„Menschen über den eigenen Körper sprechen lassen“

Die Sozialmedizinerin Gabriele Dennert erklärt, warum bei einem akuten Herzinfarkt zwar keine Zeit für Geschlechtertheorien bleibt, die Medizin unterschiedliche Diskriminierungsfaktoren aber dennoch unbedingt berücksichtigen sollte. Interview: Bettina Enzenhofer

Darstellung vieler menschlicher Herzen in bunten Pastelltönen
Illustration: HitaJast/Pixabay

Bettina Enzenhofer: Gender-Medizin berücksichtigt Krankheitsunterschiede zwischen Frauen und Männern, beispielsweise kann sich ein Herzinfarkt bei Frauen und Männern unterschiedlich äußern. Könnte das auch zu Verallgemeinerungen führen? Es unterscheiden sich ja nicht zwingend alle Frauen von allen Männern in der Symptomatik.

Gabriele Dennert: Ja, das ist ein Grundproblem in der Medizin. In der medizinischen Sozialisation wird man auf das schnelle Bilden von Kategorien trainiert, gerade wenn es um Diag­nosen von Notfällen geht. Kommt ­jemand zur Tür rein, Schweiß auf der Stirn, greift sich an die Brust, hat Schmerzen: Herzinfarkt. Es ist zweifellos wichtig, dass es so läuft. Aber ganz ehrlich: Ich habe mal fast einen Herzinfarkt bei einer Frau übersehen, weil ich eben so sozialisiert worden bin. Sie hatte Magenschmerzen. Erst als wir das EKG dranhatten, haben wir den Herzinfarkt gesehen. Deshalb ist es ein Fortschritt, wenn in der Ausbildung eine zweite Fallvignette dazukommt. In der Medizin muss man Komplexität reduzieren, man kann in einer Notfallsituation keine Geschlechtertheorien diskutieren. Aber: Die meiste Versorgung ist kein Notfall!

Wie Ärzt*innen Menschen adressieren oder welche Vorannahmen sie haben, zum Beispiel dass die Patient*innen cis, hetero etc. sind, ist auch keine Notfallsituation.

Diese Vorannahmen gehören zu den größten Problemen. Und dann treten an manchen Stellen Irritationen auf. Zum Beispiel Männer mit Transitionsgeschichte in der frauenärztlichen bzw. gynäkologischen Versorgung: Der Name „frauenärztlich“ drückt ja schon aus, dass sie eigentlich nicht zur Zielgruppe gehören. Das hat nichts mit einem Notfall zu tun, sondern mit struktureller Diskriminierung.

Stichwort Corona: Hirnvenenthrombosen nach einer Corona-Impfung treten häufiger bei Frauen auf, Herzmuskelentzündungen häufiger bei Männern. Wie lässt sich das erklären?

An manchen Stellen gibt es dafür eine biologische Erklärung, bei Herzmuskelentzündungen möglicherweise auch eine soziale. Ich breche es mal runter: Das Immunsystem funktioniert bei Frauen und Männern unterschiedlich. Manche Autoimmun­erkrankungen zum Beispiel betreffen häufiger Frauen. Bei den Vektor-Impfstoffen war damit zu rechnen, dass es bei Frauen häufiger zu Blutgerinnungsstörungen kommt. Das ist der Fall. Und ein ganz schwerwiegender Ausdruck einer solchen Gerinnungsstörung sind Hirnvenenthrombosen, die gravierende Auswirkungen haben.

Warum kommt Long Covid häufiger bei Frauen vor?

Dafür bin ich keine Expertin, ich verfolge nur den Fachdiskurs. Es scheint verschiedene Aspekte zu geben. Das eine ist: Man weiß noch gar nicht, was Long Covid eigentlich ist. Man ringt noch mit einer Definition, nämlich das Vorhandensein einer bestimmten Symptomatik mit einem bestimmten Abstand zur eigentlichen Infektion. Es gibt zum Beispiel Fatigue Syndrome, die kennen wir auch nach Infektionskrankheiten oder Krebs. Fatigue wurde in der Medizin lange vernachlässigt und erhält nun mehr Aufmerksamkeit. Aber es ist nicht klar, wo diese Symptomatik herkommt. Ist es neurologisch, spielt auch Psychosomatik eine Rolle? Dass immunologische Vorgänge eine Rolle spielen, leuchtet mir aus der Fachdiskussion ein, und insofern würde es auch einleuchten, dass es über die Geschlechter nicht gleich verteilt ist. Hier scheint mir noch einiges ungeklärt im Moment. Oft werden Erkrankungen, die Frauen häufig betreffen, in der Forschung total vernachlässigt. Das scheint mir diesmal nicht der Punkt zu sein.

Die meisten medizinischen Statistiken weisen nur Frauen und Männer aus. Thematisiert die Gender-Medizin Menschen, die nicht-binär sind?

In der offiziellen Gender-Medizin, in Lehrbüchern kann ich kaum Repräsentation von Menschen erkennen, deren Selbstbezeichnung nicht-binär ist. Da ist noch ein Weg zu gehen. Wer in dieser Diskussion übrigens fehlt, sind Lesben, die sich nicht als Frauen bezeichnen, jedoch auch nicht als non-binär, wie zum Beispiel Butch-Identitäten.

