Zur Kassa, bitte!
Wahlärzt*innen ohne Kassenvertrag boomen. Das gefährdet die medizinische Versorgung für viele Menschen. Von Brigitte Theißl
„Drei bis sechs Monate auf einen Termin zu warten, das ist eigentlich normal“, sagt Melanie Heckl. Vor sieben Jahren zog die Oberösterreicherin nach Wien und machte sich auf die Suche nach neuen Ärzt*innen. Besonders in der Gynäkologie fiel ihr das schwer: „Man war immer in so einer Bittstellerhaltung: Ach, wir sind eigentlich voll, aber schauen Sie halt mal vorbei.“ Nach nicht zufriedenstellenden Besuchen bei zwei Kassenärzten landete sie schließlich bei einem Privatarzt, der sich viel Zeit für Gespräche nimmt und auch kurzfristig Termine anbietet. „Gerade in der Gynäkologie ist das etwas Intimes, da will ich mich wohlfühlen“, erzählt Heckl Our Bodies.
Wahlärzt*innen-Boom
Das Angebot an Privatordinationen und Wahlärzt*innen ist hierzulande groß – und es wächst seit Jahren. Um ganze 42 Prozent stieg zwischen 2009 und 2019 die Anzahl der Wahlärzt*innen in der Allgemeinmedizin. Bei den Fachärzt*innen sind es 38 Prozent, wie ein Bericht des Rechnungshofs zeigt. Insgesamt arbeiteten 2019 10.000 Wahlärzt*innen in Österreich, rund 3.000 davon in Wien. Die Zahl der Kassenärzt*innen stagniert indes, in der Allgemeinmedizin ist sie sogar gesunken.
Die Vorteile liegen für Patient*innen auf der Hand: So wie Melanie Heckl wollen viele nicht monatelang auf einen Termin für die Muttermalkontrolle oder eine Zahnbehandlung warten; bei Verdachtsdiagnosen wie einem möglichen Tumor ist das lange Warten auf einen Termin kaum zumutbar. Überfüllte Wartezimmer und Hektik im Behandlungszimmer fallen in der Wahlarztpraxis meist weg. Doch Patient*innen müssen dafür auch tief in die Tasche greifen.
Rechnungen von Wahlärzt*innen können zwar bei der Österreichischen Gesundheitskasse eingereicht werden, diese ersetzt achtzig Prozent der Kosten. Als Richtwert werden dabei jedoch die Kassentarife für ärztliche Leistungen herangezogen – Wahlärzt*innen verlangen oft deutlich mehr. Für eine Vorsorgeuntersuchung bei der Hautärztin um 150 Euro gibt es von der Kassa also 41,94 Euro zurück aufs Konto – so ein Beispiel aus dem Jänner dieses Jahres.
300 bis 400 Euro gibt Melanie Heckl jährlich für Ärzt*innenbesuche aus, im vergangenen Jahr ließ sie sich zwei Muttermale entfernen und bezahlte dafür zusätzlich 560 Euro. „Ich verdiene unter 2.000 Euro netto und musste mein Erspartes heranziehen. Ich bin jetzt 38 und ärgere mich schon, dass ich nicht in jungen Jahren eine Privatversicherung abgeschlossen habe“, sagt sie. Auch private Krankenversicherungen boomen in Österreich. Jede dritte Person sei hierzulande zusatzversichert, meldete das Online-Tarifvergleichsportal „Durchblicker“ als Ergebnis einer Befragung im Februar vergangenen Jahres, die Pandemie habe das Geschäft der Versicherungsunternehmen weiter angekurbelt. Und dennoch: 58 Prozent der Befragten gab an, eine Zusatzversicherung sei schlichtweg zu teuer.
Zwei-Klassen-Medizin
Vor den Folgen einer sich verschärfenden Zwei-Klassen-Medizin warnen Expert*innen eindringlich. Österreich ist auch mit einem Nachwuchsproblem konfrontiert, in Fachbereichen wie der Kinder- und Jugendheilkunde, in der Augenheilkunde und in der Psychiatrie herrscht ein Mangel an Kassenärzt*innen. Hausarztpraxen bleiben insbesondere in ländlichen Gebieten unbesetzt – immer größere Versorgungslücken drohen.
Armutsbetroffene beschreiben indes das Gesundheitssystem besonders stark als ein Zwei-Klassen-System, so das Ergebnis eines 2015 veröffentlichten Berichts der Armutskonferenz. Neben mangelndem Respekt und Stigmatisierung sind für Menschen mit niedrigem Einkommen beispielsweise Selbstbehalte oder ein fehlender Kostenersatz bei Heilbehelfen, Brillen, Schuheinlagen, Hörgeräten oder Zahnersatz eine enorme Belastung. In der Gesundheitspolitik müssten soziale Lebensbedingungen viel stärker berücksichtigt werden, betont die Armutskonferenz.
