46,XX/46,XY

Was eine Frau zur Frau macht, ist auch in sportlichen Wettbewerben nicht leicht zu beantworten. Versucht wird es trotzdem. Von Bettina Enzenhofer

Kunst von Alex Jürgen*: DNA-Stränge mit vielen Punkten in Regenbogenfarben
© Alex Jürgen*

Caster Semenya 2009(1). Santhi Soundarajan 2006(2). Maria José Martínez-Patiño 1988(3): Sie alle fielen beim Geschlechtstest durch. Semenya, Soundarajan, Martínez-Patiño und etliche andere konnten nicht beweisen, dass sie Frauen sind. Mediziner_innen sprachen ihnen ihre weibliche Identität ab und schlossen sie von sportlichen Wettbewerben aus. Bis heute ist die Praxis der Geschlechtstests aktuell. 

Die verbreitete Meinung lautet: Das biologische Geschlecht ist klar erkennbar. Bei sportlichen Wettbewerben müssen Frauen und Männer getrennt werden, weil sie unterschiedliche Leistungen erbringen und Männer den Frauen gegenüber einen Vorteil haben. Es muss deshalb darauf geachtet werden, dass sich in die Gruppe der Frauen keine Männer schummeln. 

Die weniger verbreitete Meinung besagt: Das biologische Geschlecht ist nicht klar erkennbar. Frauen und Männer können gleiche Leistungen bringen. Und über „weiblich“ und „männlich“ hinaus gibt es noch viele andere Variationen von Geschlecht.

Komplexität von Geschlecht

Biolog_innen und Mediziner_innen wissen heute, dass die Sache mit „Frau = XX = weibliche (innere und äußere) Genitalien = Östrogene“ (bzw. „Mann = XY = männliche Genitalien = Androgene“) so einfach nicht ist. Stattdessen gilt: Komplexität allerorten. Geschlecht ist heute keine simple biologische Tatsache mehr, die schnell bestimmt werden kann. Die Biologie ist inzwischen auf derart viele für die Geschlechtsentwicklung relevante Faktoren gestoßen, dass sie mit dieser Komplexität selbst kaum mehr zurechtkommt. Die Biolog_in Heinz-Jür­gen Voß präzisiert: „Die Biologie weiß nicht, was Geschlecht ist und wie es ausgebildet wird.“(4) Geschlecht in ein binäres Mann/Frau-Schema einordnen zu wollen, widerspricht mittlerweile den eigenen biologischen Erkenntnissen: Für die Entstehung von Geschlecht spielen viele Einflüsse zusammen, der derzeitige Wissensstand kennt genetische, anatomische, hormonelle, psychische und soziale Faktoren. Falls nicht alle Faktoren in die gleiche Richtung weisen, kann niemand klare und sichere objektive Kriterien für eine geschlechtliche Zuordnung geben. In einem solchen Fall kann höchstens nach langen Untersuchungen – die nicht selten unter pathologisierenden Vorzeichen stattfinden – danach geforscht werden, welches Geschlecht überwiegt. 

Manche Menschen werden mit einem Körper geboren, der eine Zuordnung zu weiblich oder männlich unmöglich macht.(5) Ihnen wird eine „Störung der Geschlechtsentwicklung“ (DSD, engl. disorder of sex development) diagnostiziert.(6) Diese kann sich auf verschiedenste Arten bemerkbar machen: Menschen mit XY-Chromosomen können bspw. äußerlich weiblich sein, als Mädchen aufwachsen und erst bei Ausbleiben der Menstruation mit ihrem „untypischen“ Karyotyp(7) konfrontiert werden. DSD, so die Lehrmedizin, kann sich aber auch durch XX-Chromosomen mit männlichen Genitalien äußern. Die jeweilige Geschlechtszuweisung hängt immer von der genauen Diagnose ab. Die Geschlechtschromosomen können zudem in „untypischer“ Zahl vorliegen: 45,X (Turner-Syndrom), 47,XXY (Klinefelter-Syndrom), 45,X/46,XY oder 46,XX/46,XY.

Deutlich wird: Die Geschlechtschromosomen und die Genitalien sagen nicht viel über das individuelle Geschlecht aus. Genau das war aber zu Beginn der Geschlechtstests bei sportlichen Wettbewerben noch unbekannt. Doch obwohl man heute davon weiß, werden derartige Tests immer noch durchgeführt. 

