An der Objektivität der Hirnforschung kratzen

Sigrid Schmitz forscht an der Schnittstelle von Biologie und Gender Studies und nimmt insbesondere das gegenderte Gehirn in den Blick. Bettina Enzenhofer sprach mit ihr über die Objektivität der Hirnforschung, feministische Naturwissenschaftskritik und die Wechselwirkungen von Biologie und Kultur.

Kunst von Alex Jürgen*: Papierschnitt von einem menschlichen Gehirn
© Alex Jürgen*

Bettina Enzenhofer: Sie haben 2004 in einem Artikel gefragt: „Warum scheint es so wichtig, so verkaufsträchtig und so äußerst attraktiv zu sein, Geschlechterunterschiede im Gehirn binär und eindeutig festzuschreiben und biologisch zu begründen?“ Diese Frage ist noch immer aktuell – vergegenwärtigt man sich den Erfolg von Büchern mit Titeln wie „Das weibliche Gehirn: Warum Frauen anders sind als Männer“, entsprechenden Aufmacherstorys von Magazinen, aber auch die Finanzierung und Publikation von Studien, die nach Geschlechterunterschieden suchen bzw. diese zum Ergebnis haben. 

Sigrid Schmitz: Da sind mehrere Punkte relevant, die sich auch nach der Frage strukturieren: Warum ist bspw. das Thema auf der Ebene der wissenschaftsnahen Journale oder der Wissenschaftsressorts von z.B. „Spiegel Wissenschaft“ immer wieder so prominent? Weil es verkaufsträchtig ist. Inwieweit diese Beiträge auch den Anspruch haben, den/die BildungsbürgerIn mit Wissen zu versorgen, sei dahingestellt. Interessant finde ich: Es gibt immer wieder einen ganz starken Trend zu Binaritäten und zu Re-Biologismen. Dazu kommt, dass es immer verkaufsträchtiger und scheinbar einfacher ist, alles in diesen einfachen Binaritäten zu beschreiben, also komplexe Dinge sehr einfach zu machen. Allerdings verläuft das in Wellen: Eine Welle von deterministischen Darstellungen wird häufig von einer kritischen Welle, in der zumindest die biologische Festschreibung von Geschlechterunterschieden hinterfragt wird, abgelöst. Zurzeit kommt wieder die Welle der Determination. In Vorträgen kommt dazu oft der Einwand von Neurowissenschaftlerlnnen: „Wir können nichts dafür, was die JournalistInnen aus unseren Sachen machen.“ Ich denke aber, WissenschaftlerInnen tragen sehr wohl auch Verantwortung dafür, wie ihre Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit ankommen. Auf der anderen Seite – weniger in Deutschland, viel stärker im angloamerikanischen Raum – ist es auch ein Qualifikationskriterium, wenn bekannte Naturwissenschaftlerlnnen auch populär bzw. populärwissenschaftlich schreiben. 

Was Bücher wie die von Pease & Pease oder Louann Brizendine betrifft: Das sind schlicht Werbebücher. Pease & Pease sind Kommunikationstrainerlnnen. Die Botschaft ihres ersten Buches war: „Ihr müsst zu uns kommen, weil ihr könnt euch nicht verstehen.“ Pease & Pease haben in ihren Büchern allerdings gar keine neurowissenschaftlichen Referenzen für ihre kruden Behauptungen – im Gegenteil zu Brizendine: Sie hat unglaublich viele Referenzen in ihrem Buch, das fand ich immer hochproblematisch. Denn – das wurde ja sehr deutlich bis in die wissenschaftlichen Journale aufgedeckt – wie sie die Quellen referenziert, ist zum großen Teil falsch. Ihre Aussagen lassen sich entweder gar nicht aus den Originalstudien belegen, oder es steht zum Teil das Gegenteil in den Artikeln. Sie hat mit diesem Rekurs auf „Ich bin naturwissenschaftlich“ versucht, ihre Verkaufsauflage zu steigern – und musste zumindest einige der Angaben (z.B. die Aussage, dass Frauen 20.000 Wörter mehr beherrschen) in der Neuauflage ihres Buches zurückziehen. 

