinnlosigkeit deiner Zwänge bewusst ist – oder dass ein Kontrollblick reichen würde und fünf wahrscheinlich übertrieben sind. Aber du kannst einfach nicht anders! Ebenso wenig hilfreich ist es, wenn mir jemand sagt, mein Handeln wäre normal und keine Krankheit. Oder es wären nur wenige Minuten und deshalb nicht schlimm. Ich kann nur sagen: Wenn du mit Herzklopfen und Anspannung immer und immer wieder auf die Herdplatte, die Tür, die Steckdose schaust, währenddessen die Arme hinter dem Rücken verschränkst, um bestimmt keine unbeabsichtigte Bewegung zu machen (zum Beispiel den Herd einzuschalten), und wenn du dich einfach nicht aus dieser Zwangsroutine lösen kannst, ist das sicher nicht normal. Einmal wollte mich eine Therapeutin nach dem Erstgespräch nicht als Klientin, weil ihr meine Zwangserkrankung zu ausgeprägt war.
Exposition: Anstrengend, aber hilfreich
Rückblickend erkenne ich, dass ich bereits als Kind manche Zwänge hatte, aber so richtig angefangen – so, dass ich es als Einschränkung in meinem Leben empfinde – hat es mit Anfang 20. Ein klassisches Alter für den Beginn einer Zwangsstörung, sagt meine jetzige Psychotherapeutin.
Bei ihr mache ich seit Kurzem eine Verhaltenstherapie. Bei dieser Therapierichtung geht es darum, sich den Situationen auszusetzen, vor denen man Angst hat. In meinem Fall heißt es: Ich lerne in kleinen Schritten, in bestimmten Situationen nicht mehr zu kontrollieren – und so einfach das für Personen klingen mag, die noch nie eine Zwangsstörung hatten, so schwer ist das für mich. Derzeit bin ich mitten im Prozess, mich solchen Situationen auszusetzen. Zu Beginn eine Situation, die vergleichsweise schaffbar wirkt, danach werden diese Situationen gesteigert. Bis hin dazu, dass ich eines Tages die Herdplatte beim Verlassen der Wohnung nicht mehr kontrollieren darf. In der Therapiesprache heißen solche Situationen „Exposition“.
Ich hätte nicht für möglich gehalten, wie anstrengend dieser Prozess ist – und dabei habe ich erst eine einzige, kleine Exposition hinter mir. Das Anstrengende sind die Emotionen, die durch die Exposition hochkommen können. Denn hinter Zwängen verbergen sich jede Menge Emotionen, darauf hatte mich meine Therapeutin bereits vorbereitet. Wenn man nun in einer bestimmten Situation die jeweiligen Kontrollhandlungen nicht mehr ausführen darf, können all diese Emotionen zum Vorschein kommen. Das kann extrem schmerzhaft sein – in meinem Fall war es schmerzhafter, als ich gedacht hätte. Aber es hat bereits kleine Erfolge gebracht. Ich schaffe es seit dieser ersten Exposition, manchmal kleinere Kontrollhandlungen zu unterlassen.
Vielleicht schaffe ich es
Es ist hart, meinen inneren Kampf in diesem Text verschriftlicht zu sehen. Auch wenn sich all das seit vielen Jahren mehrmals täglich in meinem Kopf abspielt. Meine Krankheit ist unsichtbar. Ich spreche selten darüber. Die Therapie ist teuer. Seit der ersten Exposition ist meine Leistungsfähigkeit eingeschränkt. In der Arbeit mache ich Fehler. Dort weiß niemand von meinem Kampf. Eigentlich sollte man in Expositionsphasen mehrere Wochen Urlaub bekommen, sagt meine Therapeutin.
Nun steht mir die nächste Exposition bevor, diesmal ist die Aufgabe schon ein wenig schwieriger. Ich weiß, dass ich es das letzte Mal geschafft habe – und dass die unbewältigbar scheinende Welle an Emotionen nach ein paar Tagen flacher und aushaltbarer wurde. Ich bin zuversichtlich, dass ich auch die nächste Aufgabe schaffen werde. Und dass ich eines Tages vielleicht wirklich ohne Zwangsstörung leben kann.
Franzi heißt in Wirklichkeit anders und freut sich, wenn ihr Menschen mit psychischen Krankheiten respektvoll behandelt.