Differenzforschung als Ideologie

Heinz-Jürgen Voß stellte vor kurzem in Wien sein Buch „Making Sex Revisited“ vor, in dem er aus biologisch-medizinischer Perspektive Geschlecht dekonstruiert. Bettina Enzenhofer traf den Biologen zum Gespräch.

Kunst von Alex Jürgen*: in der Mitte ist der Kopf von Yoda gezeichnet, hinter ihm sind verschiedene Geschlechtersymbole. Text: "Words from the Yoda side: vergessen musst du, was früher du gelernt!"
© Alex Jürgen*

Bettina Enzenhofer: Eine deiner zentralen Thesen ist, dass das biologische Geschlecht gesellschaftlich hergestellt ist. Wie lässt sich das aus Sicht der Biologie argumentieren? 

Heinz-Jürgen Voß: Das ist eine komplexe Frage. In der Biologie gibt es zwei widerstreitende Prinzipien: deterministisch geprägte und solche, die einen Entwicklungsgedanken im Blick haben. Bei deterministischen Theorien ist man der Meinung, dass schon im embryonalen Anfangsstadium viele Körpermerkmale vorhanden sind und sich diese nur mehr ausbilden müssen – das gilt auch für das Geschlecht. Die gesellschaftliche Vorannahme, dass es nur zwei Geschlechter mit bestimmten Merkmalen gäbe, kann man mit solchen Theorien sehr schnell begründen und in dieser widerspiegeln.

Entwicklungstheorien wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts sehr stark diskutiert. Man geht nicht mehr von einem vorgebildeten Individuum aus, sondern von ungeformter Materie, die sich erst durch Entwicklungs-und Differenzierungsprozesse zu einem komplexen Organismus ausbildet. Hier nimmt man an, dass sehr viele Einflüsse wirken können und so ein offener Prozess nicht nur bei männlich oder weiblich enden muss. Das kann man z.B. in aktuellen biologischen Theorien zu Hormonen oder Chromosomen gut zeigen. Nicht ein Chromosom gibt einer Zelle vor, was sie tun soll, sondern umgekehrt: In der Zelle sind komplexe Prozesse daran beteiligt, dass aus einer DNA-Sequenz erst eine konkrete Information hergestellt wird. Dabei wirken von Beginn an bereits Einflüsse aus der Mutter und aus der übrigen Umwelt.

Entwicklungstheorien gibt es also schon seit drei Jahrhunderten, aber bis heute wird gelehrt: Es gibt die Männer und die Frauen.

Genau. Das ist ja auch das Absurde: Gerade in den Biologie-Lehrbüchern werden Prozesse sehr stark thematisiert, z.B. in der Biochemie. Hormone werden immer als ein gemeinsamer Biosyntheseweg von Östrogenen und Testosteron dargestellt, aber bei den Schlussfolgerungen kommt das nicht an. Man hat sozusagen das diffizile und differenzierte Bild von Genen, Chromosomen, Hormonen etc. und schafft es trotzdem immer wieder, das dann ganz einfach binär-geschlechtlich einzuordnen. 

Warum gibt es angesichts widersprüchlicher Befunde trotzdem eine solche Zuordnung?

Das würde ich gesellschaftlich erklären: Von früh auf lernt man, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Man lernt, sich eindeutig als Mädchen oder Junge, Frau oder Mann zu verorten. Das bildet einen sozialen Hintergrund, der gar nicht hinterfragt wird. Man kommt dann in der Biologie zwar durchaus bei vielen Faktoren an, die miteinander wechselwirken, und merkt, dass sich das alles gar nicht so einfach darstellt. Aber die zweigeschlechtliche Hintergrundfolie ist immer da, die Befunde müssen dort reinpassen. 

Differenzforschung ist auch wesentlich einfacher zu begründen. Es ist einfacher, dafür Forschungsgelder zu bekommen und solche Ergebnisse zu publizieren. Man muss immer möglichst „signifikante“ Unterschiede feststellen können – wobei „Signifikanz“ selbst schon ein sehr schwammiger Begriff ist: Er bedeutet, dass ein Ergebnis nicht vollständig auf Zufall zurückzuführen ist. Derartige Ergebnisse von Differenzforschung lassen sich in wissenschaftlichen Zeitschriften gut publizieren. Wenn man aber feststellt, dass es eigentlich gar keine Unterschiede gibt, ist das ja auch ein Ergebnis von Forschung, das wird aber nicht veröffentlicht bzw. lässt sich eben wesentlich schlechter publizieren. 

