Es geht viel Individualität verloren“

Die Psychologin Anelis Kaiser weiß, warum wir Hirnbilder kritisch betrachten sollten. Bettina Enzenhofer ließ sich die dahinterstehende Technik der funktionellen Magnetresonanztomografie erklären.

Graffito eines roten Hirns mit Beinen und Armen und einer orangen Figur, die im Gehirn sitzt und zwei Schalthebel bedient. Das rote Hirn hat an den Armen pinke Hände, eine Hand ist zur Faust geballt, die andere hält einen Hammer.
Foto: Tom Hilton/Flickr – Brain, CC BY 2.0

Eine zentrale Methode der Hirnforschung ist das „functional Magnetic Resonance Imaging“ (fMRI). Studienteilnehmer_innen liegen im Scanner und müssen verschiedene Aufgaben lösen – das kann von Tests zur räumlichen Wahrnehmung bis zum Erreichen eines Orgasmus gehen. Währenddessen werden bestimmte Hirnareale aktiviert. Die Annahme lautet, dass jene Orte besonders aktiv sind, in die viel Blut transportiert wird. Durch das Magnetfeld des Tomografen wird an diesen Orten eine magnetische Wechselspannung erzeugt, die gemessen und umgerechnet wird. Das Ergebnis ist ein Bild in Grautönen, das wie ein Foto des Gehirns wirkt. Es ist gar nicht so einfach zu verstehen, warum dieses „Bild“ nicht als Foto, sondern als Rekonstruktion des Gehirns gesehen werden muss. 

Bettina Enzenhofer: Gerade wenn es um Geschlechterunterschiede im Gehirn geht, hört man oft die Aussage: „Aber man sieht doch ganz deutlich, dass bei Männern und Frauen unterschiedliche Areale aktiviert sind.“ Was lässt sich darauf erwidern?

Anelis Kaiser: Generell muss gefragt werden: Woher kommen diese Unterschiede? Plakativ gesprochen: Ja, wundert es denn, dass es Unterschiede gibt in einer Gesellschaft, die geschlechtlich so unterschiedlich sozialisiert? Das muss sich doch auch im Gehirn zeigen, denn es steht in ständiger Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen. Die Biologie – so auch die Neurobiologie – ist per se interaktiv und nie nur biologisch allein … Außerdem geht es darum, ob da wirklich vollkommen andere Areale sichtbar sind. Das muss man sich neuroanatomisch genau anschauen. Dass unterschiedliche Aktivität zu sehen ist, heißt eben nicht unbedingt, dass diese Aktivität unterschiedlichen Arealen zugeordnet werden muss. Es entsteht populärwissenschaftlich oft der Eindruck, dass bei Frauen im Gegensatz zu Männern (und umgekehrt) in gänzlich anderen Arealen Aktivität zu sehen sei. Dem ist nicht immer so. In den meisten Fällen ist die Aktivität in denselben Regionen, aber bei einem Geschlecht vielleicht mal stärker und geringfügig größer. Man könnte sich auch anschauen, wie die Analysen gemacht worden sind: Wurde bspw. gleich zu Beginn auf bestimmte Hirnareale fokussiert oder das ganze Gehirn betrachtet? Diese Vorgehensweisen sind unterschiedlich in ihrem Ansatz Unterschiede festzustellen und hängen mit den A-priori-Annahmen zusammen. Je nach Vorgehensweise muss man auf eine unterschiedliche Art und Weise die Daten korrigieren. Es werden nämlich immer enorm viele Daten errechnet, und schon allein wegen des grundsätzlichen Zufalls können Aktivitäten gezeigt werden. Solche Dinge müssen in die Statistik einfließen. Außerdem müssen auch die Schwellenwerte der Aktivität berücksichtigt werden: Es wird nämlich nicht jede Aktivierung veranschaulicht, sondern nur die, die eine bestimmte Schwelle überschreitet.