Geschichte der Geschlechtstests

Die Angst, dass sich Männer ins Team der Frauen schummeln und durch einen biologischen Vorteil unerkannt gewinnen könnten, geht auf die Zeit des Kalten Krieges zurück. Einen bewiesenen Vorfall, der solche Ängste und Behauptungen rechtfertigen würde, gab es zwar nicht. Trotzdem wurden 1966 erstmals offiziell Geschlechtstests für Frauen eingeführt: Bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Budapest mussten sich Frauen nackt einem Gremium aus Ärztinnen präsentieren. Körper und Genitalien wurden inspiziert. Das Vorhandensein von Brüsten und Vagina bedeutete: Es ist eine Frau. Nach vielfachen Beschwerden über diese entwürdigende Methode ordnete das Internationale Olympische Komitee (IOC) eine neue Technik an, den Barr-Test. Für diesen wurde ein Abstrich von der Wangeninnenseite genommen, gesucht wurde nach dem inaktiven X-Chromatin.(8) Wurde es von den Mediziner_innen gefunden, gaben sie das O.K. für die Teilnahme in der weiblichen Gruppe. 

Der Barr-Test wurde erstmals bei den Olympischen Winterspielen 1968 in Grenoble und bei den Olympischen Sommerspielen 1968 in Mexiko-Stadt durchgeführt. Auch andere Verbände (z.B. die International Association of Athletics Federations, IAAF) übernahmen den Test. Die Krux daran: Er besagt einerseits, dass Frauen mit XY­-Karyotyp – auch wenn sie eine Androgeninsensitivität haben (bei dieser DSD-Form können die als leistungssteigernd erachteten Androgene nicht oder nur vermindert wirken) –, Männer sind, andererseits hätte der Test Männer mit bspw. XXY-Karyotyp oder dem Klinefelter-Syndrom in der Frauengruppe starten lassen. 

Mitte der 1970er machten Mediziner_innen zwar darauf aufmerksam, dass der Test technisch unzuverlässig ist, Konsequenzen hatte das aber vorerst nicht. Erst 1992 bei den Olympischen Winterspielen in Albertville wurde ein neuer Geschlechtstest eingesetzt: Mittels einer DNA-Analyse sollte Y-chromosomales Material (speziell das SRY-Gen) entdeckt werden. Dies bedeutete einen Wechsel der Perspektive: Ging es bis 1992 darum, weibliche körperliche Faktoren nachzuweisen, so war der Fokus von 1992 an, männliche körperliche Faktoren ausschließen zu können. Doch auch die DNA-Analyse ist für eine Geschlechtsbestimmung letztlich ungenügend.

Im Zweifel dagegen

In der IAAF wird seit 1992 eine allgemeine Geschlechtsüberprüfung nicht mehr verwendet. Ein genereller Gesundheits-Check wird bei allen TeiInehmer_innen empfohlen, aber nicht vorgeschrieben. Man geht davon aus, dass ein sich unter die Teilnehmerinnen schummelnder Mann bei der Urinprobe entlarvt werden würde. Die IAAF behält sich allerdings vor, in „Zweifelsfällen“ doch geschlechtsprüfende Tests durchzuführen. 

Beim IOC wurden zum letzten Mal alle 3.387 Teilnehmerinnen der Olympischen Sommerspiele 1996 in Atlanta überprüft. Acht Teilnehmerinnen wurden zwar positiv getestet, durften aber trotzdem antreten (sieben der acht hatten eine partielle oder komplette Androgeninsensivität). Seit 1999 verzichtet das IOC auf Geschlechtstests, d.h. die Olympischen Sommerspiele 2000 in Sydney und die Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City fanden erstmals ohne Geschlechtsüberprüfung statt. Wie bei der IAAF wird nun „nur“ mehr in „Zweifelsfällen“ getestet. Was als „zweifelhaft“ zu bewerten ist, ist dabei nicht ganz klar – ein „Verdacht“ reicht, um Teilnehmerinnen öffentlich bloßzustellen (siehe etwa den Fall Caster Semenya). 

Für die Medizinethikerin Claudia Wiesemann ist die IAAF-Richtlinie „wolkig, enthält lauter schwammige Wörter“.(9) Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org spricht von neuen Ungerechtigkeiten (Tests hinter verschlossenen Türen, keine Kontrolle), auch die Denunziation durch andere Teilnehmerinnen werde so gefördert.

