„Armut ist keine soziale Hängematte“

Daniela Brodesser kämpft gegen die Beschämung von Armutsbetroffenen und gegen eine Politik, die Armut erzeugt. Ein Gespräch mit Brigitte Theißl über kräftezehrende Elternabende, Herzrhythmusstörungen und die Kraft der Vernetzung.

Porträtbild von Daniela Brodesser. Sie hat schulterlange rotblonde Haare, eine Sonnebrille im Haar und trägt ein weißes Sakko. Im Hintergrund Wohnungen und Büsche.
Daniela Brodesser, Foto: privat

Brigitte Theißl: Sie setzen sich als Aktivistin gegen Armut und Beschämung ein, auf Twitter berichten Sie auch offen über ihre eigene Armutserfahrung. Was hat Sie ermutigt, diesen Schritt zu gehen?

Daniela Brodesser: Im Grunde war es Frustration. Ich war damals mehrfach geringfügig beschäftigt und habe auf Leistungen wie Arbeitslosengeld keinen Anspruch gehabt, mein Mann war freier Dienstnehmer. In manchen Monaten hat er 800 Euro, dann wieder 1.000 Euro verdient – und wir sind sechs Personen. Wir haben auf einem umgebauten Bauernhof im Mühlviertel gewohnt, Anonymität gab es dort keine. Damit wir die Miete verringern konnten, habe ich bei unserem Vermieter gekocht, geputzt, Schulaufgaben mit seinen Kindern gemacht. Mit der Bezahlung der Betriebskostenabrechnung waren wir aber im Rückstand. Und genau in diesen Sommerferien habe ich mir erlaubt, einmal mit den Kindern ins Freibad zu gehen, 4,20 Euro hat der Eintritt gekostet. Als wir abends zurückgekommen sind, stand dort der Vermieter mit den Nachbar*innen und hat mich vor allen niedergemacht. Was ich mir einbilde, mein Geld fürs Freibad rauszuschmeißen, wenn ich doch mit den Betriebskosten im Rückstand bin. Diesen Moment werde ich mein Leben lang nicht vergessen. 

Dieses Erlebnis hat motiviert, den Ärger öffentlich zu machen?

Ja, ich hatte zu diesem Zeitpunkt wirklich schon viel Beschämung und Demütigungen erlebt, aber das war ein einschneidendes Erlebnis. Zuerst habe ich mich nur mehr in der Wohnung verbarrikadiert. Ich wusste, das ganze Dorf redet über mich. Aber dann habe ich auf Twitter einfach den Frust rausgeschrieben. Daraus hat sich eine Dynamik entwickelt, viele Menschen haben sich bei mir gemeldet, die Ähnliches erleben haben. Aber auch Nicht-Betroffene, die meinten: So habe ich Armut überhaupt noch nie gesehen. So ist mein Account gewachsen. Abgesehen von den üblichen Trollen und den Neoliberalen gab es sehr viel Wertschätzung. Das stärkt das Selbstbewusstsein, ich hatte wieder die Kraft, mich selbst anders zu sehen. Dass ich nicht die Versagerin bin, wie es mir eingeredet wurde.

Viele Armutsbetroffene berichten von Scham und Beschämung – was bewirkt diese Beschämung?

Rückzug. Es ist ein schleichender Prozess, die Erfahrungen reihen sich aneinander. Ob es Elternabende in der Schule sind, ob du an der Kassa stehst und dir fehlen wirklich die letzten fünf Cent, damit du den Einkauf noch zahlen kannst. Heute passiert mir das auch, dass ich an der Kassa stehe und meine Karte geht nicht. Aber dann fahre ich einfach zum Bankomat, hebe das Geld ab und komme wieder zurück. Damals habe ich alles stehen lassen und bin wochenlang nicht mehr in das Geschäft gegangen. Ich habe schon von vielen Familien gehört, dass sie nicht mehr zu Elternabenden gehen, weil sie sich bei der Abstimmung über die Projektwoche nicht sagen trauen: Sorry, das Geld dafür haben wir nicht. Mein Sohn zum Beispiel hatte am Montag in der Früh immer Bauchweh, er wollte nicht in die Schule. Weil im typischen Morgenkreis haben andere von ihrem Ski-Kurzurlaub berichtet und er war im Wald.

Letztendlich habe ich auch durch die Bestärkung auf Twitter gelernt, mich gegen Beschämung zu wehren. Wenn die Leute sagen: Dann sollen sie sich halt eine Arbeit suchen, dann habe ich Zahlen, Statistiken, Argumente bei der Hand. Aber wenn du in dieser Beschämung drinnen bist, hast du nicht die Kraft, dir dieses Wissen anzueignen. In Österreich sind circa 17 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, die meisten von ihnen sind unsichtbar. Sie wollen nicht gesehen werden, eben wegen dieser Vorurteile und der Beschämung. Und vor allem glaubst du irgendwann selber, du bist diese Versagerin und du bemühst dich zu wenig, du übernimmst die Vorurteile von außen. Es wäre so wichtig, dass alle Betroffene Zugang zu den Informationen haben und wissen, dass es eben nicht daran liegt, dass die Anreize fehlen, sondern Armut ein strukturelles Problem ist. Armut ist alles andere als eine soziale Hängematte.

