„Das irritiert mich“
Wer sexuell übergriffig ist, missachtet bewusst Grenzen. Auf welche Warnzeichen kann man achten? Wie kann man intervenieren? Und wie Kinder möglichst gut stärken? Traumapädagogin Maria Dalhoff im Interview mit Bettina Enzenhofer
CN Sexualisierte Gewalt
Maria Dalhoff ist seit zwölf Jahren bei der Fachstelle Selbstlaut in der Arbeit gegen sexualisierte Gewalt tätig, entwickelt Methoden und Grundlagen zum Thema sexuelle Einvernehmlichkeit und hat 2021 gemeinsam mit Marion Thuswald, Stefanie Hempel, Zeynep Önsür-Oluğ und Bianca Jasmina Rauch das Buch „Sexuelle Einvernehmlichkeit gestalten. Theoretische, pädagogische und künstlerische Perspektiven auf eine Leerstelle sexueller Bildung“ herausgegeben.
Dieses Interview ist die Fortsetzung von „Aufeinander schauen“ – ein Interview über die Sphäre der sexuellen Einvernehmlichkeit
Bettina Enzenhofer: Wann handelt es sich nicht mehr um einen Zustimmungsunfall, sondern um sexuelle Übergriffigkeit?
Maria Dalhoff: Wenn Personen sich auf Kosten anderer einen Kick holen wollen und es ihnen ziemlich egal ist, was das Gegenüber will, spreche ich von der Sphäre der sexuellen Übergriffigkeit. Oder wenn Personen merken, dass sie sich nicht auf andere einstellen können und ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche durchziehen, ohne auf das Gegenüber zu achten.
Es kann eine Täter(*innen)strategie sein, sich weinerlich zu geben und sich in einer Opferrolle zu inszenieren. Das kommt gar nicht so selten vor, weil das eine so gute und Mitleid erregende Strategie ist. Diese Personen entschuldigen sich auch, wenn sie auf problematisches Verhalten angesprochen werden, und zeigen sich verzweifelt. Aber eigentlich liegt ihnen nichts daran, ihr Verhalten zu ändern. Sie wollen das in dem Moment runterspielen, um die Kritik abzuwenden. Sie übernehmen nicht die Verantwortung für ihre immer wieder strategisch ausgeübten Gewalthandlungen.
Ein Zustimmungsunfall kann ein, zwei, drei Mal passieren, nachdem eine Person darauf hingewiesen wurde. Aber wenn eine Person danach immer noch nicht umgelernt hat, kann die von dem Verhalten betroffene Person die Verantwortung übernehmen und sagen: „Dann ist dieser Kontakt nicht gut für mich.“ Niemand muss einer Person beweisen, dass sie sexuelle Grenzen mit Absicht verletzt. Wenn Grenzverletzungen immer wieder wiederholt werden, weist das darauf hin, dass diese Person missbräuchliches, schädliches Verhalten an den Tag legt – ob geplant oder nicht ist dabei zwar wichtig, aber zweitrangig. Im Vordergrund sollte stehen, sich selbst in sichere Distanz zu solchen Personen zu bringen.
B.E.: Auf welche Warnzeichen können wir in sexuellen Begegnungen achten?
M.D.: Wenn Personen ein „Nein“, „Vielleicht“ oder „Weiß nicht“ ignorieren oder wiederholt als ein „Ja“ umdeuten. Wenn Personen eine Alkoholisierung oder Drogen ausnutzen, um sexuelle Handlungen an anderen vorzunehmen. Auch auf Abhängigkeitsverhältnisse ist zu achten – zum Beispiel, wenn sich eine Fußballtrainerin einer Jugendlichen im Verein sexuell nähert. Und was ich eben gesagt habe: Wenn immer wieder sexuelle Zustimmungsunfälle vorkommen und die einfach nicht aufhören.
