Aufeinander schauen

Warum bedeutet sexuelle Einvernehmlichkeit mehr als ja oder nein? Was sind Zustimmungsunfälle? Und was hat Konsens mit unserem Alltag zu tun? Traumapädagogin Maria Dalhoff im Interview mit Bettina Enzenhofer

Wort "Respect" als neonpinkes Graffito auf einer Wand
Foto: wiredforlego/Flickr – Respect by Adam Fu, CC BY-NC 2.0

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Interview. Bettina Enzenhofer hat Maria Dalhoff viele Fragen zum Thema „sexuelle Einvernehmlichkeit“ gestellt. Sexuelle Einvernehmlichkeit bedeutet: Wenn Menschen miteinander Sex haben, sind alle mit dem einverstanden, was passiert. Alle schauen gut aufeinander. Zum Beispiel kann man fragen: „Willst du eine bestimmte Handlung machen?“ Manchmal ist man nicht sicher, ob man etwas machen will. Dann kann man zum Beispiel sagen: „Ich weiß nicht.“ Das bedeutet dann: Die andere Person darf nicht einfach weitermachen. Man muss gemeinsam schauen, was für alle gut ist. Wichtig ist auch: Alle dürfen jederzeit „Stopp“ sagen.
Manchmal ist es schwer, zu spüren, was man eigentlich will. Oft sagen andere Leute, was man machen soll. Zum Beispiel hören viele als Kind: „Iss deinen Teller auf!“ Später kann man in sich hineinhören: Was will ich eigentlich? Die eigenen Bedürfnisse sind wichtig. Im Alltag und beim Sex gilt: Man darf sagen, was man braucht. Und alle sollen respektvoll mit anderen umgehen.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

CN Sexualisierte Gewalt

Maria Dalhoff ist seit zwölf Jahren bei der Fachstelle Selbstlaut in der Arbeit gegen sexualisierte Gewalt tätig, entwickelt Methoden und Grundlagen zum Thema sexuelle Einvernehmlichkeit und hat 2021 gemeinsam mit Marion Thuswald, Stefanie Hempel, Zeynep Önsür-Oluğ und Bianca Jasmina Rauch das Buch „Sexuelle Einvernehmlichkeit gestalten. Theoretische, pädagogische und künstlerische Perspektiven auf eine Leerstelle sexueller Bildung“ herausgegeben.

Ein Interview in zwei Teilen:
Teil 1: Sphäre der sexuellen Einvernehmlichkeit
Teil 2: Sphäre der sexuellen Übergriffigkeit

Bettina Enzenhofer: In eurem Buch thematisiert ihr sexuelle Einvernehmlichkeit, euer Zugang ist sexpositiv, gewaltinformiert und machtreflektiert. Was bedeutet das konkret?

Maria Dalhoff: Diese drei Begriffe stehen für Haltungen in Bezug auf Sexualität. Sexpositiv bedeutet, in der sexuellen Bildung über positive Aspekte sexueller Handlungen zu sprechen, zum Beispiel über Lust, Begehren, in wen man sich verlieben kann, welche unterschiedlichen Konstellationen von Herkunftskontexten es gibt. Es bedeutet auch, sexuelle Ausdrucksformen anderer nicht abzuwerten. Lange Zeit hat Sexualaufklärung nur unter warnenden Aspekten stattgefunden – zum Beispiel warnend vor Krankheiten, Übergriffen oder Schwangerschaften. Machtkritik ist grundlegend, weil Sexualität und sexuelle Gewalt häufig mit klassistischen, rassistischen und heterosexistischen Aspekten verknüpft werden. Das möglichst zu vermeiden ist herausfordernd aber enorm wichtig. Gewaltinformiert bedeutet, nicht nur über die positiven Aspekte zu informieren, sondern zum Beispiel Täterstrategien, Traumafolgen und eben auch diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse mitzudenken.

Sexuelle Einvernehmlichkeit – also eigentlich ein positiver Aspekt – stellt in der sexuellen Bildung und gesellschaftlich eine Leerstelle dar. In der Regel wird sie relativ undifferenziert als „Freiwilligkeit bei sexuellen Handlungen“ und als Gegenteil von Gewalt dargestellt.

B.E.: Welchen Rahmen braucht sexuelle Einvernehmlichkeit?

