Kotzen bis zur Geburt

Nicht immer hört die „Morgenübelkeit“ nach der zwölften Schwangerschaftswoche auf. Wer an Hyperemesis Gravidarum leidet, kämpft gegen extreme Übelkeit und Erbrechen – und gegen die Ignoranz des medizinischen Personals. Von Gabi Horak-Böck

Handrücken mit einer Infusion
Foto: Anna Shvets / Pexels

„Geht die Übelkeit wirklich mit der Geburt weg? Geht sie jemals wirklich weg? Ich kann mir ein Leben ohne Kotzerei und Übelkeit gar nicht mehr vorstellen, dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher, als wieder ein gesunder Mensch zu sein.“ Das ist nur eines von vielen verzweifelten Facebook-Postings betroffener Frauen, die sich in der geschlossenen „Hyperemesis Gravidarum“-Gruppe austauschen und gegenseitig Mut machen. Sie wurde Ende 2012 gegründet, als Medienberichte rund um die schwangere und an Hyperemesis leidende Kate Middleton der bis dahin kaum bekannten Krankheit viel Öffentlichkeit bescherten. Mittlerweile hat die Gruppe 148 Mitglieder, und es werden täglich mehr. Einigen der Frauen sind Partner*innen und Familien eine Stütze, manche haben auch mit Ärzt*innen und Krankenhäusern positive Erfahrungen gemacht. Die meisten Betroffenen haben aber reichlich Negatives zu berichten: Familie, Freund*innen und Arbeitgeber*innen, die das Verständnis verlieren, wenn die Kotzerei nach drei Monaten noch immer kein Ende hat. Vor allem die Ignoranz in so manchen Spitälern und gynäkologischen Praxisräumen macht den Frauen zu schaffen.

„Sie bilden sich ein, dass ihnen schlecht sei, um sich vor ihren Pflichten zu drücken“*

Hyperemesis Gravidarum (HG) ist eine extreme Form der Schwangerschaftsübelkeit. Die Definition laut Lehrbuch: mehr als fünf Mal täglich Erbrechen, mehr als fünf Prozent des Körpergewichtes verlieren, schwierige Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und dadurch Dehydration und Störungen im Elektrolythaushalt. Tatsächlich erbrechen viele Frauen bis zu zwanzig Mal am Tag und/oder sind durch extreme Übelkeit unfähig, alltägliche Aufgaben zu übernehmen. Sie können kaum einen Schluck Wasser bei sich behalten und sich selbst nicht auf den Beinen halten. Oft landen sie mehrmals im Krankenhaus, um intravenös mit Flüssigkeit und Medikamenten versorgt zu werden.

Die Ursache von HG ist weitgehend ungeklärt. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit einem erhöhten HCG-Hormonspiegel, einer Heliobacter-Infektion, Vitaminmangel oder mit einer Fehlfunktion der Schilddrüse, auch erbliche Komponenten scheinen eine Rolle zu spielen (Töchter von HG-geplagten Müttern haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst daran zu erkranken). Wie so oft bei „Frauenleiden“ waren lange Zeit psychische Faktoren das bevorzugte Erklärungsmodell: Die Frauen wollten ihr Kind gar nicht, sie seien depressiv und ablehnend der Schwangerschaft gegenüber, deshalb sei ihnen schlecht. Auch heute noch müssen sich viele Betroffene derartige Sprüche anhören.

„Wenn Sie Ihre Schwangerschaft endlich akzeptieren, wird’s besser.“

Hyperemesis Gravidarum wird bei 0,5 bis drei Prozent der Schwangeren diagnostiziert. Oft klingen die Beschwerden zumindest nach dem zweiten Trimester ab, viele erbrechen aber bis zum Tag der Geburt. Mit den Folgen kämpfen die Frauen – die fast immer gesunde Kinder zur Welt bringen – auch noch lange nach der Schwangerschaft: kaputte Magenschleimhäute, Bluthochdruck, Nierenprobleme, Thrombosen, Risse in der Speiseröhre, Mangelernährung, Rückenbeschwerden, körperliche und psychische Erschöpfung. In Internet-Foren gibt es sogar Erfahrungsberichte von Suiziden und verzweifelten Abtreibungen, um das Martyrium zu beenden – systematisch erfasst und untersucht wird das allerdings nicht. Entsprechend groß war der Ärger, als eine Betroffene in einem Brief von der Ärztekammer Nordrhein lesen musste, bei HG handle es sich „um eine vorübergehende Beschwerdesymptomatik“ und es könnten „ernsthafte Erkrankungen ausgeschlossen werden“.

