Atemnot und Zahnlücken

Wenn Armut krank und Krankheit arm macht: Gesundheit ist vor allem eine Frage der Klasse. Von Brigitte Theißl

gezeichnete Silhouette eines Backenzahns mit Dollarzeichen
Foto: justgrimes/Flickr – Teeth = Money (dc sticker graffiti), CC BY-SA 2.0

Obamacare zu kippen, war eines der zentralen Wahlversprechen Donald Trumps. Auch wenn Trump kürzlich zurückruderte und verkündete, einzelne Bestandteile der Reform womöglich beizubehalten – die Gesundheitsversorgung in den USA wird unter der Präsidentschaft des Sozialdarwinisten wohl kaum sozial verträglicher werden. Trotz einiger Verbesserungen, die Obamacare mit sich brachte, sind die USA noch immer weit davon entfernt, eine allgemeine Krankenversicherung und eine für alle Menschen leistbare Gesundheitsversorgung zu bieten. „Der achtjährige Sohn einer meiner Freundinnen aus Pennsylvania hat am Wochenende Atemprobleme bekommen. Voller Angst hat sie stundenlang überlegt, ob sie mit ihm in die Notaufnahme fahren soll. Notwendige Kontrolluntersuchungen können immerhin 2.000 Dollar oder mehr kosten – die sie nicht hat“, sagt Kara, die vor über zehn Jahren von New Jersey nach Wien gekommen ist und viele solcher Geschichten erzählen könnte. Auf die Frage hin, was sie an ihrer neuen Heimat Österreich am meisten schätzt, fällt ihr als Erstes die Sozialversicherung ein: „Wenn mich FreundInnen fragen, ob ich eines Tages wieder zurück nach Amerika komme, sage ich immer: Erst, wenn es eine Krankenversicherung für alle gibt.“

Survival of the richest

Soziale Gräben finden sich aber nicht nur beim Zugang zu Gesundheitsversorgung, der sozioökonomische Status eines Menschen beeinflusst ganz generell das körperliche und seelische Wohlbefinden
maßgeblich. Die extremen Unterschiede zwischen wohlhabenden und armen Menschen in den USA machte zuletzt eine Studie von WissenschaftlerInnen rund um Ökonomie-Professor Raj Chetty (Stanford University) deutlich. Zwischen 2001 und 2014 lag die Lebenserwartung des reichsten Prozent der Frauen rund zehn Jahre über jener der ärmsten, bei Männern betrug die Differenz sogar durchschnittlich 15 Jahre. Zusätzlich stieg während dieser Zeitspanne die Lebenserwartung der obersten fünf Prozent der Frauen fast um drei Jahre, bei den untersten fünf Prozent gab es praktisch keine Veränderung.

Auch in Österreich und Deutschland sind Lebenserwartung und Wohlbefinden keineswegs klassenunabhängig. Menschen in den unteren Einkommensgruppen sind im Durchschnitt wesentlich häufiger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Depressionen betroffen, sie ernähren sich schlechter, rauchen häufiger und können seltener auf Urlaub fahren. Einer Studie zufolge, die Daten zwischen 1995 und 2005 auswertete, beträgt der Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen dem obersten und dem untersten Einkommens-Fünftel in Deutschland bei Frauen 8,4 Jahre und bei Männern 10,8 Jahre.

Stressfaktor Armut

In Österreich sammelt unter anderem die Armutskonferenz Daten zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Der aktuelle Bericht „Lücken und Barrieren im österreichischen Gesundheitssystem aus Sicht von Armutsbetroffenen“ bringt die Ausgangslange für notwendige Reformen auf den Punkt: „Das Bild ist überall das gleiche: Mit sinkendem sozialem Status steigen die Krankheiten an, die untersten sozialen Schichten weisen die schwersten Krankheiten auf und haben gleichzeitig die geringste Lebenserwartung.“ Konkret haben Menschen in österreichischen Haushalten unter der Armutsgrenze einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand als Personen in Haushalten mit hohen Einkommen und sind doppelt so häufig krank wie in solchen mit mittlerem Einkommen. Besonders aufallend ist der Zusammenhang bei psychischen Erkrankungen: Armut und Armutsgefährdungen erzeugen Ausgrenzung, Stress, Angst. Die – von der Krankenkasse finanzierte – psychotherapeutische Versorgung ist in Österreich hingegen äußerst mangelhaft.