Sie haben lange die Website lesbengesundheit.de betrieben. In Frauengesundheitsberichten steht mitunter, dass lesbische und bisexuelle Gesundheit untererforscht ist, aber weiter passiert nichts. Warum?

Sexismus meets Lesbenfeindlichkeit? Ich arbeite mit Ulrike Boehmer an dem Buch „LGBT And Cancer In The Global Context“. Man sieht in etlichen Beiträgen, dass die Datenlage international sehr marginal ist, auch in Deutschland gibt es erschütternd wenig Daten zu Krebs und LGBTs – und wenn, dann sicherlich nicht für Lesben. Hier wirken mehrere Marginalisierungsmechanismen zusammen. Auch die Gender-Medizin denkt oft sehr heterozentrisch. Es gibt eine internalisierte Lesbenfeindlichkeit, übrigens auch bei Lesben, und es ist nicht karrierefördernd, zu so einem Thema zu arbeiten.

Sie leiten das Projekt InTraHealth, in dem Sie zu Hürden und Diskriminierungserfahrungen von trans und inter Personen in der allgemeinen Gesundheitsversorgung geforscht haben. Was haben Sie heraus­gefunden?

Wir haben eine Befragung gemacht und gesehen: Es gibt Diskriminierung in der Gesundheitsversorgung. Diese führt zu einer verringerten Inanspruchnahme, auch bei Gewalterfahrungen, bei Unfällen, bei körperlichen und psychischen Erkrankungen. Diskriminierung gibt es auf unterschiedlichen Ebenen, das ist für inter und trans Personen sehr unterschiedlich. Die befragten inter Personen hatten meist sehr früh Kontakt mit der Versorgung, die ist sehr negativ verlaufen und in Erinnerung geblieben. Der eigene Körper wurde in der medizinischen Versorgung in normative Vorgaben eingeordnet oder hat Irrita­tion ausgelöst, weil er nicht in diese binären Vorgaben passte. Das zieht sich durch die gesamte Biografie, inter Personen antizipieren: „Jedes Mal, wenn ich hingehe, wird es so sein.“ Trans Personen in Deutschland empfinden die Zwangskontakte als negativ, die sie im Rahmen der Transition benötigen, zum Beispiel mit Gutachter*innen oder Krankenkassen. Zusätzlich erleben sie zum Teil Diskriminierung bei der medizinischen Versorgung. Das kann dazu führen, dass auch außerhalb der Transition Kontakte vermieden werden, wie zum Beispiel Teilnahme an gynäkologischen Früherkennungsuntersuchungen oder auch bei Allgemeinärzt*innen.

Wie könnte die allgemeine Gesundheitsversorgung für trans und inter Personen verbessert werden?

Wir widmen uns der Fortbildung und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf, wie man akzeptierend mit Menschen umgehen kann. Das sind oft Standarddinge: möglichst wenig Vorannahmen treffen, Menschen zum Beispiel erst mal über sich und den eigenen Körper sprechen lassen, bevor man mit einer Diagnose kommt.
Darüber hinaus gibt es die Ebene der dahinterliegenden Strukturen, zum Beispiel fehlende Normwerte bei Blutproben von inter Personen oder Personen, die eine Hormonsubstitutionstherapie machen. Diese Normwerte gibt es nur für Männer und Frauen.

Sie haben zu Embodiment in Zeiten der Pandemie geforscht. Was bedeutet das?

Im Kern geht es um die Frage: Wie schreiben sich soziale Verhältnisse in den Körper ein? Das ist Embodiment. Und was verändert sich in Zeiten von Pandemien mit diesem Embodiment? Am Beginn der Pandemie war ja viel die Rede davon, dass niemand immun sei und wir alle im gleichen Boot säßen. Dabei war von Anfang an klar: Nein, wir sitzen nicht alle im gleichen Boot. Dieses Virus tickt wie alle anderen Erkrankungen: Es richtet sich extrem nach sozialen Ungleichheiten. Am Anfang waren es die internationalen, privilegierten Gruppen, die dieses Virus über die Welt verbreitet haben, und dann haben die sich in ihren Gated Communities verschanzt. Die weniger privilegierten Leute sterben häufiger. Man sieht diese sozialen Ungleichheiten überall, zwischen den Ländern und innerhalb von Ländern. Und dann wurde darauf reagiert, zum Beispiel mit Sonderimpfaktionen in Stadtteilen mit hoher Bevölkerungsdichte.

Das Virus ist aber nur ein Punkt in der Pandemie. Viele andere Punkte sind: Was passiert durch die Maßnahmen? Was macht das mit Gesundheit? Wie verkörpert sich plötzlich ein Armutsrisiko in der eigenen Gesundheit? Und wie kann man damit umgehen? Wir sehen auch, dass Antisemitismus und Rassismus stark zugenommen haben. Die Zuschreibungen, dass in der Pandemie die Gefahr von anderen Körpern ausgeht, sind enorm anschlussfähig.

Gabriele Dennert ist Professorin für Sozialmedizin und Public Health mit Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der FH Dortmund.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge VI/2021.

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