Gerade in populären Darstellungen wird sehr viel vereinfacht: Eierstöcke würden Östrogene ausschütten, Hoden würden Testosteron ausschütten. Oder auch auf chromosomaler Ebene: X- und Y-Chromosomen seien die entscheidenden Faktoren von Geschlecht bzw. einzelne wenige Gene würden das Geschlecht vorgeben. Wenn man in populären Medien oder auch in Schulbüchern immer so simpel argumentiert, dann wird auch Nachwuchswissenschaftler _innen ein simples Verständnis angelernt. Damit holt man dieses Denken immer wieder in die Biologie zurück und kommt da auch nicht raus. Das ist eine deterministische Annahme: Wir müssen unsere einfache Welt, die wir haben, auch biologisch finden …

Wie anerkannt sind Entwicklungstheorien innerhalb der Biologie?

Alle Forschungen landen im Moment eigentlich bei Entwicklungsprozessen und stellen fest, dass die Theorien der letzten Jahrzehnte zu einfach waren. Auf genetischer Ebene kommt man bei komplexen Netzwerken an, bei denen viele Faktoren beteiligt sind. Bei Hormonen stellt sich heraus – das weiß man schon seit den 1920er Jahren –, dass es keinesfalls so einfach mit diesem Entgegenstellen von Östrogenen und Androgenen ist. 

Mittlerweile gelingt es der Biologie und Medizin immer weniger, ihre Beobachtungen in so einfache Konzepte von weiblich und männlich zu pressen. Sie sind außerdem subjektiv: In dem, was gefunden und gesehen werden kann, spiegelt sich auch Gesellschaft wider. Die Biologie und die Medizin landen also bei sehr komplexen Modellen, aber die Ideologie des Zweigeschlechtersystems ist so stark, dass dann wieder gesagt wird: Wir müssen das aber in weiblich oder männlich einordnen. 

Wie reagieren andere Biolog_innen auf deine These vom gesellschaftlich hergestellten biologischen Geschlecht? 

Durchaus wechselhaft: Mit einigen kann man sehr gut diskutieren, die sind auch kritisch, bei denen stellen sich auch die Ergebnisse durchaus widersprüchlich dar. Sie befinden sich aber in einer Situation, in der sie ihre Ergebnisse entsprechend eindeutig weiblich und männlich zurichten müssen, um sie publizieren zu können. Bei älteren, in der Wissenschaft etablierten Biolog_innen – die z.B. Theorien vertreten haben, mit denen sie auch eine Professur erlangen konnten, was ja gerade in der Biologie bei kritisch Denkenden schwieriger ist – ist daskomplizierter. Ich kann darlegen, wie vielschichtig und differenziert alles ist, aber dann kommt der Satz: „Aber es gibt doch das Y- und das X-Chromosom.“ Das ist die Antwort auf die komplexen Ausführungen, die deutlich gemacht haben, dass Chromosomen gar nicht die ihnen zugeschriebene Bedeutung haben oder auch nicht als Geschlechtschromosomen bezeichnet werden sollten. Mit so einer einfachen Antwort haben sie sich dieses Problems wieder entledigt, aber eigentlich auch selbst disqualifiziert. 

Das kommt mir bekannt vor! Ich höre oft: „Geschlecht mag sich komplex ausbilden, aber im Alltag sehe ich doch, dass es Männer und Frauen gibt. Sie unterscheiden sich z.B. in der Körpergröße oder in der Muskelmasse.“

Im Alltag sieht man das, was mit „biologischem Geschlecht“ oft verbunden wird, wie etwa Genitalien, gerade nicht: Menschen laufen ja nicht nackt herum, die Genitalien sind nicht sichtbar. Hier wird also schon die kulturelle Wirkung deutlich. Wie betonen wir Geschlecht, welche Zeichen lesen wir als geschlechtlich, wo ist es notwendig, Behaarung stehen zu lassen, wo nimmt man sie besser weg, um als eindeutig durchzugehen? Immer wieder werden biologische Faktoren herangezogen, um zu behaupten, dass alles so eindeutig sei, aber meine Argumentation ist: Nein, das ist es nicht. 

Heute leben Menschen als Männer oder Frauen sozialisiert. Damit verknüpfen sich gewisse Erwartungshaltungen. Das Problem, dass Frauen diskriminiert werden, dass an Männer bestimmte Anforderungen gestellt werden, dass Intersexuelle schwer misshandelt werden, um ein eindeutiges Geschlecht herzustellen – das ist ein gesellschaftliches Problem, das gesellschaftlich und politisch beantwortet werden muss. Das ist für mich das vorrangige Ziel.

Aber wenn jemand mit dem biologischen Substrat, das sich bei den Geschlechtern unterscheiden würde, argumentiert? 

Das hängt trotzdem ganz stark mit der Sozialisation zusammen. Soziologische Studien haben schon in den 1980ern gezeigt, dass Erwachsene auf ein Baby, das ihnen als weiblich vorgestellt wurde, mit „Ach, ist das zart und hübsch“ reagierten, wenn aber dasselbe Baby als männlich vorgestellt wurde, die Zuschreibung „Ach, ist das kräftig und stark“ verwendeten. 