Schlechtere Gesundheit und Lebenserwartung sind dabei nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen: Einkommenszuwächse verbessern nicht
automatisch den Gesundheitszustand, denn der sozioökonomischen Status bestimmt auch maßgeblich Gesundheitswissen und Risikoverhalten: Das soziale Umfeld und erlernte Bewältigungsstrategien prägen Menschen ebenso wie die Wohnsituation, Umweltbelastung, Risikofaktoren am Arbeitsplatz und der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Michael Marmot, zukünftiger Präsident der World Medical Associaton, betont die Bedeutung von Klassenunterschieden: „Es ist nicht ein Mangel an Gesundheitswesen, der krankmacht. Es ist nicht ein Versorgungsengpass an Aspirin, der Kopfweh verursacht. Der Grund für Krankheit liegt hauptsächlich in den sozialen Unterschieden.“

Mehrklassenmedizin

Im Vergleich mit den USA hat Österreich ein sehr gut ausgebautes, sozial verträgliches und dem Großteil der BürgerInnen zugängliches Gesundheitssystem – doch auch hierzulande finden sich zahlreiche
Lücken und Ungerechtigkeiten. „Die Existenz einer Zweiklassenmedizin in
Österreich ist eine Tatsache, immerhin haben mehr als eine Million Menschen eine zusätzliche private Krankenversicherung abgeschlossen“, sagte Judit Simon vergangenes Jahr in einem Interview mit „DiePresse.com“ – Simon hat die erste Professur für Gesundheitsökonomie in Österreich inne. Doch es gibt auch hierzulande Menschen ganz ohne Krankenversicherung: Rund 100.000 Personen sind betroffen. Oft sind es Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltstitel oder durch alle sozialen Netze gefallene Staatsbürger*innen. Sie sind angewiesen auf Einrichtungen wie AmberMed, die kostenlose medizinische Betreuung anbieten. Für Sigrid Pilz, Leiterin der Wiener Pflege- und PatientInnenanwaltschaft der Stadt Wien, ist die „Mehrklassenmedizin“ in Österreich „eine Tatsache“. „Wir haben immer wieder Beschwerden von PatientInnen, die dazu genötigt werden, Zuzahlungen zu leisten, um lange Wartezeiten zu verkürzen. Es ist klar, dass finanziell bessergestellte Personen hier mehr Möglichkeiten haben“, sagt Pilz im an.schläge-Gespräch. Lange Wartezeiten auf Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) werden in Österreich seit vielen Jahren diskutiert, die Wiener Pflege- und PatientInnenanwaltschaft nannte monatelange Wartezeiten in ihrem zuletzt veröffentlichten Bericht einen „besorgniserregenden Trend“. Besonders auffällig sei das auch bei Strahlentherapien sowie Hüft- und Knieprothesen. Wer die Kosten hingegen privat übernimmt, kann wesentlich schneller mit einem Termin
rechnen. Diese Situation kennt auch Monika Fuchs. Die 76-jährige Niederösterreicherin kämpfte mit starken Schmerzen in den Knien und sollte auf Anweisung ihres behandelten Arztes mit einer Arthroskopie – eine Form der Spiegelung – untersucht werden. Im Krankenhaus verlangte man einen MRT-Befund, den sie nicht vorweisen konnte. Um wochenlange Wartezeiten zu umgehen, bezahlte sie selbst für die Untersuchung. „Als ich im Röntgen-Institut angerufen und gesagt habe, dass ich privat für die MRT bezahle, bekam ich drei Tage später einen Termin. Gekostet hat mich das 380 Euro“, erzählt Fuchs. Auch die Knieoperation, die sich als notwendig herausstellte, wird Fuchs nun bei einem Wahlarzt durchführen lassen. Bezahlen wird sie dafür einen Kostenanteil von 600 Euro. Die Pensionistin hat Glück: Auch wenn sie dafür woanders sparen muss, kann sie es sich aufgrund ihrer einigermaßen guten Alters- und Witwenpension leisten – sehr viele andere können das nicht.

