Eizelle und Samenzelle: Eine Märchenstunde

Kaum ein Gebiet der Naturwissenschaft ist so reich an Metaphern wie die menschliche Befruchtung, keinen anderen Zellen werden so eindeutige Charaktereigenschaften zugeschrieben wie Eizelle und Spermium. Ein Ausflug in die Zellbiologie mit Leonie Kapfer.

Graffito auf einer Wand, drei Tauben mit Fragezeichen und Rufzeichen über ihren Köpfen
Artist: unknown (Wien Yppenplatz 2018), Foto: Christine Weidhofer

„A dormant bride awaiting her mate’s magic kiss.“(1) Diese Textstelle stammt nicht aus den Gebrüdern Grimms „Schneewittchen“, sondern ist einem wissenschaftlichen Paper entnommen. Und die Metapher des Biologen-Ehepaars Gerald und Helen Schatten ist keine Ausnahme: Ei und Spermium stehen in der Wissenschaftsgeschichte seit jeher für das zellgewordene „Weibliche“ und „Männliche“. Stereotype Vorstellungen von Geschlecht(errollen) wurden so 1:1 in die biologische Wissenschaft übertragen.

Passiv, träge und immobil

Die Eizelle wurde zur „passiven“ und „trägen“ Empfängerzelle – ohne dass dafür hinreichende Beweise vorgelegen wären. Sie habe keine Möglichkeit zur Fortbewegung und würde durch die Eierstöcke „transportiert“, heißt es seit der Entdeckung des Follikelsprungs 1842. Habe sie diese passiert, warte sie auf die Samenzelle, denn nur diese könne sie „vor der Degeneration retten“. Obwohl auch die Lebenszeit eines Spermiums begrenzt ist, gehen Lehrbücher bis heute nur auf den Verfall der Eizelle ein: „Ihre Zeit ist begrenzt, sie hat nur 24 Stunden Zeit, sich mittels eines Spermiums in ein menschliches Wesen zu verwandeln.“ Wenn dann „der Retter in Not“ endlich kommt, würde es aber erst richtig ungemütlich für die Eizelle. Sie sei dann einem „Aggressor“ ausgesetzt, der mit „aller Kraft“ versuche, in sie „einzudringen“ und ihren „Schutzmantel zu durchbohren“. Die männlichen Samenzellen würden auf dem Weg durch das „weiche, dunkle Unbekannte keine Furcht“ kennen, „flink“ und „agil“ folgten sie ihrer „heldenhaften Mission“. Der Lohn der „erfolgreichen Penetration“ der Eizelle durch das Spermium: die Entstehung eines neuen Menschen.(2)

Dieses gewaltvolle Bild der Befruchtung ist zwar längst widerlegt, hält sich aber noch immer in den Köpfen vieler Menschen. Die Wissenschaft musste sich bereits Ende der Achtzigerjahre von diesem Märchen verabschieden: Als sie an einem Verhütungspräparat für den Mann forschten, merkten die Wissenschaftler_innen, dass Spermien entgegen der Lehrmeinung keinen Drang zur Vorwärtsbewegung haben. Die einzige Bewegung, die die Forscher_innen erkennen konnten, war ein Ausschlag der Samenzellen nach links und rechts. Wie konnte ein so unmobiles Spermium die Vagina passieren und dann die Eizelle penetrieren? Ebenso verwunderlich war, dass Spermien den Kontakt mit Oberflächen meiden. Mit diesen recht eindeutigen Ergebnissen war die bisherige Lehrmeinung zur Befruchtung nicht mehr zu halten.

Weitere Studien zeigten, dass Eizelle und Spermium für eine Befruchtung über zahlreiche, bis heute noch nicht restlos geklärte Mechanismen interagieren müssen. Die Eizelle ist dabei sehr aktiv; ihre Hülle ist nicht nur ein Schutzwall gegen Spermien, der einer Befruchtung dadurch eher hinderlich ist, sondern eine hochdifferenzierte Oberfläche, die verschiedene bio-chemische Aufgaben wahrnimmt. Eine davon ist, mittels eines Stoffes Samenzellen anzulocken. Die Verbindung von Spermium und Eizelle funktioniert anschließend über ein sogenanntes Zelladhäsionsmolekül – ein Molekül, das den Zusammenhalt und die Kommunikation zweier oder mehrerer Zellen vermittelt.