„Nächstes Mal müssen Sie in die Kinderambulanz“
Sarah Zanger* kennt das Problem, eine*n passende*n Kinderärzt*in zu finden. Im 16. Wiener Gemeindebezirk hatte die Familie zwar einen Kassenarzt in der Nähe, doch trotz Termin warteten sie vor Ort meist über eine Stunde. „Gerade mit einem Kind ist das sehr anstrengend“, so Zanger. Nach dem Umzug in einen anderen Bezirk fand sie keine Kassenpraxis, die neue Patient*innen aufnahm. Als ihre Tochter krank wurde, fuhr sie trotz telefonischer Absage in eine Ordination. Dort durften sie nach langer Diskussion mit der Sprechstundenhilfe bleiben – doch Zanger musste versprechen, beim nächsten Mal die Kinderambulanz in einem Krankenhaus aufzusuchen. „Ich finde es total schlimm, dass vielen Kindern und Eltern nur der Gang in eine Ambulanz bleibt. Ich war schon dreimal in der Kinderambulanz im Wilhelminenspital. Dort gibt es wirklich tolle Ärzt*innen, aber man wartet mehrere Stunden – und die verpflichtenden Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen kann man auch nicht in Anspruch nehmen“, sagt sie.
Enorme Wartezeiten für trans Personen
Besonders hürdenreich gestaltet sich indes die Ärzt*innensuche für queere und trans Personen, weiß Julius Jandl. „Im Gesundheitssystem kommt es noch immer häufig zu Diskriminierung“, erzählt er im Gespräch mit Our Bodies. Jandl betreibt das Online-Portal Queermed.at, ein Verzeichnis von queer- und transfreundlichen Ärzt*innen und Therapeut*innen. Wer selbst gute Erfahrungen mit sensiblen Mediziner*innen gemacht hat, kann diese mittels Formular auf der Website einreichen. Rund zwei Drittel der Ärzt*innen, die auf Queermed.at gelistet sind, haben eine Kassenvertrag, so Jandl, der Anteil unterscheide sich jedoch je nach Fachrichtung deutlich. In der Psychiatrie etwa finden sich besonders viele Wahlärzt*innen. Und auch, wenn in der Gynäkologie hauptsächlich Kassenärzt*innen gelistet sind – Jandl kennt die Berichte von langen Wartezeiten auf einen Termin. Sind Ärzt*innen als sensibel bekannt, würden sich dort noch mehr Menschen melden. Besonders schwierig sei die Versorgungslage für trans Personen, die vor der Transition stehen. „Wenn man da nicht das Budget hat, Termine privat zu machen, wartet man wirklich lange, also Monate auf Erstgespräche, und im Falle einer Operation noch mal Monate auf den OP-Termin“, sagt Jandl. Gerade bei Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichenden Operationen würde sich alles auf wenige Stellen konzentrieren, „hier braucht es eine massive Aufstockung von Kapazitäten.“
Gynäkologinnen mit Kassenvertrag: 13 Prozent
Auch in der Gynäkologie bleiben Kassenstellen unbesetzt, zusätzlich fehlt es speziell an Ärztinnen. Viele Patient*innen würden lieber Gynäkologinnen statt ihrer männlichen Kollegen aufsuchen, so Andreas Huss, Vizeobmann der Österreichischen Gesundheitskasse, gegenüber der „Wiener Zeitung“ – und deshalb auf Wahlärztinnen ausweichen.
Nur ein Drittel der niedergelassenen Gynäkolog*innen in Österreich haben einen Kassenvertrag, zwei Drittel praktizieren als Wahlärzt*innen, so der Städtebund-Gleichstellungsindex 2021. Gynäkologinnen mit Kassenvertrag stellen nur 13 Prozent aller niedergelassenen Gynäkolog*innen.
Andreas Huss ist es auch, der Anfang April mit einem Vorstoß zum Wahlarztsystem die Gemüter in der Ärztekammer erhitzte. Im Gespräch mit den „Oberösterreichischen Nachrichten“ forderte er, Wahlärzt*innen nach deutschem Vorbild gänzlich abzuschaffen. Wenn Ärzt*innen privat ordinieren wollen, sollten sie auch keine Zahlungen aus dem öffentlichen Gesundheitssystem mehr beziehen, so Huss. Die Ärztekammer, die seit Jahren auf einen Nachwuchsmangel und die baldige Pensionierungswelle aufmerksam macht, stellt sich strikt gegen diesen Vorschlag – gerade junge Ärzt*innen würden das Kassensystem als veraltet ablehnen, Reformen seien daher dringend nötig.
Wahlärzt*innen, die im Durchschnitt weniger verdienen als ihre Kolleg*innen mit Kassenvertrag und vielfach nur wenige Stunden als Wahlärzt*in praktizieren, haben wesentlich mehr Gestaltungsfreiheit: Sie können ihre Öffnungszeiten frei wählen, sind nicht verpflichtet, Bereitschaftsdienste durchzuführen und können auch ihre angebotenen Leistungen und Honorare selbst festlegen.
Zum Wahlärzt*innen-Boom äußerte sich zuletzt auch Gesundheitsminister Rauch: Sie würden zunehmend medizinische Basisversorgung übernehmen, das Kassensystem müsse attraktiver gestaltet werden, sagt er dem „Standard“. Auf lange Sicht wird es damit nicht getan sein. „Wir zahlen alle Sozialversicherungsbeiträge – und wir haben schon ein Zweiklassensystem“, sagt Melanie Heckl.
* Name von der Redaktion geändert