Ich bin nicht faul!
Was bedeutet es, mit ADHS zu leben? Ein Erfahrungsbericht von Sabrina Burtscher. Protokoll: Bettina Enzenhofer
„Ich habe ADHS. Du kannst AD(H)S mit Aufmerksamkeitsdefizit haben (das wäre dann ADS), oder ADHS mit Hyperaktivität – oder beides kombiniert. Viele Personen mit ADHS können gut hyperfokussieren, also voll in ein Thema reinkippen, in dem sie dann gut sind. Mit anderen Sachen tun sie sich aber schwer. Das verursacht die Außenansicht: Du bist ur schlau, warum geht das Simple für dich nicht? Vielleicht schaut es von außen so aus, als wäre man faul, aber das ist nicht so. Manche sagen, ich müsste mich nur zusammenreißen. Einen Satz wie „Mach halt einfach!“ sollte man generell aus dem Wortschatz streichen, denn man weiß nie, was für das Gegenüber einfach ist und was nicht. Das Stigma, man wäre nur faul, ist ein großes Problem.
Her mit dem Dopamin!
Das Wort „Aufmerksamkeitsdefizit“ ist eigentlich keine gute Beschreibung von ADHS, denn das Aufmerksamkeitsdefizit ist nicht das Problem. Das Problem ist eigentlich die Aufmerksamkeit nicht so fokussieren zu können wie neurotypische(1) Leute. Es gibt Probleme mit der Dopamin-Aufnahme im Gehirn: Wir brauchen mehr Dopamin, damit wir Belohnung verspüren. Mit ADHS ist es schwierig, Motivation längerfristig aufrechtzuerhalten. Meinem Hirn wird schnell langweilig. Beim Lernen sagt mein Hirn manchmal: „Das kennen wir schon“. Stellenweise ist es dann körperlich richtig unangenehm, Sachen nochmal zu lesen. Wenn mich das Thema nicht interessiert, wehrt sich mein Hirn, ich bekomme einen Knoten in den Hirnwindungen.
Wenn ich alleine bin, fällt es mir extrem schwer, in einen Arbeitsmodus reinzukommen. Ich bekomme keine ordentliche Tagesstruktur hin. Mir hilft es, wenn eine andere Person anwesend ist, das funktioniert sogar mit Video-Call. Sobald ich nicht mehr alleine bin, kann ich drei, vier Stunden konzentriert arbeiten. Man nennt das auch „Body Doubling“. Im Rückblick fällt mir auf, dass ich das bereits zu Schulzeiten gemacht habe. Die Anwesenheit meiner Mutter zuhause war mein „Body Double“. Es macht mir aber auch ein ungutes Gefühl, ich will nicht unselbstständig sein oder abhängig von anderen Leuten. Manchmal fühlt sich das ur mies an, als wäre ich ein Klotz am Bein oder zu bedürftig.
Schau, ein Schmetterling!
Ich habe meine Diagnose vor knapp zwei Jahren bekommen. Vor der Diagnose weißt du nicht, was mit dir falsch ist, viele bekommen zuerst auch eine Depressions- oder Angstdiagnose. Ich kann zum Beispiel Präsentationen auf großen Konferenzen halten. Aber das eigene Zimmer sauber halten? Mich täglich ernähren? Das ist für mich schwierig. Seit ich mich mit dem Thema mehr auseinandergesetzt habe, ist mir klar geworden, dass ich wohl schon in der Volksschule ADHS hatte. Es ist ein Klischee, dass nur Kinder ADHS hätten und das nur eine Phase wäre. Über die Jahre lernst du aber, was für neurotypische Menschen funktioniert und was nicht. Du versuchst, dein Verhalten anzupassen, du maskierst.
Wenn du nicht weißt, wie etwas funktioniert, fühlt sich bei ADHS jede Aufgabe riesig an. Es hilft dann, Sachen in Einzelteile zu zerlegen. Was mir kürzlich geholfen hat, meine Masterarbeit fertig zu bekommen, sind „Accountability Buddies“: Personen, mit denen ich mir Deadlines ausmache – um zum Beispiel zu erzählen, wie viel weitergegangen ist, oder auch warum nichts weitergegangen ist.