„Sie müssen positiv denken, sonst überträgt sich alles aufs Kind.“

Auch die Frage der Therapie ist für Betroffene sehr problematisch. Behandelt werden können nämlich nur die Symptome: Übelkeit und Brechreiz.
In weniger schweren Fällen können eine Ernährungsumstellung, Ingwer und Vitamin-B6-Präperate Linderung verschaffen. Ist eine Frau jedoch zum wiederholten Male im Krankenhaus, um künstlich ernährt zu werden, sind ärztliche Empfehlungen wie „Sie müssen mal an die frische Luft“ der reinste Hohn. Bei schweren Krankheitsverläufen helfen nur mehr Medikamente. Mit Embryotox gibt es seit 25 Jahren ein unabhängiges Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie in Deutschland, das die Verträglichkeit von Medikamenten in der Schwangerschaft untersucht. Auf der Website www.embryotox.de können sich Schwangere und Mediziner*innen informieren, für welche Krankheiten in der Schwangerschaft welche Medikamente wirkungsvoll und zu empfehlen sind. Diese Informationen basieren auf aktuellsten Forschungsdaten und stimmen nicht immer mit jenen auf dem Beipackzettel der Medikamente überein – zumal die Pharmaindustrie im Zweifelsfall von Medikamenten während der Schwangerschaft generell abrät. Im „arznei-telegramm“, einer unabhängigen Informationszeitschrift für Ärzt*innen und Apotheker*innen in Deutschland, ist zur Behandlung von HG im Oktober 2009 zu lesen: „Die Zulassungssituation ist unbefriedigend: Wir finden auf dem deutschen Markt kein Präparat, das die Indikation Schwangerschaftserbrechen umfasst. Im Gegenteil: Vermutlich aus Gründen der rechtlichen Absicherung der Hersteller enthalten alle Fachinformationen (…) Einschränkungen in Bezug auf die Schwangerschaft oder geben diese sogar als Kontraindikation an.“

„Sie kotzen, weil Sie nicht zunehmen wollen.“

Der Wirkstoff Meclozin ist laut Embryotox das „Mittel der 1. Wahl“ gegen starkes Erbrechen bei HG. Es sei „altbewährt und gut untersucht“. In Deutschland wurde es im Medikament Agyrax bis 2007 hergestellt, dann wurde die Produktion ersatzlos gestrichen. Kommentar im „arznei-telegramm“ dazu: „Entgegen den sonst von Pharmafirmen betonten ethischen Prinzipien werden kommerzielle Überlegungen (…) in den Vordergrund gestellt.“ Im selben Aufsatz wird Paspertin aufgrund fehlender valider Wirksamkeitsbelege und gewisser Risiken als „Reservemittel“ eingestuft. Embryotox stuft Paspertin als mögliches Medikament ein, jedoch nur für eine kurzfristige Behandlung. Die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) antwortete auf die an.schläge-Anfrage, welche Medikamente in Österreich bei schwerer HG üblich seien: „Paspertin ist ein allgemein bewährtes, auch für werdende Mütter gut verträgliches Medikament und wird daher üblicherweise verschrieben.“ Andere Medikamente sind laut ÖÄK nicht vorgesehen. Erfahrungsberichte vieler Frauen stellen etwa Zofran ein gutes Zeugnis zur Milderung des Brechreizes aus, es wird auch von Embryotox als (kurzfristige) Therapieform empfohlen. Die Ärztekammer allerdings beruft sich auf den Beipackzettel, wonach Zofran für Schwangere dezidiert nicht empfohlen sei. „Möglicherweise bestehen Unsicherheiten vonseiten der Verschreibenden bezüglich der Verordnung von sicheren Medikamenten“, räumt der Gynäkologe Wolfgang Eppel (AKH Wien) ein. „Bei der ersten Schwangerschaft bin ich auf der Intensivstation im AKH Wien gelandet, weil mich niemand ernst genommen hat“, erzählt eine Betroffene. Bedauerliche Einzelfälle, heißt es aus der Ärztekammer. Die Behandlung von HG sei „Teil der für Gynäkologinnen und Gynäkologen gesetzlich vorgeschriebenen Fortbildung zur Schwangerenbetreuung“. Die laut Ärztekammer „leitlinienkonforme Behandlung“ von HG besteht vor allem aus Ernährungstipps und sieht am Ende die medikamentöse Therapie mit Paspertin vor. Spezielle Ambulatorien für HG-Patientinnen gibt es nicht, Wolfgang Eppel zufolge würde sich aber eine Spezialambulanz oder ein Spezialprogramm leicht installieren lassen. Die Ärztekammer betont, dass die Anzahl der HG-Schwangerschaften im „einstelligen Prozentbereich“ liege und sie keinesfalls Frauen mit „normaler“ Schwangerschaftsübelkeit „verängstigen und pathologisieren“ wolle.

