L(i)ebensformen lernen

Ein engagiertes Projekt vermittelt Jugendlichen die Welt der Liebe abseits von Heterosexualität. Von Bettina Enzenhofer

Kunst von Alex Jürgen*: Webtechnik aus Papierstreifen mit dem Wort "Rainbow" auf einem regenbogenfarbenen Hintergrund
© Alex Jürgen*

„Als Jugendliche lebte ich heterosexuell. Wenn ich mir vorstelle, dass ich an so einem Projekt teilgenommen hätte, hätte ich vielleicht früher kapiert, dass ich eigentlich lesbisch bin“, sagt Christina, die ihr Coming-out erst als Erwachsene hatte. Alexas Coming-out hingegen war viel früher, mit positiven Reaktionen und Unterstützung im Freund_innenkreis. Solch ein erfreuliches Erlebnis ist aber weiterhin eher die Ausnahme als die Regel, und genau dies motivierte die beiden, mit anderen „anders L(i)ebenden“ ein Projekt zu starten. 

Liebeist

Seit 2007 existiert liebeist.org, die Projektmitarbeiter_innen (davon fünf bis zehn im Kernteam und an die 50 bisher Beteiligte, alle ehrenamtlich) können mittlerweile einiges vorweisen: Rund 15 Workshops, Homepage, Infomappe, Broschüre, Plakate, eine DVD mit Kurzfilmen und etliche Interessierte. Projektgründerin Janine Zettl und Mitgründer Patrick Antal, damals erst 17 bzw. 20 Jahre alt, wollten den Status Quo nicht mehr hinnehmen. Patrick: „Wir dachten: Es muss endlich was passieren, vor allem auf schulischer Ebene. Nicht mal Lehrer_innen wussten, an wen sie sich wenden könnten, falls sie Interesse an Workshops hätten. Also haben wir gesagt: Wir machen das selbst.“ Die Finanzierung übernahmen die Rosa Lila Pantherlnnen, eine schwul­lesbische Arbeitsgemeinschaft aus der Steiermark, mit öffentlichen Geldern und aus Einnahmen des jährlich stattfindenden „Tuntenballs“. Vorerst war nur eine Infomappe in Planung, daraus wurde dann immer mehr – inzwischen sind Workshops für Jugendliche das Herzstück des Projekts. 

Aufklärungsarbeit

In Schulen ist Sexualerziehung zwar Inhalt des Lehrplans, doch L(i)ebensformen abseits der Heterosexualität werden oft nur als Rand­ bzw. Sonderthemen bearbeitet. Petra Tinkhauser, selbst Lehrerin in einer Hauptschule, sagt dazu: „In der Regel wird Heterosexualität als Norm und Homosexualität bestenfalls additiv behandelt. Homosexualität als ,das Andere‘ oder ,das Besondere‘ bestätigt allerdings nur das heteronormative Denken. Wünschenswert wäre meiner Meinung nach, die Vielfalt als Ausgangspunkt zu nehmen und die Vielfältigkeiten homosexueller und heterosexueller Lebensformen und alles, was ,dazwischen‘ ist, zu thematisieren. Aber wenn ich die derzeitige schulische Situation betrachte, scheint mir das als reine Utopie.“ Von liebeist.org ist Petra begeistert: „Mit dem Projekt wird endlich eine Lücke gefüllt und ein weiterer Schritt gesetzt, um Diskriminierungen und Homophobie einen Riegel vorzuschieben. Es sollte eine Pflichtveranstaltung an jeder Schule sein!“

Deklariertes Ziel von liebeist.org ist es, die Vielfalt von Sexualitäten zu thematisieren und damit vor allem Jugendliche, aber auch Eltern, Lehrer_innen und Multiplikator_innen für alternative L(i)ebensformen zu sensibilisieren. Einerseits soll Jugendlichen vermittelt werden, dass bestimmte Bezeichnungen diskriminieren und verletzen, andererseits sollen Jugendliche, die homo-/bisexuell leben oder trans sind, gestärkt werden.

Talkshow-Workshops

Derzeit finden die Workshops nur in der Steiermark statt – und längst nicht jede Schule hat Interesse. Doch 15 Mal hat es bisher geklappt, und das mit großer Begeisterung seitens der jugendlichen Teilnehmer innen. Die Workshops selbst finden in Form von Talkshows statt: Vier bis fünf junge, anders l(i)ebende Projektmitarbeiter_innen sind Talkshow­-Gäste und erzählen aus ihren eigenen Leben. Unterschiedliche Selbstdefinitionen, Geschlechtsidentitäten und Vorlieben sind dabei wichtig, um nicht ein Klischeebild („die Homosexuellen“) zu vermitteln. Wie in anderen Talkshow-Formaten gibt es eine Person, die moderiert, die Gäste vorstellt und die Jugendlichen motiviert, sich in die Diskussion einzubringen. Großer Wert wird auf Fragen der Jugendlichen gelegt, ein paar thematische Fixpunkte gibt es aber in jedem Workshop: Coming-out, die (Nicht-)Veränderbarkeit der sexuellen Orientierung, gleichgeschlechtliche Paare und Kinder, Vorurteile und Diskriminierung, ein historischer und globaler Blick auf die Thematik sowie Sexualität. Zwischendurch gibt’s Filmszenen und Musik, zum Abschluss einen Feedbackbogen. In Schulen dauert der Workshop zwei Schulstunden, in Jugendzentren mindestens eineinhalb Stunden.