In Gesprächen werde ich schnell abgelenkt – oh schau, dort ist ein Schmetterling! Bei Video-Calls stelle ich deshalb den Call auf Vollbild und entferne meine Smartwatch vom Handgelenk, damit mich währenddessen nichts stören kann. Ich habe auch Kopfhörer auf, weil das Ablenkungen wegnimmt. Damit ich bei der Sache bleibe, muss ich Teile von meinem Hirn anderweitig beschäftigen: Während ich mit dir rede, spiele ich mit dem Gummiringerl oder schaue durch den Raum. Das heißt nicht, dass ich dir nicht zuhöre! Meine Ohren sind da, aber meine Augen müssen sich anders beschäftigen.
Sorry, was war das Thema?
Zu den Dingen, die mir einen Anstoß hinsichtlich ADHS gegeben haben, gehört ein Comic von Dani Donovan zu „ADHD Storytelling“. Damit kämpfe ich auch. Ich kann die Ungeduld von anderen verstehen, wenn ich eine Geschichte erzähle und weit aushole. Aber ich habe dafür Gründe. Ich kann nicht davon ausgehen, dass andere alle Hintergründe der Geschichte kennen. Und falls doch, kann man mich darauf ansprechen. Ich habe auch viele „How to ADHD“ Videos gesehen und oft geheult, weil ich mich endlich verstanden gefühlt habe. In meinem persönlichen Umfeld hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt viel negatives Feedback bekommen. Ich gelte als sehr leistungsfähig und viele haben meine Schwierigkeiten nicht verstanden.
Wenn ich gestresst bin, zeige ich viele Symptome. Ich habe ein extrem schlechtes Vorstellungsvermögen – mir hilft es, Sachen aufzuschreiben. Mein Arbeitsspeicher ist massiv reduziert. Wenn du mir Dinge aufzählst, merke ich mir die schlecht. Mittlerweile habe ich mein persönliches Umfeld umgestaltet: Freund_innen, Bekannte, Arbeitskolleg_innen und sogar mein Chef verstehen meine Schwierigkeiten, damit gibt es viel weniger Frust.
Die Diagnostik habe ich in Wien in der Sigmund Freud Uni gemacht, dort gibt es einkommensabhängige Tarife, ich habe ungefähr 300 Euro bezahlt. Die Kosten und der Zeitaufwand sind mega problematisch, das muss man sich erstmal leisten können. Selbstdiagnosen sind leider oft stigmatisiert. Auf einer Meta-Ebene ist die Diagnostik lustig, weil sie von dir verlangt, immer wieder dieselben Fragen zu beantworten mit marginalen Änderungen. Meine Lieblingsfrage war in etwa so: „Wenn Sie in Gesprächen bereits wissen, worauf eine andere Person hinaus will – wie schwer ist es für Sie, die Person nicht zu unterbrechen?“ Die Frage war noch viel länger, und ich wusste natürlich bereits währenddessen, worauf sie abzielt. Darf ich sie bitte beantworten?
Durch die Diagnose habe ich mich selber mehr verstanden und akzeptiert. Ich kann besser damit umgehen, wie mein Hirn funktioniert. Nun suche ich gezielt danach, was bei ADHS hilft. Wenn ich Podcasts höre, darf ich daneben nichts anderes machen, sonst bin ich auf Durchzug. Und wenn ich bei Vorträgen zuhöre, dann hilft es mir, wenn ich von Anfang an die Folien habe, damit ich mir Notizen machen kann. Was bei mir viel verbessert hat: Bullet Journals. Die Idee ist: Du hast einen Kalender, den du auf dich selbst anpassen kannst. Das ist praktisch, weil du bei ADHS immer adaptieren musst, wie dein Kalender aussehen soll, damit du dranbleibst und ihn verwendest.
Medikation habe ich nicht in Angriff genommen, aber ich denke darüber nach. Bei ADHS ist es schwer, Dinge regelmäßig zu machen. Die ADHS Medikamente musst du aber regelmäßig nehmen.