Auf der anderen Seite: Warum wird das so gut angenommen? Auf der individuellen Ebene geht es darum, dass so Sicherheit geschaffen wird. In einer Welt, die immer unsicherer wird – individualisiert, wechselnd – ist der biologische Körper der letzte Hort der Sicherheit. „Die Wissenschaft hat festgestellt“ – also eine starke Akzeptanz naturwissenschaftlicher Faktizität, die einfach so geglaubt wird – passt hier gut hinein. Es gibt auch eine gesellschaftspolitische Ebene: So werden Rollen, Hierarchien, Machtpositionen legitimiert. Das spielt nicht unbedingt explizit, aber implizit sicher immer eine Rolle.

Gleichzeitig haben wir einen Diskurs, der in den letzten Jahren sehr wirkmächtig geworden ist, wo alles sich auf das Neuro, also das Gehirn, bezieht; mit einem impliziten „Neuro ist Biologie, ist durch die Natur festgelegt.“ Diese cerebrale Subjektvorstellung – „we are our brains“ – wirkt natürlich auch.

In der Hirnforschung werden zwei Gruppen von Menschen miteinander verglichen, bspw. Frauen mit Männern. Warum liegt der Fokus eigentlich auf den Unterschieden und nicht auf den Gemeinsamkeiten? 

Weil diese Konstruktion von zwei binären Kategorien ein grundlegendes Muster ist, das wir seit Jahrhunderten haben. Wir hatten gesellschaftlich immer ein Zweigeschlechtermodell, und auch die medizinische Auffassung des Eingeschlechtermodells im 17./18. Jahrhundert, die immer wieder – auch in der Genderforschung – zitiert wird, ist so einheitlich nicht gewesen und korrespondierte mit einem hierarchischen Zweigeschlechtermodell in der Gesellschaft. Im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wurde die Zweigeschlechtervorstellung von den Genitalien auf immer mehr Organe des Körpers übertragen, in die Knochen und bis ins Gehirn, um gesellschaftliche Positionierungen zu legitimieren. Wenn ich zwei einfache Kategorien habe, ist das auch ein Legitimations- und ein Hierarchisierungsmoment. Wenn ich viele habe, wird das schon schwieriger.

Dazu kommt, dass sich mit diesen Vorstellungen von Kategorisierungen die Methode der experimentellen Naturwissenschaft so entwickelt hat, dass sie von den Grundmethoden eine Differenzmethodik ist, für die zwei oder zumindest wenige Kategorien gebildet werden müssen. Es greifen hier die gesellschaftliche und die methodische Ebene ineinander. 

Bei der Suche nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern stellt sich auch die Frage, welches Verständnis von Geschlecht die jeweiligen Forscher_innen haben. 

In Artikeln tauchen wahllos Sex oder Gender im Titel auf, gemeint ist normalerweise Sex. Kategorisiert wird nach der Selbstangabe, d.h. ob jemand „männlich“ oder „weiblich“ ankreuzt, und das wird als Sex genommen. Es guckt ja niemand nach den Genitalien oder Hormonen, es sei denn, das steht im Zentrum der Untersuchung. Es fragt auch niemand nach der Geschlechtsidentität – es sei denn in speziell darauf fokussierenden Untersuchungen. Es gibt zwar auch ein paar Untersuchungen, die Erfahrung berücksichtigen, wenn es in Richtung Plastizitätskonzept geht. Da könnte eher Gender gemeint sein. Aber normalerweise geht es in den neurowissenschaftlichen Untersuchungen nur bis zu der Ebene bzw. zu der Frage: Wie beeinflusst denn Umwelt jetzt die Biologie? Es geht nicht so weit, das wirklich vernetzt zu denken, also wie beeinflussen sich Biologie und Kultur gegenseitig und beständig. Und es bleibt in den Argumentationen und Fragen immer noch ein Rest Sex, d.h. „irgendwas muss doch da vorher sein.“ 

Den Gender-Ansatz oder einen Feminist Science-Ansatz, der sich auf die Ebene „Gender in Science“ begibt und fragt, wie geschlechtliche Vorstellungen die Methoden und Interpretationen selbst beeinflussen – das verstehen Neurowissenschaftlerlnnen nur schwer. Sie können es auch erst einmal nur schwer verstehen, weil das Verständnis, wie tiefgreifend wissenschaftliches Arbeiten und Denken von kulturellen Faktoren und Entscheidungen beeinflusst wird, den grundsätzlichen Paradigmen naturwissenschaftlicher Objektivität (das Experiment sei eine neutrale Methodik zum Entdecken von Fakten) widerspricht. Hier braucht es viel Diskussion. Viele wollen das aber ganz explizit nicht, weil es am Gebäude der Objektivität kratzt, und darauf fußt die Wirkmacht der Naturwissenschaft. Und für viele, die erst einmal offen sind, sind solche Ansätze auch schwer zu verstehen in dem Sinn: Man ist so erzogen und hat gelernt, dass der/die Forscherin sich zurücknehmen muss. Sie haben gelernt: Wir müssen operationalisieren, weil dadurch objektivieren wir, wir müssen das Studiendesign neutral machen. Und trotzdem zu verstehen, dass man dem nicht entkommt und dass der einzige Weg ist, den eigenen Ausgangspunkt transparent zu machen – das ist dann ganz schwierig. Deshalb spielt diese Ebene nie oder ganz selten eine Rolle. 