M.D.: Das ist kontextabhängig. Auf den ersten Blick ist das vielleicht eine unzufriedenstellende Antwort, aber ich will keine allgemeingültige Klausel entwickeln. Denn bei sexuellem Konsens geht es um die jeweils involvierten Personen: dass sie in genau ihrer Konstellation Wege finden, aufeinander zu schauen, dass sie Bedürfnisse hören und respektieren und dass sie durch verbale oder eindeutige nonverbale Kommunikation abstimmen, was für wen passend ist. Es geht darum, grenzwahrende sexuelle Erfahrungen für alle zu schaffen.

Dabei ist aktive Kommunikation ein Merkmal sexueller Einvernehmlichkeit: sich als Sex initiierende Person immer wieder ein „Ja“ deutlich abzuholen – und nicht darauf zu warten, dass eine Person „nein, das will ich nicht“ sagt. Alle Beteiligten sollen informiert sein über das, was stattfinden soll oder worum es eigentlich geht, also wozu eine Entscheidung getroffen werden soll. Ein einmaliges Ja heißt nicht, dass sexuelle Handlungen bis in alle Ewigkeit fortgeführt werden können: alle Beteiligten müssen offen dafür sein, dass jederzeit jemand „Stopp, ich will nicht mehr“ sagen oder zeigen kann.

Einwilligungsfähigkeit ist ein weiteres Merkmal. Darauf zu achten, dass Personen zum Beispiel nicht durch Alkohol in ihrer Entscheidungskraft beeinträchtigt sind – es sei denn, man macht sich vorher aus, dass man das gemeinsam ausprobieren will, oder dass Schutzalter und Abhängigkeitsverhältnisse berücksichtigt werden.

Wichtig ist also eine Sphäre sexueller Einvernehmlichkeit herzustellen, in der alle Beteiligten aufeinander schauen und auf Gegenseitigkeit beruhende Begegnungen herstellen wollen. Auf aktive Kooperation und ein möglichst horizontales Miteinander zu achten, ist aber schwierig in einer Gesellschaft, der so viele Asymmetrien und Machtverhältnisse zu Grunde liegen.

B.E.: Du unterscheidest im Buch auch die beiden Begriffe sexueller Konsens und Konsent.

M.D.: Die Unterscheidung kommt aus Methoden von Gruppenentscheidungen. Konsens meint hundertprozentige Zustimmung. Im Unterschied dazu hat bei Konsent eine Person nichts gegen einen Vorschlag bzw. eine Handlung. Das ist ein qualitativer Unterschied. Das lässt sich auch als ein „großes Ja“ und ein „kleines Ja“ formulieren. Also sexueller Konsens im Sinne von: „Ich bin absolut enthusiastisch bei der Sache bzw. für einen Vorschlag.“ Und sexueller Konsent im Sinne von: „Ich habe ein ‚kleines Ja‘, habe also nichts dagegen, aber bin vielleicht nicht komplett überzeugt, weil ich überhaupt nicht weiß, was mich erwartet – oder weil ich damit mal schlechte Erfahrungen gemacht habe und gleichzeitig etwas ängstlich aber auch interessiert bin es nochmal auszuprobieren.“

Wenn eine Person sagt: „Ja, schon, aber ich bin mir ein bisschen unsicher“, können andere besser darauf achten – und das nicht als „Super, die Person weiß eh, worauf sie sich eingelassen hat, Vollgas“ interpretieren, sondern „Okay, einen Gang runterschalten und nochmal doppelt und dreifach prozessorientiert schauen, wie es uns allen langfristig mit dieser sexuellen Handlung gut gehen kann, sonst brechen wir ab“ denken oder fühlen.

Auf Basis der Begriffe Konsens und Konsent können also etwas differenziertere Entscheidungen getroffen werden. Sie tragen komplexen Gefühls- und Situationslagen ein bisschen mehr Rechnung. Im englischsprachigen Raum gibt es übrigens viele Auseinandersetzungen dazu, welche problematischen Aspekte Konzepte der sexuellen Einvernehmlichkeit mit sich bringen – im deutschsprachigen Raum gibt es dazu fast nichts. Viele Zustimmungskonzepte wurden in weißen, feministischen, universitätsnahen Bubbles geschrieben, in denen viele Lebensrealitäten nicht mitgedacht wurden. Die Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal hat eine solche Kritik einmal so zusammengefasst: „Konsens bedeutet nicht freier Wille, sondern freier Wille unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen.“

Zustimmungskonzepte können hilfreich sein, aber sexuellen Konsens zu leben ist komplexer als festgeschriebene Regelwerke zu befolgen.