Lass uns anders tun
Ich gehe sehr offen damit um, dass ich ADHS und weitere Diskriminierungserfahrungen habe: Ich war die Erste in meiner Familie mit Matura, bin die Erste mit einem Masterabschluss, ich komme vom Land, bin eine Frau in der Technik, und ich habe ADHS. Das habe ich erst unlängst auf einer Podiumsdiskussion gesagt. Ich wollte den Zuhörer_innen klar machen: Es gibt erwachsene Leute mit ADHS, es gibt Frauen mit ADHS, und es gibt Personen mit ADHS in der Technik. Gleichzeitig wollte ich auch erklären, warum ich ein Gummiringerl am Handgelenk habe: Es hilft mir, etwas in den Händen zu haben. Ich sage zu Leuten zum Beispiel auch: „Moment, das hier ist ein ADHS-Symptom, warte ein wenig, ich brauche noch.“ Es ist gut, Dinge benennen zu können. Viele Personen mit ADHS kennen auch „Rejection Sensitivity“ – dass du extrem sensibel bist Abweisung gegenüber, egal ob sie tatsächlich passiert ist, du sie nur als Abweisung interpretiert hast, oder nur befürchtest, abgewiesen zu werden. Es hilft mir, dass ich jetzt zu Leuten sagen kann: „Ich hab das Ding mit Rejection Sensitivity. Es wäre hilfreich, wenn du möglichst explizit sein kannst.“
Sich zu outen, ist keine einfache Entscheidung. Meistens hat sich die Person mit ADHS schon sehr lange darüber Gedanken gemacht, ob und wie sie das formuliert. Es ist extrem viel Arbeit, überhaupt an dem Punkt anzukommen und zu sagen: „Mein Hirn funktioniert anders.“ Viele Leute sagen, ADHS sei ihre Superpower, aber bei mir ist das nicht so. ADHS ist nicht meine Superpower, ich habe massive Probleme. Ich bin darauf neidisch, wie Leute ohne ADHS tun können.
Auf Twitter habe ich einen Thread zu ADHS geschrieben. Seither melden sich immer wieder Leute bei mir und sagen: „Danke, ich habe gar nicht gewusst, dass ich das gebraucht habe.“ Heute gibt es den Hashtag ADHS auf Social Media, es gibt mehr Sichtbarkeit und Information, die nicht stigmatisierend oder pathologisierend ist, zum Beispiel von Jesse J. Anderson auf Instagram.
Manche Personen sagen: „Heute haben alle ADHS“. Das stimmt nicht. Ich kann mir die Aussage nur so erklären: Variante 1 – die Person hat selbst ADHS und weiß es noch nicht; Variante 2 – ja, neurotypische Leute haben einzelne Symptome, aber bei ADHS hat das einen Einfluss über längere Zeit auf dein alltägliches Leben. Statt „Mimimi, führ dich nicht so auf“, sollte man sagen: „Oh, das habe ich auch, dann lass uns anders tun, dann geht es uns beiden besser“. Aber unsere Gesellschaft macht das nicht. Ich will kein Mitleid, ich will einfach Verständnis. Niemand verwendet ADHS als Entschuldigung. Es ist einfach nur eine Erklärung: „Hi, mein Hirn funktioniert anders in folgenden Belangen, bitte nimm Rücksicht.““
Fußnote:
(1) Neurotypisch meint Menschen, die nicht im Autismus-Spektrum sind, ADHS oder weitere neurologische Variationen haben (wie zum Beispiel Dyslexie, Tourette etc.). Im Gegensatz dazu werden Menschen mit ADHS, Menschen im Autismus-Spektrum etc. als neurodivergent bezeichnet.
Sabrina Burtscher hat 11 Jahre von der Erstinskription bis zum Masterabschluss gebraucht – weil sie zusätzlich auch immer andere Dinge gemacht hat. Als Studienvertreterin auf lokaler und bundesweiter Ebene und in verschiedenen Vereinen hat sie sich gegen Diskriminierung engagiert. Nebenjobs haben Berufserfahrung und Budgetaufbesserung gebracht. In Workshops und Vorträgen hat sie ihr Wissen rund um Gesellschaft, Diskriminierung und Informatik geteilt. Auch so kann ADHS aussehen.