Ich dachte, die Neurowissenschaften sind mittlerweile schon etwas sensibilisierter gegenüber Forderungen der Genderforschung, indem z.B. Studienautor_innen den eigenen Standpunkt offenlegen und Entscheidungsschritte im Forschungsprozess transparent machen sollen? 

Natürlich werden sie sensibilisierter. Gerade in der Psychologie weiß man: Es ist wichtig, nicht nur das Geschlecht der Versuchsperson anzugeben, sondern weiter zu differenzieren, weil Geschlecht nicht die einzige relevante Kategorie ist. Diese ForscherInnen benutzen zwar nicht den Begriff der Intersektionalität, aber Alter und Erfahrung werden zumindest schon häufiger berücksichtigt. 

Diskutiert wird außerdem, dass die Methoden Einfluss haben auf die Ergebnisse. Insbesondere, weil es immer Studien mit relativ geringen Probandlnnenzahlen sind. Die Frage der Vergleichbarkeit der Studien ist ein intensives Thema. Es gab mal die Idee, beim Brain Imaging von allen Forschenden die Rohdaten zu nehmen. Das ist aber nicht durchgekommen, weil es sehr viel Widerstand gab. 

Warum? 

Das ist interessant! Da heißt es u.a.: „Da könnte ja jemand etwas anderes herausfinden als ich.“ 

Das sagen die Forscher_innen selbst?

Ja, das sagen sie. Heute ist man zwar methodenkritisch und sagt, dass man mehr Meta-Analysen machen muss. Doch die Erkenntnis, dass jedes Vorgehen per se Einflüsse hat, das ist ganz schwer.

Sehen Sie Potenzial, dass das besser werden könnte?

Das hoffe ich doch! Sonst würde ich keine Konferenzen organisieren. Natürlich gibt es immer wieder Forschende, die sich darüber auch Gedanken machen.

Sie haben vorhin den Plastizitätsansatz erwähnt. Was meint Plastizität, und wie populär ist dieses Konzept heute in der Hirnforschung? 

Plastizität kam in den 1980er Jahren erstmals bei Tierversuchen auf: Ratten, die in einer reizreichen Umgebung aufwuchsen, haben einen dickeren Kortex, mehr Verschaltungen. Das war damals ein Exotikum in der Forschung. Inzwischen ist Plastizität Mainstream. Und es ist ebenfalls verkaufsträchtig, auch populärwissenschaftlich. Kaum ein renommierter Neurowissenschaftler würde heute sagen: „Das ist rein Biologie und determiniert“, sondern: „Das ist ein bio-psycho-soziales Modell.“ Aber auch bei denen, die es so sehen, ist die Vorstellung immer noch: „Aber es gibt eine – wenn auch noch so kleine – biologische Disposition des Unterschieds.“ Die Vorstellung, dass man Biologie und Erfahrung insbesondere im Kortex nicht trennen kann, ist ganz schwierig. Die Biologin Anne Fausto-Sterling sagt: „We are 100% nature and culture.“ Schon von Anfang an, gerade bezogen auf das Gehirn ist es am Deutlichsten, muss klar sein, dass Erfahrung, Umwelt und biologisch-materielle Prozesse immer zusammenwirken, und zwar immer wechselseitig. Das heißt, es geht nicht um die Vorstellung, Biologie sei formbar, würde aber nur durch die Umwelt geformt, sondern es ist eine Wechselwirkung. Ich finde in vielen Bereichen den Plastizitätsansatz sehr wichtig, um gegen eine Biologisierung, die populär immer noch ganz stark ist, zu sensibilisieren.

Wie müssten Studien aussehen, die dem Plastizitätsansatz gerecht werden können? Gibt es bereits Untersuchungen, die auf das Wechselspiel von Kultur und Biologie eingehen? 