Relevant sind also die frühe unterschiedliche Behandlung und unterschiedliche Trainingsmöglichkeiten, die sich für Buben und Mädchen schon in der Kindheit ergeben. Sport war lange Zeit bei Frauen nicht so angesehen wie bei Männern, das prägt sich dann auch in physischen Merkmalen ein. Zum Beispiel wurde behauptet, dass Schwimmen nicht für Frauen geeignet wäre. Gertrude Ederle überraschte dann 1926 als erste Frau, die den Ärmelkanal durchschwamm, und das noch zwei Stunden schneller als der bisherige Weltrekordler. Damit wird deutlich: Was gesellschaftlich erwartet wird, prägt die Wahrnehmung – etwa, dass bestimmte Leute etwas nicht können sollen. Ederle schwamm seit ihrem achten Lebensjahr, da spielte die Sozialisation also eine große Rolle. Ähnlich ist das auch beim Marathon: Frauen können seit den 1960er Jahren regulär an Marathon-Wettkämpfen teilnehmen. Der Unterschied zu den Männern lag früher bei etwa 1,5 Stunden, heute liegen die Unterschiede bei zehn Minuten. Wenn sich die Trainings- und Lebensbedingungen angleichen, ebnen sich also jene Unterschiede ein, die vorher als „natürlich“ angenommen wurden.

Theorien ändern sich ja immer wieder. Was ist deine Prognose: Werden wir noch die Abkehr vom Zweigeschlechterdenken erleben? 

Es kommt darauf an, wie wir die Gesellschaft gestalten. Ein grundsätzliches Problem ist, dass viele Menschen die Welt als gegeben erleben. Heute werden in der Gesellschaft zwei Geschlechter gelebt, und man denkt, dass ein Mensch an die Gesellschaft angepasst werden muss – aber nicht andersrum, was ja eigentlich das empanzipatorische Potenzial wäre. 

Gerade bei Kindern ist das Vorurteil von nur zwei Geschlechtern nicht so stark gegeben, z.B. nehmen Kinder auch ein Kind an, das nicht eindeutig „Mädchen“ oder „Junge“ ist – wenn etwa beim Spielen nach „Jungen“ und „Mädchen“ gefragt wird und ein Kind sich bei beidem meldet. Stigmatisierung findet wenn, dann erst später statt, nämlich sobald Kinder älter werden und Stück für Stück in einer Zweigeschlechter-Gesellschaft sozialisiert werden. Ich denke, dass eine Abkehr vom Zweigeschlechterdenken möglich ist, und ich streite auch dafür, dass das passiert. Vielleicht wird diese Änderung nicht in 50 Jahren erfolgt sein, aber vielleicht haben wir es in 200 Jahren geschafft.

Das wäre ja auch gesellschaftspolitsch relevant. Wenn wir von vielen Geschlechtern ausgehen, müssen wir nicht alles, das nicht in ein binäres Schema passt, pathologisieren, wie bspw. Transgender, Intersexualität etc.

Eine Gesellschaft muss derart gestaltet werden, dass sie für alle Menschen gerecht ist. Mir ist es wichtig, Gewaltverhältnisse abzuschaffen. Das ist bei Intersexualität sehr wichtig und muss auch der Hintergrund sein, warum man gegen Zweigeschlechtlichkeit argumentiert. 

Operationen bei Intersexuellen müssen gestoppt werden, Geschlecht soll im Personenstand entweder nicht mehr auftauchen, oder es muss zumindest eine dritte Kategorie eingeführt werden – damit würde sich schon einiges ändern. Menschen, die weiblich oder männlich aufgewachsen sind, wissen oft gar nicht, welche Gewalterfahrungen intersexuelle Menschen dadurch machen. Dieses Zweigeschlechtersystem bringt ja allen Menschen Nachteile – man muss sich immer anpassen, um in einer Gruppe anerkannt zu sein. Das Interesse von Menschen aneinander würde dazu führen, dass Geschlecht gar nicht mehr diese Bedeutung hat. Das heißt, es würde sich etwas über die gesellschaftliche Ebene verändern – und nicht über die Biologie. Als kritische_r Biolog_in kann ich höchstens zeigen, dass in diesen herrschenden Theorien von nur zwei Geschlechtern sehr viel Ideologie mitschwingt, obwohl man eigentlich, wenn man die biologische Fachdiskussion nüchtern betrachtet, bei vielen Geschlechtern ankommen müsste. Die Ideologie kommt aber ganz breit aus der Gesellschaft, und deshalb ist es eine politische und gesellschaftliche Entscheidung, vom Zweigeschlechtermodell abzugehen. Biologie ist nur ein Bestandteil der Gesellschaft.

Heinz-Jürgen Voß war zum Zeitpunkt des Interviews Biologe mit Lehraufträgen an verschiedenen deutschen Universitäten. 2011 erschien sein Buch „Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“.

Heinz-Jürgen Voß: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Transcript 2010

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Dezember 2010/Jänner 2011.

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