B.E.: Kannst du ein Beispiel für problematische Aspekte in diesen Konzepten geben?

M.D.: Bei festgeschriebenen Konzepten von Zustimmung kann es zum Beispiel heißen: Du darfst nicht Sex haben, wenn du Alkohol oder andere Drogen konsumiert hast. Das ist ein klassistischer Zugang. Denn diesem Konzept nach dürfen nur Personen Sexualität leben, denen es entweder rundum gut geht oder die Geld für eine Traumatherapie oder Zugang zu Psychopharmaka haben. Personen, die aber keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben und für die zum Beispiel Cannabis eine Form von Selbstmedikation ist, dürfen dann keine Sexualität leben, weil sie unter dem Einfluss von Cannabis gar nicht zustimmungsfähig sind?

Was auch wichtig ist: sich den Bereich Sexualität, sexuelle Einvernehmlichkeit und sexuelle Gewalt vor dem Hintergrund von Trauma anzuschauen.

B.E.: Welchen Einfluss können traumatische Erfahrungen auf Konsens-Entscheidungen haben? 

M.D.: Wenn traumatische Belastungen wie zum Beispiel sexuelle Gewalterfahrungen vorliegen, kann es dazu kommen, dass sich Personen bei sexuellen, einvernehmlichen Handlungen an schwierige Dinge erinnern oder diese emotional wieder erleben. Also dass innerpsychisch eine Kettenreaktion beginnt, die es erschwert, sich selbst gut zu spüren, weil das Stresslevel zu hoch ist. Auch ohne traumatische Erfahrung kann es schwierig sein, während sexueller Handlungen mit sich selbst zu kommunizieren – was will ich? – und das auch nach außen zu kommunizieren. Mit hohem Stresslevel wird es noch schwieriger. 

Wenn Personen schwerer Gewalt ausgesetzt waren, wenn wenig oder keine Konsens-Erlebnisse in der Biografie vorhanden sind, ist es vielleicht gar nicht möglich, Konsens umzusetzen, weil alles, was eingelernt und erfahren wurde, durch Konsenserlebnisse in Frage gestellt würde. Autor*in SchwarzRund sagt dazu: „Es gibt halt manchmal Aggressoren, die es notwendig machen zu sagen: Ich streiche Konsens aus meinem Leben. […] Nicht-konsensuell mit sich zu leben, ist ein Problem. Aber ich finde es wichtig, das auch als Lösung zu sehen. Es ist auch eine Lösung im Überleben mit Traumata. Es ist auch eine Lösung im Überleben von rassistischen Systemen.“

Es besteht meist – aber nicht immer – die Möglichkeit, sich langsam heranzutasten, wie man unter Extremstress schauen kann: Wo bin ich, was brauche ich, was will ich? Nicht nur im Sexuellen, sondern ganz allgemein in Freund*innenschaften, in Begegnungen, bei Alltäglichkeiten.

B.E.: Es gibt viele Situationen abseits der Sexualität, in denen Bedürfnisse nicht akzeptiert oder Grenzen überschritten werden: Gib dieser Person ein Bussi, iss deinen Teller auf, lächle, geh noch nicht heim. Oder Leute, die einfach einen schwangeren Bauch berühren, in Afrohaare greifen oder Rollstuhlnutzer*innen ungefragt irgendwo hinschieben. Wie können wir Konsens in der Sexualität lernen, wenn er im Alltag ständig untergraben wird?

M.D.: Ich unterstütze den Gedanken und die Frage, wie alltägliches Handeln und gesamtgesellschaftliches Miteinander in Zusammenhang mit sexuellem Konsens stehen. Wenn Personen früh konsensuelle Handlungen oder Situationen erleben, ist das auch für den sexuellen Bereich hilfreich.