Passive Rezeptoren, aktive Liganden

Wirklich ändern konnten diese Erkenntnisse an der wissenschaftlichen Vorstellung des aktiven Spermiums und der passiven Eizellen jedoch wenig. Denn als es darum ging, die Bindungsstellen auf Ei- und Samenzelle zu benennen, tappten die ForscherInnen erneut in die Falle klassischer Geschlechterstereotypen. Ein kleiner Exkurs in die Biochemie: Bei biochemischen Verbindungen gibt es immer einen Rezeptor, der aus einem Protein besteht und eine kleine „Tasche“ für die Bindung besitzt, sowie einen Liganden, der an diese Tasche bindet. Die Bindung findet nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip statt, wobei der Rezeptor als Schloss gilt, der Ligand als Schlüssel. Als es nun darum ging, den Rezeptor bei der Bindung von Ei und Spermium ausfindig zu machen, wurde entgegen wissenschaftlicher Praxis das Ei als Rezeptor ausgemacht – obwohl die Proteinbindungsstelle wie auch das „Täschchen“, in das die Eizelle bindet, am Spermium lokalisiert wurden. Die Bezeichnung der Eizelle als Rezeptor wird bis heute verwendet.

Femme Fatale oder Mutti

Mittlerweile – zwanzig Jahre nach der Entdeckung des komplexen Befruchtungsvorgangs – spricht die Biologie der Eizelle zwar mehr Aktivität zu, vor der Übertragung stereotypisierter Weiblichkeitsbilder auf körperliche Strukturen ist sie aber bis heute nicht gefeit. In neueren Fachbüchern wird vermehrt das Bild der „Femme Fatale“ oder aber der „fürsorglichen Mutter“ zur Beschreibung der Zelle verwendet. Die Vorstellung, dass Eizelle und Sperma schlicht pluripotente Zellen ohne Charaktereigenschaften sind, ist für die Biologie offenbar zu abwegig.

Gegenwärtige Beschreibungen der Eizelle zeichnen demnach das Bild einer sexuell aggressiven Frau, die eine Bedrohung für den Mann darstellt: Die Eizelle fange das Spermium mittels chemischer „Lockstoffe“, binde und mache es „unbeweglich“ und verschlinge es dann. Dabei verliere das Spermium seinen Schwanz (nur im Kopf des Spermiums ist Erbgut enthalten). Zugleich muss die Eizelle für das Stereotyp der „schützenden Mutter“ herhalten: Nachdem bekannt wurde, dass manche Stellen an der Oberfläche der Eizelle intakte Samenzellen identifizieren und am Binden hindern können, wurde dies mit dem „Bestreben“ der Eizelle gleichgesetzt, nur den „besten Partner ausfindig zu machen“, um „Schaden“ vom entstehenden Leben fernzuhalten.

Eizellen? Unbegrenzt!

Neben überholten Befruchtungsfantasien muss sich die Wissenschaft nun von einem weiteren Märchen über die Eizelle verabschieden: Letztes Jahr konnte eine Gruppe US-amerikanischer Wissenschaftler_innen belegen, dass auch erwachsene Frauen Eizellen nachproduzieren können. Bisher war die Lehrmeinung, dass eine Frau mit einer bestimmten Anzahl an Eizellen geboren werde. Wie die Forscher_innen aber zeigen konnten, verfügt auch der weibliche Organismus – ebenso wie der männliche bei den Samenzellen – über die Möglichkeit, pluripotente Stammzellen in den Eierstöcken nachzuproduzieren, die sich dann eventuell zu Eizellen differenzieren können. Der Mythos der ständig vom Verfall bedrohten weiblichen Eizellen könnte somit ebenso bald der Mottenkiste der Wissenschaft angehören.(3)

Fußnoten:
(1) Eine schlafende Braut wartet auf den magischen Kuss ihres Partners“, in: Gerald and Helen Schatten: The Energetic Egg. Medical World News 23, 1984
(2) Alle Zitate entstammen wissenschaftlichen Papern oder Fachbüchern und sind hier nachzulesen: Emily Martin: The Egg and the Sperm: How science has constructed a romance based on stereotypical male-female roles. In: Signs, Journal of Woman in Culture and Society, 1991
(3) Jonathan Tilly u.a.: Oocyte formation by mitotically active germ cells purified from ovaries of reproductive-age women. In: Nature Medicine 18, 2012

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge Oktober 2013.

Teilen:
Skip to content