Es gibt bei Tieren unendlich viele Untersuchungen, bis zur zellulären Ebene, wie sich durch bestimmte Einwirkungen Vernetzungen ändern. In der Medizin tut sich sehr viel, bspw. muss nach einer Hirnverletzung sehr früh therapiert werden, denn man weiß, dass nach einem Schlaganfall andere Hirnbereiche die Funktion übernehmen können. An gesunden Menschen wurden ein paar Untersuchungen gemacht, die auf Plastizität hindeuten – wobei man die methodisch auch kritisch sehen muss. Sprachuntersuchungen etwa zeigen, dass die Sprachbiografie auf die funktionelle Entwicklung strukturell Einfluss hat, das heißt, die Aktivierungsareale im Gehirn sind unterschiedlich, je nachdem, ob jemand früh oder spät eine zweite Sprache erlernt hat. Es gibt eine Untersuchung zum Jonglieren, die ich ganz schön finde, weil sie zeigt, dass das auch relativ kurzfristig passieren kann. Studierende wurden drei Monate lang trainiert, und die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich im Gehirn dadurch die Vernetzung ändert, und wenn das Training aufhört, dass sich die Vernetzung auch wieder ändert.

Im Geschlechterbereich gibt es aber kaum oder, genau genommen, bisher keine Untersuchungen. Das ist auch sehr schwierig, denn wie soll ich das denn machen? Ich müsste irgendetwas haben, das hoch gegendered ist. Dann muss ich aber wissen, was jetzt die Gender-Kategorie ist. Die müsste ich aber operationalisieren, also wieder vereinfachen. Und damit tappe ich eigentlich erneut in die Falle und breche im Grunde genommen mit einem kritischen Paradigma. Man kann Untersuchungen zur Plastizitätstheorie ebenso vorwerfen, dass auch sie methodisch problematisch ist. 

Man kann es aber, das ist mir immer wichtig, auf einer feministisch-wissen­schaftskritischen Ebene noch einmal anders sehen. Da geht es um die Frage: Können wir denn Kriterien benennen, warum bestimmte Ansätze relevanter sind? Und da ist für mich die Plastizitätstheorie als ein Konzept, das mehr Erklärungen, mehr Kategorien und mehr Wechselwirkung hineinnimmt, eine adäquatere. Denn auch wenn die methodische Anwendung nicht unproblematisch ist, ist die Plastizitätstheorie ein adäquateres Konzept im Sinne dieser Kriterien. Es nimmt mehr Heterogenität und Bedeutungszuschreibungen hinein, und das ist mir das Wichtige dabei.

Sie kritisieren das Plastizitätskonzept auch noch auf einer anderen Ebene, nämlich den Neurokulturen. 

Was in den letzten Jahren passiert im Zuge dieser Rekurrierung auf die Biologie und auf den modernen Hirn­-Determinismus, ist hochinteressant: Es geht darum, dass das Gehirn zum Zeitpunkt der Untersuchung vollständig vorhersagen soll, was wir denken, wie wir uns entscheiden – die ganze Debatte um den freien Willen. Und dabei ist es für diesen Neurodeterminismus primär einmal vollkommen egal, ob das Gehirn zum Untersuchungszeitpunkt so ist, wie es ist, weil es angeboren ist oder weil es gelernt hat. Aber gerade weil das Gehirn sich verändert, bleibt immer die Vorstellung vorhanden: „Da ist etwas, das können (und müssen) wir jetzt formen.“ Zum Beispiel in der Neuropädagogik: Es wird diskutiert, inwieweit die Neurowissenschaft sagen kann, wie Kinder lernen sollen. Weil sie die wirkmächtige Position der Naturwissenschaft einnehmen, maßen sich Neurowissenschaftlerlnnen – die keine Pädagoginnen sind! – an, Aussagen zu machen, die über die Aussage: „Das Gehirn ist plastisch und vernetzt sich“ weit hinausgehen. Aufgrund dieser Erklärungsmacht der Neurokultur inklusive ihrer neuen Determinismen stehe ich inzwischen der Plastizitätsdiskussion sehr ambivalent gegenüber. Ich halte sie in vielen Bereichen immer noch für wichtig und verwende sie auch, aber man muss auch klar machen, dass damit nicht unbedingt der Biologismus verschwindet.

Sigrid Schmitz ist Biologin und Genderfor­scherin der Science Technology Studies. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte sie an der Universität Wien die Professur für Gender Studies inne.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge März 2012.

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