Trend zur Wahlärztin

Für Mindestpensionist*innen, Armutsgefährdete und Menschen mit niedrigem Einkommen ist eine Privatbehandlung oder der Gang zur privat bezahlten Ärztin meist undenkbar – Wahlarzt-Praxen nehmen in Österreich dennoch zu. Laut Daten der Ärztekammer blieb die Zahl der ÄrztInnen mit Kassenvertrag trotz Bevölkerungswachstum seit 2000 konstant, die Zahl jener ohne Kassenvertrag verdoppelte sich hingegen. Für Behandlungen bei Wahlärzt*innen bekommen Patient*innen achtzig Prozent des Kassentarifs – nicht des ärztlichen Honorars – auf Antrag hin rückerstattet. Patient*innenanwältin Pilz sieht indes auch die Unterversorgung in einzelnen Fächern als massives Problem: „Bei der Kindermedizin, beispielsweise der Kinderpsychiatrie, besteht in ganz Österreich eine eklatante Unterversorgung. In Wien haben Eltern im 10. oder 11. Bezirk Schwierigkeiten, überhaupt eine/n KinderärztIn mit Kassenvertrag zu finden“, sagt Pilz. Rasche Termine, Zeit für ausführliche Beratungsgespräche, die Kassenärzt*innen in überfüllten Praxen nicht haben, respektvolle Kommunikation – das sind häufige Motive von Patient*innen, die Wahl- bzw. Privatärzt*innen aufsuchen. Eine wirklich bessere medizinische Behandlung ist damit keineswegs garantiert – doch allein die persönliche Ansprache und das Gefühl, ernst genommen zu werden, können einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden haben.

Frauenspezifische Diskriminierung

Auch in der Gynäkologie sind Wahlärzt*innen äußerst beliebt – vor allem jedoch deshalb, weil es nur sehr wenige Gynäkologinnen mit Kassenvertrag gibt. Frauen, die von der oft jahrelang unentdeckten Erkrankung Endometriose – eine sehr schmerzhafte, gutartige Wucherung der Gebärmutterschleimhaut – betroffen sind, landen nach intensiver Internetrecherche oder persönlicher Empfehlung häufig bei den wenigen Experten, die es in Österreich gibt. In Wien sind das zwei Gynäkologen, die eine Privatordination betreiben – das Honorar muss also vollständig selbst übernommen werden. Ebenso sieht es bei der Hormonspirale aus, die nicht nur als Verhütungsmittel, sondern auch bei Endometriose als therapeutische Maßnahme zum Einsatz kommen kann und zwischen 400 und 500 Euro kostet. Verhütungsmittel und auch Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch werden in Österreich grundsätzlich nicht von der Krankenkasse bezahlt. Selbst den gynäkologischen Ultraschall müssen Frauen in Österreich selbst bezahlen, selbst wenn es eine medizinische Indikation gibt, etwa Zysten, die regelmäßig kontrolliert werden müssen, bleibt der Ultraschall Privatleistung. „Frauen zahlen natürlich in die Krankenkassa ein, aber wenn es um eine geschlechtsspezifische Angelegenheit geht, dann heißt es plötzlich, das ist Privatvergnügen“, sagte Christian Fiala, Leiter des GynMed-Ambulatoriums in Wien, dazu in einem Interview mit „Wienerin Online“.

Makellose Zahnreihen

Ein anderer medizinischer Bereich, der als Klassen-Marker schlechthin fungiert, ist die Zahngesundheit. Strahlend weiße, gerade Zähne sind nicht nur in Hollywood gefragt, laut einer Umfrage ist es 97 Prozent der Österreicher*innen wichtig, selbst „schöne Zähne“ zu haben. Und das kommt teuer. „Ich möchte nicht, dass man am Gebiss des Kindes das Einkommen der Eltern ablesen kann“, so bewarb der ehemalige Gesundheitsminister und jetzige Sozialminister Alois Stöger die Gratis-Zahnspange, die mit 1. Juli 2015 eingeführt wurde – allerdings nur für Jugendliche unter 18 Jahren mit massiven Fehlstellungen. „Schöne“ und gesunde Zähne sind sowohl Frage der Genetik als auch der richtigen Pflege – die als Teil des Gesundheitshandels klassenspezifisch geprägt ist. Kinder aus benachteiligten Haushalten müssen ihre soziale Herkunft somit später beim Zahnarzt oftmals teuer bezahlen – oder mit Zahnlücken geringere Chancen am Arbeitsmarkt und soziale Stigmatisierung erfahren. Festsitzender Zahnersatz wird in Österreich nicht von der Kasse übernommen, eine einzelne Krone kann in der Zahnarztpraxis bis zu tausend Euro kosten, die Wiener Krankenkasse bietet im eigenen Zahngesundheitszentrum eine Vollkeramikkrone für 600 Euro an. „Die meisten Armen haben schlechte Zähne und du musst einen gewissen Betrag zahlen, aber woher das Geld nehmen dafür?“, wird eine armutsbetroffene Person in der Erhebung der Armutskonferenz zitiert.

Politischer Auftrag

Der Zusammenhang zwischen Sozialstatus, Einkommen und Gesundheit ist unter Expert*innen weitgehend unbestritten. Für Politiker*innen liegt der Arbeitsauftrag also klar auf dem Tisch: Die wichtigste gesundheitspolitische Präventionsmaßnahme ist die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit.

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge VIII/2016.

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