Autismus: Eine Selbstwerdung
Wie mir meine Diagnose half, zu mir zurückzufinden. Von Felicia Steininger
Wenn du in den Spiegel schaust, was siehst du? Siehst du einen Menschen voller Stärken und Schwächen, die du lieben gelernt hast? Siehst du einen schönen Menschen, oder siehst du eine Summe an Makeln, die du um alles in der Welt ändern würdest, wenn du könntest?
Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich mich lange Zeit überhaupt nicht. Ich sah, wie ich aussah – ein dünnes, blasses Mädchen, das mir mit ausdruckslosen Augen aus dem Spiegel entgegenblickte. Aber dieses Mädchen war eine Fremde für mich. Ich wusste nicht, wie sie sich in ihre Umgebung einfügte, wie sie auf andere wirkte, ob man sie schön oder hässlich fand, worin sie gut und worin sie schlecht war.
Es half nicht, dass alle Menschen, die ich traf, irritiert wirkten, sobald sich nur unsere Blicke trafen, dass meine Klassenkamerad:innen sich entweder über mich lustig machten oder mich bemitleideten, dass auch meine Familienmitglieder – bei aller bedingungslosen Liebe und Geduld, die ich von ihnen bekam – oft genervt von mir wirkten, auf eine andere Weise als von meiner Schwester.
Alle Menschen auf der Welt schienen auf den ersten Blick zu merken, dass etwas an mir anders war, und ich zerbrach mir mein ganzes Leben lang den Kopf darüber, was das sein könnte.
Wie ein Alien
Ich selbst fand mich eigentlich recht normal. Aber gleichzeitig nahm ich mich auch als Außerirdische wahr, die sich auf unbeschreibliche Weise von allen um sie herum abhob. Und ich wollte nichts mehr, als mich endlich in die Gemeinschaft einzufügen, endlich als eine von ihnen angenommen zu werden.
Ich begann, mein eigenes Verhalten und die Reaktion anderer darauf akribisch zu prüfen – was kam gut an, was schlecht, was konnte ich schlechter als andere? Schnell stieß ich auf alle möglichen Fehler, die ich meiner eigenen Beobachtung nach am laufenden Band machte – ich sprach zu leise, ich redete über langweilige Dinge, ich konnte nicht gut erzählen, ich kleidete mich nicht modisch genug – kein Wunder, dass mich niemand leiden konnte!
Ich passte mich an, so gut ich konnte, täuschte Interesse an den Interessen aller anderen vor, sprach nicht mehr über all die Sachen, die mich eigentlich interessierten, versuchte mir die Sprache meiner Mitschüler:innen anzugewöhnen – doch was ich auch tat, es war nie genug. Es war, als wäre mir das Wort „Alien“ auf die Stirn tätowiert, alle wussten sofort, dass ich nicht zu ihnen gehörte.
Je genauer ich hinschaute, desto mehr Fehler glaubte ich zu finden, und meine Stärken lösten sich vor meinen Augen in Luft auf. Was war bloß los mit mir, dass ich so viele Dinge nicht schaffte, die andere taten, ohne überhaupt darüber nachzudenken?
Wer bin ich eigentlich?
Die Antwort auf diese Frage bekam ich erst mit 21: durch meine Autismus-Diagnose. Es dauerte lange, bis ich – nach erneuter Selbst-Inspektion – auseinandersortiert hatte, welche meiner scheinbar völlig zusammenhanglosen Schwächen zu dieser Antwort gehörten und welche nicht, und noch länger bis ich sie lieben gelernt hatte und begann, Stärken darin zu sehen.
Ich hatte so viele Gedanken daran verschwendet wie alle anderen zu werden, dass ich vergaß, wer ich eigentlich war. Es kostete mich viel Mühe meine Interessen wiederzuentdecken, mich ihnen hinzugeben, und sie auch anderen gegenüber zugeben zu können, ohne zu fürchten, von meinem Gegenüber verurteilt zu werden. Aber schließlich hatte ich es geschafft, und dann begriff ich auch endlich, wie absurd meine Denkweise all die Jahre eigentlich gewesen war. Ich hatte mein Verhalten vollkommen danach ausgerichtet, nicht komisch angeschaut zu werden. Aber was ist schon die Meinung völlig fremder Menschen im Vergleich zur eigenen seelischen Gesundheit?
Mich würden Menschen immer verwirrend finden, vielleicht würde ich sie auch verunsichern, denn Menschen mögen grundsätzlich einmal nichts, was sie nicht kennen, auch nicht, wenn es nur minimal anders ist als das Gewohnte – wie ich aus Erfahrung sagen kann. Aber das konnte ich nicht ändern, und mich selbst konnte ich offensichtlich auch nicht ändern, also blieb nichts anderes zu tun, als es zu akzeptieren.
Das war die ganze Lösung meines Problems. Sobald ich das verstanden hatte, konnte ich mich endlich wieder als Ganzes akzeptieren, und ich wuchs wieder mit mir selbst zusammen.
Sei lieb zu dir
Das ist übrigens eine Erkenntnis, die nicht nur für Neurodivergente wertvoll ist. Es gibt ja viele Menschen, die ihren Selbstwert zu einem großen Teil davon abhängig machen, was andere Menschen von ihn halten. Wenn du auch so ein Mensch bist, möchte ich dir einen Rat geben: Hör auf damit. Ich verspreche dir, dass es das nicht wert ist. Sei lieb zu dir selbst. Wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, und du beginnst in Gedanken wieder, die Fehler zu zählen, die du darin zu sehen glaubst, frag dich, was das Schlimmste ist, das dir aufgrund dieses Fehlers passieren könnte. In den meisten Fällen ist das wahrscheinlich nicht viel mehr als ein schiefer Blick. Und dann frag dich, ob diese Konsequenzen wirklich das Ausmaß an Gedanken rechtfertigen, die Du an diesen „Fehler“ verschwendest. Ich glaube, ich weiß schon jetzt die Antwort darauf.
Felicia Steininger rezensiert beim Online-Magazin „andererseits“ Filme über Menschen mit Behinderungen (Reihe „Unter der Lupe“).