„Die Krankheit hat mein Leben sehr verändert“
Sarah Kanawin hat ME/CFS, eine schwere Multisystemerkrankung. Sie kämpft dafür, dass Ärzt*innen und Politiker*innen ME/CFS-Patient*innen ernst nehmen. Protokoll: Bettina Enzenhofer
„Ich habe Long Covid und ME/CFS. Menschen sollen wissen, dass es ME/CFS überhaupt gibt. Und dass es keine psychische Erkrankung ist, sondern eine neurologische, eine Multisystemerkrankung. Vor allem sollen das die Leute wissen, von denen man abhängig ist – zum Beispiel Gutachter*innen. Denn weil sie sich nicht auskennen, ist es schwer, mit ME/CFS Pflegegeld, Rehageld oder einen Behindertenstatus zu bekommen – obwohl der Staat diese Leistungen eigentlich bieten würde. Wenn ME/CFS nicht mal von Gutachter*innen anerkannt wird, bist du total verloren.
Von den Betroffenen sind zwei Drittel Frauen, vor allem junge Frauen, auch Mädchen und Jugendliche. Wenn Frauen den Ärzt*innen ihre Symptome beschreiben, werden sie weniger ernst genommen – ich sehe hier eine Parallele zu Krankheitsbildern wie der Hysterie. Die Symptome werden als psychisch abgetan, dir wird von Ärzt*innen ins Gesicht gesagt: „Mit Ihnen ist alles in Ordnung, Sie bilden sich das nur ein.“ Aber selbst, wenn es psychisch wäre, brauche ich doch auch Hilfe! Das ist ja kein Grund, mir nicht zu helfen. Nur ist eben ME/CFS auch keine psychische Erkrankung. Einer älteren Freundin wurde gesagt: „Das ist nun mal im Alter so.“
Niemand muss alles wissen – bei Ärzt*innen fand ich die voll okay, die wenigstens gesagt haben: „Ich weiß nicht weiter, ich habe keine Idee, aber ich nehme ihre Symptome ernst und überlege mir, wo ich Sie hinschicken kann.“
Ich konnte gar nicht mehr gehen
Ich selbst war im Juni 2020 krank. Damals wusste ich nicht, dass es Corona ist, weil es nicht so viele Tests gab – aber im Nachhinein wurde das rekonstruiert. Nach meiner Erkrankung wurde ich nicht mehr richtig fit, hatte Muskelschmerzen am ganzen Körper. Ich bin zu etlichen Ärzt*innen gerannt und hatte viele Untersuchungen. Alle haben gesagt, es sei alles okay. Dann habe ich zu Weihnachten wieder mehr körperlich gemacht. Das war ein fataler Fehler und hat zu meinem größten Crash geführt. Ich hatte Fieber, konnte gar nicht mehr gehen, reden war sehr anstrengend. Mein Körper war total dysfunktional, ich bin ständig ohnmächtig geworden. Ich lag drei Monate lang im Bett, habe nichts mehr selber geschafft, außer zu essen und mit Hilfe aufs Klo zu gehen. Mit viel Unterstützung von Freund*innen und meinem Partner bin ich zu Ärzt*innen gegangen. Lange ist nichts rausgekommen. Im Fernsehen habe ich eine Sendung über ME/CFS gesehen, also bin ich zu der Ärztin aus dieser Sendung gegangen. Sie meinte, ich habe sehr wahrscheinlich ME/CFS. Ich muss mich glücklich schätzen, dass ich nach einem Jahr die Diagnose hatte, die meisten bekommen sie erst nach vier bis acht Jahren oder gar nicht, sind fehldiagnostiziert. Ein ME/CFS-Spezialist hat mir schließlich geholfen, die Symptome zu dämpfen.
Lautstärke und Licht sind sehr anstrengend
Mein Leben hat sich durch ME/CFS sehr verändert. Vorher war ich sehr aktiv, hatte viele Jobs, war politisch aktiv. Das ging plötzlich nicht mehr. Selbst Freund*innen treffen ist nur mehr schwer möglich, das geht nur an guten Tagen. Vorher war ich Doktoratsstudentin, heute kann ich nicht mehr als eine Seite am Stück lesen. Ich bin von einer sehr selbstständigen Frau zu einer sehr abhängigen geworden. Mein Immunsystem ist total schlecht. Ich reagiere sensibel auf alle Eindrücke, Lautstärke und Licht sind sehr anstrengend. Zuhause bin ich in einem dunklen Raum, der Vorhang ist zu – ich bin zur Vampirin geworden. Alltägliche Dinge sind ab einem bestimmten Level der Erkrankung zu viel. Pacing ist das einzige Instrument, das bei ME/CFS hilft, also einzuschätzen, wie viel Anstrengung okay ist. Ich plane meine Tage so, dass ich mir wenig vornehme. Duschen plane ich für einen Tag ein, am dem sonst nichts ist. Ich muss meinen Puls beobachten, er soll nicht über 110 kommen. Manchmal sitze ich einfach da und bin auf 130. Manchmal ist er nach dem Duschen auf 150. Körperliche Aktivitäten sind besser abzuschätzen als geistige, aber geistige können auch überfordern. Das markante Merkmal von ME/CFS ist die Zustandsverschlechterung nach Anstrengung – das ist ein Unterschied zur Depression, eine Verwechslung dieser Krankheiten ist fatal. Bei einer Depression wird man motiviert, mehr zu machen, aber bei ME/CFS führt das zu einer Verschlechterung, die nicht wieder gut zu machen ist. Deshalb ist auch eine Reha mit Aktivierungstherapie ganz schlecht bei ME/CFS. Eine Reha extra für ME/CFS gibt es aber noch nicht in Österreich.