Wenn durch Ruppigkeit oder Gewalt das Gegenteil erlebt wurde, kann es eine Ressource für andere Lebensbereiche sein, konsensuelles Miteinander erstmals im Sexuellen auszuprobieren und zu schauen, was davon in andere Bereiche übertragen werden kann. Das ist natürlich herausfordernd, wenn einvernehmliches Handeln sonst nicht präsent war.

Eine Möglichkeit wäre, Gruppenentscheidungen in Schulen konsensuell zu gestalten, so dass Kinder schon lernen, was der Unterschied zwischen Mehrheitsentscheidungen und möglichst horizontalen Entscheidungen ist. 

B.E.: Man muss also erstmal wissen, dass man Bedürfnisse haben und äußern darf, dann spüren können, was man eigentlich will, und das dann noch verbal oder nicht verbal kommunizieren.

M.D.: Ja, es ist eine ziemlich herausfordernde Angelegenheit, dass Personen gut mit sich in Kontakt sind und schnell mitteilen können, was passt und was nicht. Und nicht erst am nächsten Tag zu merken: „Oh, hätte ich mal nicht …“ Deswegen denke ich in die Sphäre der sexuellen Einvernehmlichkeit (Anm.: anders als in der Sphäre der sexuellen Übergriffigkeit, s. Interview Teil 2) auch eine Fehlerfreundlichkeit mit hinein. Die Idee von sexueller Einvernehmlichkeit kommt mittlerweile stärker in der Gesellschaft an, aber niemand ist perfekt. Alle sind Lernende, auch im Bereich der sexuellen Handlungen. Allen können Fehler passieren bzw. sind mit Sicherheit schon Fehler passiert, falls sie sexuell aktiv waren. Im Englischsprachigen gibt es den Ausdruck Consent Accident. 

B.E.: Im Buch übersetzt du das mit „Zustimmungsunfälle“ ins Deutsche.

M.D.: Unfälle können passieren, sind nicht geplant. Man kann nicht vorher alles abstimmen und ganz sicher machen, weil sexuelle Handlungen in der Regel im Prozess passieren. Ein Unfall ist unbeabsichtigt – das wollte die Person nicht, das tut ihr in der Regel leid und sie möchte diese sexuelle Grenzüberschreitung oder -verletzung nicht wiederholen. Zustimmungsunfälle können unterschiedlich schwer erlebt werden: von Irritationen bis zu massiven Grenzverletzungen. Dafür muss die auslösende Person Verantwortung übernehmen. Das ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

B.E.: Ein Zustimmungsunfall zeichnet sich auch dadurch aus, dass er besprechbar ist.

M.D.: Ja, dass die Person, die den Unfall ausgelöst hat, eine Offenheit für einen Lernprozess hat, wenn sie davon erfährt – dass sie sich Mühe gibt, etwas umzulernen: zum Beispiel nonverbale Signale genauer zu beobachten. Oder ein „Vielleicht“ nicht als ein „Ja“ zu verstehen, sondern als: „Es ist kein ‚Nein‘, aber es braucht noch was für ein ‚kleines Ja‘ – sonst ist es ein ‚Nein‘ und kann nicht stattfinden.“

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Interview. Bettina Enzenhofer hat Maria Dalhoff viele Fragen zum Thema „sexuelle Einvernehmlichkeit“ gestellt. Sexuelle Einvernehmlichkeit bedeutet: Wenn Menschen miteinander Sex haben, sind alle mit dem einverstanden, was passiert. Alle schauen gut aufeinander. Zum Beispiel kann man fragen: „Willst du eine bestimmte Handlung machen?“ Manchmal ist man nicht sicher, ob man etwas machen will. Dann kann man zum Beispiel sagen: „Ich weiß nicht.“ Das bedeutet dann: Die andere Person darf nicht einfach weitermachen. Man muss gemeinsam schauen, was für alle gut ist. Wichtig ist auch: Alle dürfen jederzeit „Stopp“ sagen.
Manchmal ist es schwer, zu spüren, was man eigentlich will. Oft sagen andere Leute, was man machen soll. Zum Beispiel hören viele als Kind: „Iss deinen Teller auf!“ Später kann man in sich hineinhören: Was will ich eigentlich? Die eigenen Bedürfnisse sind wichtig. Im Alltag und beim Sex gilt: Man darf sagen, was man braucht. Und alle sollen respektvoll mit anderen umgehen.

Diese Kurzfassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

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