Transgender-Teilnahme

Immerhin zeigt sich an den heutigen Methoden der Geschlechtsfeststellung ein Umdenken: Mittlerweile braucht es ein breites Gremium aus Gynäkolog_innen, Endokrinolog_innen, Psycholog_innen, Inneren Mediziner_innen und Gender/Transgender-Expert_innen für eine Geschlechtsüberprüfung. Eine weitere Neuigkeit ist die Erlaubnis für trans Menschen, an den Olympischen Spielen teilzunehmen – wenn auch nur unter bestimmten diskriminierenden Auflagen: So muss etwa eine Gonadektomie(10) zwei Jahre vor der Teilnahme stattgefunden haben. Das IOC hat im Oktober 2003 eine diesbezügliche Richtlinie herausgegeben, der sich auch die IAAF anschloss. 

Kurz nach Redaktionsschluss fand Mitte Januar in Miami das IOC-Symposium „2nd World Conference on Hormonal and Genetic Basis of Sexual Differentiation Disorders“ statt. Die bisher veröffentlichten Ergebnisse sind empörend: Es sollen Gesundheitszentren eingerichtet werden, in denen DSD diagnostiziert und Athlet_innen behandelt werden sollen. Denn, so der Chefmediziner Arne Ljungqvist, Menschen mit DSD brauchen in den meisten Fällen eine Behandlung (Operationen, Hormontherapie) – eine glatte Lüge. Außerdem wird Athletinnen ein Gesundheitscheck vor den Olympischen Spielen nahegelegt: DSD könne so im Vorhinein identifiziert werden.

Fußnoten:
(1) Caster Semenya gewann bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2009 in Berlin die Goldmedaille im 800-Meter-Lauf. Zweifel an ihrer Weiblichkeit aufgrund des guten Ergebnisses und ihrer maskulinen äußeren Erscheinung führten zur Anordnung eines „gender verification test“.
(2) Santhi Soundarajan gewann bei den Asienspielen 2006 in Doha die Silbermedaille für den 800-Meter­-Lauf. Nach einem Geschlechtstest musste sie die Medaille wieder abgeben, weil sie „männliche“ Chromosomen hat. Soundarajan versuchte daraufhin, sich das Leben zu nehmen.
(3) Maria José Martínez-Patiño durfte bei den Olympischen Spielen 1988 nicht starten, als bekannt wurde, dass sie XY-Chromosomen hat. Sie wurde außerdem vom spanischen Team ausgeschlossen, bereits errungene Titel wurden ihr entzogen. Martínez-Patiño wehrte sich gegen den IOC­-Beschluss, zweieinhalb Jahre später wurde sie von der IAAF wieder eingesetzt.
(4) Heinz-Jürgen Voß: „Caster Semenya: wie aus einem Menschen ein „Fall“ wird“
(5) In der Literatur gibt es unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von DSD, die höchste Zahl findet sich bei Blackless et al. mit 1.728% der Lebendgeburten: andere Autor_innen sprechen von einer DSD-betroffenen Person pro 3.000 (Melton) oder 4.500 (Hughes et al.) Geburten. 
(6) Im April 2006 wurde das „Consensus statement on management of intersex disorders“ veröffentlicht, das eine neue Definition und Klassifikation für intersexuelle Menschen vorsieht. Seitdem spricht man/frau von „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ (bzw. engl. DSD, Diseases of Sexual Development). 
(7) Aus dem Karyotyp wird u.a. ersichtlich, wie viele Chromosomen ein Mensch in einer Körperzelle besitzt (meistens 46) und welcher Art die Geschlechtschromosomen sind: 46,XX bedeutet, dass 46 Chromosomen vorhanden sind, die Geschlechtschromosomen sind XX. 45,X bedeutet 45 Chromosomen, ein X-Chromosom, ein zweites Geschlechtschromosom fehlt. 47,XXY = 47 Chromosomen, ein Geschlechtschromosom ist zu viel vorhanden. 46,XX/46,XY ist ein Chromosomenmosaik, bei dem manche Zellen XX, manche XY als Geschlechtschromosomen aufweisen. 
(8) Bei Vorliegen von zwei X-Chromosomen ist eines weitgehend inaktiv und als sogenannter Barr-Körper nachweisbar. Bei Vorliegen von einem X- und einem Y-Chromosom gibt es kein inaktives X-Chromosom und demzufolge keinen Barr-Körper. 
(9) Claudia Wiesemann, Presseinformation: „„Sportethik tut Not!“ Medizinethikerin der Universitätsmedizin Göttingen nimmt Stellung“
(10) Gonadektomie = Entfernung der Gonaden (Keimdrüsen), also Hoden bzw. Eierstöcke

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge Februar 2010.
Für Our Bodies wurde der Begriff „transsexuell“ zu „trans“ geändert (März 2022).

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