Bei ME/CFS gibt es bessere und schlechtere Tage. An schlechten schaffe ich es nicht, mich in der Wohnung zu bewegen, an guten geht das noch, oder mein Partner stützt mich beim Gehen von hinten. Für draußen habe ich mir einen Rollstuhl gekauft, der gibt mir ein Stück Freiheit wieder – ich kann nun wieder selbst entscheiden, in welche Richtung es geht. In der Wohnung ist es mit Rollstuhl schwierig, die Wohnung ist dafür zu klein.
Mein Umfeld stemmt die Pflege
Mein Weg war nicht leicht, aber er war trotzdem leichter als der von Menschen, die nur ME/CFS haben. Hilfreich war, dass ich schon manche Dinge wusste, weil ich früher in der Behindertenbetreuung gearbeitet habe. Um Unterstützungsleistungen zu bekommen, muss man viele Befunde bringen und wartet ewig – auf meinen Pflegegeld-Bescheid habe ich neun Monate gewartet. Derzeit stemmt mein Umfeld das Finanzielle und die Pflege, die machen das ehrenamtlich. Auch Medikamente sind ein Problem: Chefärztliche Medikamente sind schwierig zu bekommen. Vieles wird mit der Begründung abgelehnt, es gäbe zu wenig Evidenz – aber bei ME/CFS gibt es bei allem zu wenig Erfahrung, vieles muss man ausprobieren, wie z. B. Enzyme, Nahrungsergänzungsmittel, das muss man alles selbst bezahlen. Für einen Antrag musste ich sechzig Seiten ausfüllen – das schaffen keine kranken Menschen. Und: ME/CFS trifft viele Menschen sehr jung und noch bevor sie Anspruch auf Reha-Geld haben.
Die CFS-Hilfe hat eine Umfrage gemacht und Betroffene gefragt, ob sie sich von öffentlichen Stellen gut versorgt fühlen. Nur zwei Prozent haben „ja“ gesagt. 25 Prozent schaffen nichts mehr außerhalb ihrer Wohnung, sind auf Telemedizin angewiesen. Ich bin froh über jede Person, die Telemedizin macht – das bringt mir einen Tag, an dem ich nicht liege. 75 Prozent der ME/CFS-Betroffenen sind arbeitsunfähig. Die, die noch arbeitsfähig sind, sind davon so gefordert, dass sie sonst nicht viel machen. Freund*innen treffen ist schwierig. Dadurch verschwindet man.
Ich habe ein super Umfeld, aber andere haben ein Umfeld, in dem die Krankheit nicht verstanden wird. Wenn man sich dauernd erklären muss und auf Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird, kann das auch zum Rückzug führen.
Unterstützung fehlt
Was mich jedes Mal schockiert, wenn ich den Bericht der CFS-Hilfe lese: ME/CFS ist keine chronische Erkrankung, mit der man ewig leben kann. Menschen sterben daran, und oft sterben sie sehr einsam. Es fehlt Hilfe zum Beispiel in einem Krankenhaus, wo es für schwer Betroffene zu hell und zu laut ist, und so kann dort bei einer schweren Form von ME/CFS nicht geholfen werden. 65 Prozent der Befragten sagen, sie haben Suizidgedanken, sechzig Prozent haben Todesangst. Das ist verständlich, wenn man ständig umkippt oder keine Luft mehr bekommt. Auch Suizidgedanken sind nachvollziehbar bei einer so schweren Erkrankung und einer Gesellschaft, die das nicht akzeptiert, oder wenn die Unterstützung fehlt. Es ist traurig, dass so viele Leute damit leben müssen. Ich selbst habe geschafft, einen Weg zu finden, und Hilfe von meinem Umfeld anzunehmen. Aber dass man so schwer institutionelle Hilfe bekommt und viele von ihrem Umfeld abhängig sind, ist ein massives Problem.“
Wenn du vermutest, dass du ME/CFS haben könntest oder du bereits eine Diagnose hast, kannst du dich an die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS (CFS-Hilfe) wenden.