Vorurteile?

„Natürlich stößt man bei den Jugendlichen auf Vorurteile, sonst wären unsere Workshops auch nicht notwendig. Von Lehrer_innenseite haben wir bis jetzt nichts Negatives gespürt. Oft merkt man bei den Workshops, dass Scheu da ist, offen über die eigenen Vorurteile in unserer Anwesenheit zu sprechen. Hier gilt es, für diese Vorurteile Verständnis aufzubringen (insofern als dass die Jugendlichen oft nichts dafür können – Sozialisation und Erziehung in einer heteronormativen Gesellschaft, Unsicherheiten etc.) und sie mit Fingerspitzengefühl herauszukitzeln, um sie einer Thematisierung und Aufarbeitung zugänglich zu machen“, sagt das Team von liebeist.org. Mitunter müssen die Mitarbeiter_innen aber gar nicht viel herauskitzeln – manchmal äußern sich Jugendliche mit Selbstverständlichkeit homophob. Wie etwa bei einem Vorfall in einem Jugendzentrum, in dem eine liebeist-Mitarbeiterin arbeitete. „Ein ,Leitwolf‘ im Rudel stachelte die anderen derart auf, dass die ganze Diskussion in einer massiv schwulenfeindlichen Aussage gipfelte. Diese Eskalation führte aber dazu, dass alle (zuvor mitwetternden) Kids tatsächlich sehr erschrocken und entsetzt waren. Der Auslöser dieser homophoben Entgleisung kam daraufhin zur Mitarbeiterin, distanzierte sich von der Aussage des Mädchens und sagte reumütig: ‚Ein bisschen gay ist auch okay.‘“

Ungeklärt ist, wie es mit Vorurteilen seitens öffentlicher Institutionen, die Gelder Bereitstellen könnten, aussieht. „Es bleibt der Interpretation überlassen, ob die Schwierigkeit, Aufträge, Werbemöglichkeiten, finanzielle Unterstützung etc. zu bekommen, an Intoleranz oder mangelndem Bewusstsein über die Bedeutung der Thematik liegt“, so das Team.

Eine gute Ausgangsbasis

Petra erzählt, dass „schwul“ bzw. „gay“ immer noch als Schimpfworte verwendet werden. Seit neun Jahren ist sie Lehrerin, ein Coming-out an der Schule hat sie jedoch noch nie erlebt. Im Gegensatz zu den Burschen spielen die Mädchen mit homosexuellen Zuschreibungen: „,Lesbisch sein‘ wird von den Schüler_innen weniger ausgrenzend verwendet, und Schülerinnen bestätigen oftmals selbstbewusst den ,Verdacht‘ und gehen dann demonstrativ händchenhaltend aufs WC. Ob dabei von einer lesbischen Zuneigung im romantischen Sinne ausgegangen werden kann, bleibt aber offen.“ Wenn man so will, eine gute Ausgangsbasis für Aufklärungsarbeit. 

Die Projektmitarbeiter_innen leisten hierfür einiges: Die Jugendlichen ernst nehmen, mit ihnen diskutieren, Vorurteile thematisieren und ihnen vermitteln, dass sie mit ihren Sexualitäten alle individuell und besonders und damit ganz normal sind. Geoutet hat sich zwar bisher von den Teilnehmer_innen während eines Workshops noch niemand, aber das ist auch nicht das Ziel. „Insgesamt ist Österreich ausgesprochen homophob – da bräuchte es mehr als ein paar Workshops“, sagt Alexa. Bei ihr haben die richtigen Probleme erst im Erwachsenen- bzw. Berufsleben begonnen. Aber: „Ein Projekt, in dem Jugendliche über ihre sexuelle Identität reden können, ist gut, richtig und wichtig.“ Und wenn liebeist.org schon vor zehn Jahren existiert hätte, hätte Christina eventuell ein Aha-Erlebnis gehabt. Aber auch falls nicht: „Ich bin davon überzeugt, dass Verwirrungen, Probleme mit der ,Geschlechtsidentität‘ usw. seltener vorkommen würden, wenn den Kids neben der Heterosexualität auch noch andere ,natürliche Wahrheiten‘ präsentiert würden.“

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge April 2009.
Für Our Bodies wurde er im März 2022 geringfügig überarbeitet (einzelne Begriffe wurden angepasst und homofeindliche Aussagen entfernt).

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