„Ihr Verlobter sollte aufhören sich zu kümmern, damit Sie sich nicht immer mehr reinsteigern.“

Hyperemesis, ein vernachlässigbares Minderheitenproblem? Laut dem jüngsten Österreichischen Frauengesundheitsbericht wurde im Jahr 2008 bei 1.018 schwangeren Frauen HG diagnostiziert. Die Dunkelziffer – HG-Betroffene, die nicht in ärztliche Behandlung gingen oder nie diagnostiziert wurden – ist vermutlich hoch: Bis zu drei Prozent der Schwangeren sind betroffen, sagt die Literatur. Bei rund 76.700 Lebendgeburten im Jahr 2008 könnten demnach insgesamt bis zu 2.300 Schwangere unter HG gelitten haben.

„Die Hyperemesis gravidarum ist ein großer Kostenfaktor für das Gesundheitssystem“, stellten K.J. Bühling und H.G. Bohnet 2006 in einem Fachaufsatz für die Zeitschrift „Frauenarzt“ fest. 1999 wurden in Deutschland 17.903 Schwangere mit HG-Diagnose stationär aufgenommen – die Krankenhausaufenthalte kosteten 32 Millionen Euro.

Nur in Einzelfällen berichten Betroffene von Gynäkolog*innen, die eine (kostengünstigere) Infusionstherapie für Zuhause anbieten. Wirksame Medikamente wie Agyrax müssen Frauen in Österreich und Deutschland seit dem Ende seiner Produktion in Auslandsapotheken bestellen – und natürlich auch selbst bezahlen.

Seit der Überarbeitung der Liste der Freistellungsgründe nach dem österreichischen Mutterschaftsgesetz 2011 ist HG nicht mehr dezidiert erwähnt. Die dafür zuständige Abteilung im Sozialministerium betont, dass diese Liste beispielhaft sei und nur die häufigsten Freistellungsgründe erwähne. „Es ist also bei jedem anderen nicht explizit angeführten Grund bei Gefahr für Leben oder Gesundheit von Mutter und Kind ebenfalls eine Freistellung möglich.“ Wenn die Hyperemesis sich über Monate nicht bessere, sei eine Freistellung begründet und dies von ÄrztInnen entsprechend zu bescheinigen.

Solange die Ursachen der Hyperemesis Gravidarum nicht ausreichend erforscht sind, lassen sich HG-Schwangerschaften nicht verhindern. Es gäbe wirksame Medikamente zur Linderung der Symptome, die jedoch entweder nicht verfügbar sind oder oft widerwillig verschrieben werden. Die Therapie ist für die Betroffenen in jedem Fall aufreibend und mitunter sehr teuer. Die Entscheidung für ein weiteres Kind fällt entsprechend schwer, denn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit steht auch eine folgende Schwangerschaft unter den Zeichen der HG.
Embryotox empfiehlt: „Frauen, die in vorherigen Schwangerschaften an HG litten, profitieren unter Umständen von einer frühzeitigen antiemetischen [gg Brechreiz, Anm.] Therapie, die gleich bei Feststellung der Schwangerschaft begonnen werden sollte.“ Informationen wie diese sollten dringend den Weg in die Gesellschaft und in jede gynäkologische Praxis bzw. Ambulanz finden. Frauen, die – anstatt sich auf ihr Kind freuen zu können – monatelang schwer krank sind, sollten sich nicht auch noch mit fehlendem Wissen und Ignoranz herumschlagen müssen.

* Aussagen von medizinischem Personal, mit denen betroffene Frauen konfrontiert waren. Quelle: Facebook-Gruppe „Hyperemesis Gravidarum“

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge September 2013.

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