Die Relevanz dieses Schwellenwertes haben Sie in einer eigenen Studie bei einem Test zur Sprachverarbeitung gut zeigen können: Mit einem strenger korrigierten Wert – d.h. es war weniger Aktivierung im Bild – zeigten sich keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern, mit einem weniger streng korrigierten Wert zeigte sich bei Männern eine beidseitige Aktivierung, bei Frauen eine linksseitige. Stellt diese Abhängigkeit von Vorannahmen bzw. methodischen Entscheidungen nicht jegliches Ergebnis infrage? Wie kann man Hirnbilder wissenschaftlich korrekt interpretieren? 

Die Bilder sind zwar methodenabhängig, aber nicht beliebig. Die Neurowissenschaft hat in ihrer Erkenntnisherstellungspraxis natürlich ihre Spielregeln. Die Sache der Schwellenwerte ist primär nicht eine neurowissenschaftliche Frage, sondern eine statistische. Es gibt bestimmte Schwellenwerte, die „erlaubt“ sind, und andere, die es nicht sind. Es gibt einen gewissen Spielraum, für welchen Wert man sich entscheidet. 

Ich habe mir erlaubt, im (in der Regel kleinen) Spektrum der erlaubten Schwellenwerte mal eher streng und mal eher nicht streng einzustellen. Und tatsächlich, beim einen kam ein Geschlechterunterschied heraus, beim anderen nicht. Dieses Ergebnis hat nicht jedes Ergebnis per se infrage gestellt, weil es natürlich sein kann, dass jemand – obwohl diese Person einmal eher streng und einmal eher nicht streng einstellt – trotzdem immer nur Unterschiede oder immer nur Ähnlichkeiten herausgefunden hätte. Ich wollte vielmehr eine Diskussion initiieren, weil ich der Meinung bin, dass Geschlechterunterschiede einem des öfteren im Experiment auch „mal so passieren“, weil man auf die Unterschiedsfinderei geeicht ist.

Korrekt kann man die Bilder nur dann interpretieren, wenn man sich damit auskennt. Das kann man erlernen, und dann versteht man die Zahlen, die die Bilder begleiten, sieht vielleicht auch andere Aktivierungen, schaut sich den Experimentaufbau an. Mit Übung lernt man zu sehen, dass eine eventuell dargestellte Ungleichheit kein signifikanter Unterschied sein muss. Falsch ist es in meinen Augen, sich nur die Bilder anzuschauen und sonst gar nichts, dann nämlich unterliegt man der „Macht der Bilder“ und erst recht der „Macht der Hirnbilder“, da kommt die Bedeutung ins Spiel, die wir heutzutage dem Gehirn diskursiv beimessen. 

Wie kann ich mir den Prozess der Bildentstehung konkret vorstellen? 

Es wird zuerst die Aktivität einzeln vorverarbeitet, hier werden gewisse Korrekturen vorgenommen, es wird Statistik gebraucht. Danach wird gruppiert, zum Beispiel nach Geschlecht. In einem weiteren Schritt wird berechnet, ob bzw. wo die eine Gruppe „mehr“ Aktivität als die andere Gruppe hat. Nur so kann gesagt werden, ob ein gefundener Unterschied zwischen zwei Gruppen tatsächlich im statistischen Sinne „signifikant“ ist. 

In solchen Experimenten sucht man selten nach nur einem Unterschied, oft gibt es verschiedene Tasks mit leicht variierten Aufgaben. Oder man nimmt noch weitere Faktoren hinzu wie Alter oder geschlechtliche Orientierung und hat zum Schluss verschiedene Variablen, die man miteinander vergleicht. Aber: Falls nur ein Unterschied herauskommt und sonst nur Gleichheiten, wird meistens dieser Unterschied betont. 

Durch das Gruppieren geht natürlich viel Individualität verloren. Vieles wird in diesem Prozess der Berechnung „rausgemittelt“. Das nimmt man in Kauf, ja ursprünglich war das wahrscheinlich sogar gewollt. Allerdings hat sich meiner Meinung nach mittlerweile etwas in der fMRI-Forschung geändert: Individualität kommt in den letzten Jahren mehr zum Tragen. Man nimmt die Variabilität innerhalb der Gruppen ernster, viele Papers werden sogar zu genau diesem Thema eingereicht. 