Das österreichische Sozialsystem ist stark auf die Teilnahme am Erwerbsarbeitsmarkt ausgerichtet. Wo sehen Sie die größten Lücken in der sozialen Sicherung? 

Erstens bei der neuen Sozialhilfe, die federführend von der ÖVP umgesetzt wurde. Wir in Oberösterreich waren ja eines der ersten Bundesländer, die sie umgesetzt haben – schwarzblaue Regierung. Zum Beispiel wird bei der Sozialhilfe jetzt die Wohnbeihilfe gegengerechnet. Wenn du Wohnbeihilfe bekommst, bekommst du also dementsprechend weniger Sozialhilfe. Man darf nicht mehr dazuverdienen, und das sind aber genau die Cent, die die Menschen noch über Wasser gehalten haben. Und es ist alles an die Erwerbsarbeit geknüpft, aber auch da gibt es große Lücken, etwa bei den freien Dienstnehmer*innen. Ein riesiges Problem bei der Sozialhilfe sind auch mehrfach geringfügig Beschäftigte, was vor allem Frauen betrifft. Die Arbeitslosenversicherung müsstest du selbst bezahlen und das kann sich niemand leisten. Auch die Höhe der Sozialhilfe ist deutlich zu niedrig. Die Armutsgefährdungsschwelle heißt ja nicht umsonst so. Alles, was drunter ist, ist ein Teufelskreis. 

Über Online-Netzwerke organisieren Sie auch Akuthilfe für Menschen in finanziellen Schwierigkeiten. Wie funktioniert das? 

Das läuft recht spontan ab, Menschen melden sich bei mir, in Deutschland leite ich die Anfragen an das Netzwerk „@Sorgeweniger“ weiter. In Österreich kümmere ich mich selbst um die Vernetzung, es gibt immer wunderbare Menschen, die aushelfen, sie spenden einfach direkt an die Personen oder es läuft über mich, wenn die Betroffenen ihre Daten nicht weitergeben wollen. Vor Kurzem konnten wir sogar eine Wohnungsdelogierung verhindern, eine Anwältin hat kostenlos ausgeholfen. 

Gibt es auch negative Reaktionen, Menschen, die bevormundend auftreten?

Das hat mir persönlich noch nie jemand geschrieben, aber ich kenne es aus verschiedenen Kommentaren. Ich bin zum Beispiel die letzte, die sagt: Da hast du 120 Euro, damit du über die Runden kommst, aber du kriegst es nur in Lebensmittelgutscheinen, weil du darfst dir nichts anderes kaufen. Armutsbetroffene wissen sowieso, wofür sie als erstes Geld ausgeben müssen. Wenn sie sich dann noch eine Packung Tschick leisten, dann ist es so. Ich kenne diese Bevormundung ja selber. Und dieses rechtfertigen, es klingt banal, aber es ist enorm kräftezehrend. Als Armutsbetroffene checkt man immer ab: Was braucht man für Lebensmittel, was braucht man für die Kinder, und du selber stehst immer als letzte in der Reihe. 

Armut macht krank – das zeigen verschiedene Studien. Wie können konkrete Auswirkungen aussehen?

Der Dauerstress während der Armut hat bei mir selbst Herzrhythmusstörungen verursacht. Ich habe über zwei Jahre lang einen viel zu hohen Adrenalinspiegel gehabt. Solange ich armutsbetroffen war, hat mich mein damaliger Hausarzt nicht wirklich ernstgenommen. So nach dem Motto: Wovon willst du denn einen Stress haben? Erst später habe ich eine Hausärztin gefunden, die sich die Daten von den letzten Jahren angeschaut hat. Ihre erste Reaktion war: Klar, das bewirkt Armut. Das ist ja auch nachgewiesen. Es hat so unglaublich gutgetan, endlich einmal ernst genommen zu werden. Und das passiert so vielen Armutsbetroffenen, einfach nicht ernst genommen zu werden von Ärzt*innen.

Ihr nächstes Projekt ist ein Tiny House, in dem Armutsbetroffene Urlaub machen können. Was steckt hinter der Idee?

Der Anlass war ein trauriger, mein Schwager ist an Krebs verstorben. Wir hatten die Möglichkeit, auf seinem Grundstück einen Container zu einem Tiny House umzubauen. Und dorthin möchte ich Leute einladen, die es sich nicht leisten können, mal zwei, drei Tage auszuspannen. Ich weiß einfach, wie es uns jahrelang gegangen ist, es war nicht ein Wochenende wegfahren möglich. Selbst wenn wir die Übernachtungskosten hätten stemmen können, wären sich die Zugtickets nie ausgegangen. Deshalb werde ich auch einen Moneypool einrichten, damit den Menschen die Zugtickets bezahlt werden können. Mir ist auch wichtig, das Haus richtig schön einzurichten, damit sich die Menschen wohlfühlen können, einmal loslassen und entspannen. Ich freue mich riesig darauf. 

Daniela Brodesser ist Mutter von vier Kindern zwischen 12 und 24 und verheiratet. Sie hält Vorträge über Armutssensibilisierung, ist Jurymitglied beim Journalistenpreis von unten, und Mitwirkende beim Volksbegehren ALG rauf. ar-mut.com

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge VI/2021.

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