Bevor man mit dem Scanvorgang beginnen kann, muss man erst einmal das Geschlecht der Studienteilnehmer _innen eingeben. Inwiefern wirkt sich das auf die Messung aus? 

Als ich meine Messungen durchführte, musste man in die Apparate eingeben, ob es ein „F“ oder ein „M“ ist, sonst hätte der Messvorgang gar nicht beginnen können. Aber das ist nicht immer so, das hatte wahrscheinlich eine klinische Relevanz, denn oft stehen die Magnetoresonanztomografen in Spitälern. Die Versuchsteilnehmenden teilte man nach Erscheinungsbild und Namen geschlechtlich ein – das wäre also das „biologische Geschlecht“, das man in den Scanner eingibt. Dass das nicht befriedigend ist, wenn man z.B. ein Sprachexperiment macht und Sprache viel mit Förderung und somit mit Sozialisationsaspekten etc. zu tun hat, leuchtet wohl allen ein. Dieses „biologische Geschlecht“ wirkt sich dann aus, denn ab diesem Zeitpunkt sind nun die Daten klassifiziert, binär und dichotom bis zum Abschluss der Evaluation. Im Folgenden bildet man dann Gruppen nach „F“ und „M“. Der Mensch, der beim Experiment erschien, ist später entweder ein „F“ oder ein „M“. Es ist schwer, neurowissenschaftliche Experimente geschlechtlich aufzubrechen. 

Bis heute kann man einen starken Anstieg an fMRI-Studien beobachten. Warum ist gerade dieses Verfahren so populär? 

Neben fMRI werden heute auch noch viele andere bildgebende Verfahren verwendet. fMRI ist populär, weil diese Apparate schon für klinische Zwecke, bspw. zur Lokalisierung von Hirntumoren, in vielen Spitälern herumstanden. Anfang der 1990er Jahre hat man herausgefunden, dass damit auch die Aktivität des Gehirns in einem gegebenen Moment untersucht werden kann. Somit bestand auf einmal auch ein größeres Interesse zu schauen, wie das Gehirn von „normalen“, also nicht klinisch „kranken“ Menschen aussieht, wenn es aktiv ist. Das wurde interessant für die (nicht klinische) Neuropsychologie, auch für die Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften. Das fMRI hat im Gegensatz zu anderen Verfahren den großen Vorteil, dass diese Methode „nicht invasiv“ ist, man muss den Teilnehmenden bspw. nichts Zusätzliches injizieren. Wobei die Frage des „nicht invasiv“ auch kritisch betrachtet werden muss: Je nachdem, wie viel Tesla ein Gerät hat, also wie stark der Magnetismus darin ist, kann man eigentlich nicht mehr von „nicht invasiv“ sprechen. 

Aber bei den Geräten in der Praxis geht man davon aus, dass auf biologischer Ebene nichts Schädliches passiert – solange man keine metallenen Objekte im Körper hat. Populär ist fMRI sicherlich auch, weil die Bilder so „schick“ sind. Die dreidimensionalen Abbildungen, mit teilweise abgeschnittenen Teilen des Gehirns, bei denen man den Eindruck hat, man würde hineinschauen, sind natürlich optisch eine Wonne. Das macht Spaß, so etwas, nicht? Da spielt vielleicht noch ein gewisser Voyeurismus eine Rolle. Aber jedenfalls ist das faszinierend.

Anelis Kaiser ist Psychologin und arbeitet zu Geschlechterähnlichkeiten und -unterschieden in den Naturwissenschaften, insbesondere der Hirnforschung. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie Gastprofessorin am Zentrum für interdisziplinäre Geschlechterstudien und am Fachbereich Pädagogische Psychologie an der TU Berlin.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge März 2012.

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