Für Personen, die davon betroffen sind, heißt das im Umkehrschluss: Wenn eine permanente Gefühlsambivalenz vorherrscht, also eine Beziehung immer wieder abwechselnd komisch und dann toll ist, und dann passiert wieder was Schwieriges, und dann wird’s wieder total schön – also wenn das nicht irgendwann mal wirklich gut ist – dann wäre es ratsam aus der Beziehung zu gehen, so schwer das ist und so sehr man diese Person in guten Phasen mag. Denn das ist Ausdruck einer Beziehung mit toxischen Dynamiken und kann eine Strategie von Menschen sein, die Kicks oder Selbstwert aus Machtgefühlen und der Manipulation anderer ziehen.
Vielen Personen, die Übergriffe setzen, eilt auch der Ruf voraus, dass sie immer wieder „Zustimmungsunfälle“ ausüben. Das muss natürlich nicht heißen, dass es mit mir und der Person nicht auch ganz anders laufen kann. Aber wenn ich von einer Person schon schwierige Geschichten gehört habe, ist es ratsam, auf das Umfeld zu hören, extra vorsichtig zu sein und Warnsignale umso ernster zu nehmen.
Von Menschen, die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausüben, ist auch bekannt: Wenn sie das sehr lange machen, bekommen sie irgendwann eine Art Machtrausch. Dann kann es für sie auch ein Kick werden, Grenzen von Erwachsenen zu überschreiten. Häufig sind diese Personen grenzverschiebend, desensibilisierend, abwertend, machen sexistische, homophobe oder rassistische „Witze“. Sie sorgen für ein wirklich fieses Klima und spalten Gruppen. Bei solchen Personen lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Was machen die denn sonst noch? Kommt mir etwas zu Ohren, wo sie Übergriffe gesetzt haben? Und dann zu intervenieren so gut es geht, wenn man die Ressourcen dazu hat.
B.E.: Wie könnte man intervenieren?
M.D.: Das kommt sehr auf die Situation an. Wenn es sich jemand zutraut zum Beispiel zu sagen: „Ich bin irritiert von dem, was du gerade gesagt hast“, „Ich nehme das als eine Beleidigung wahr“ oder als eine „verletzende, in einen Witz verpackte Diskriminierung“. Also möglichst neutral zu benennen, was die Person gemacht hat. Diese Personen nehmen sich in der Regel sehr viel Raum mit dem, wie sie tun. Und wenn das mal benannt wird, ist schon viel getan. Die meisten Anwesenden haben ähnliche innere Stimmen und denken sich auch: „Was ist hier eigentlich los? Nehme nur ich das so wahr? Bin ich heute besonders sensibel? Warum stoppt das niemand?“ Wenn nun benannt wird, was passiert ist, bekommen die inneren Stimmen einen Raum: „Okay, ich bin nicht allein damit“.
Zu sagen: „Das irritiert mich“ sehe ich als sehr hilfreich an, weil da in einer stressigen Situation noch nicht ganz klar sein muss, was die Person gerade genau gemacht hat. Und wenn man es schafft, kann man sagen: „Bitte hören Sie auf“ oder „Hör auf, so unpassende Aussagen zu tätigen“. Das wäre jetzt eine Intervention auf persönlicher Ebene.
Zu den vorher erwähnten Warnzeichen fällt mir noch eins ein: Wenn Personen für ihre Gefühle keine Verantwortung übernehmen und zum Beispiel sagen oder zeigen: „Wenn du nicht Sex mit mir hast, bin ich traurig“ oder „dann verletze ich mich“. Dass die Verantwortung für das Gefühl dem Gegenüber zugeschoben wird und sich da eine ganz schwierige, missbräuchliche Dynamik entwickelt, kommt im Bereich von sexuellen Übergriffen unter Erwachsenen häufig vor. Da können Betroffene versuchen zu schauen, was ihr Part da drin ist und versuchen zu Klarheit zu finden. Also in die Richtung zu gehen: „Wenn du traurig bist, dann musst du an deinen Gefühlen arbeiten und Verantwortung übernehmen.“ Oder: „Es ist nicht meine Schuld, wenn du dich selbst verletzt, weil ich keine Nähe oder keinen Sex mit dir möchte.“
Das sind natürlich komplexe, sehr schwierige Situationen, vor allem wenn es um Suizidankündigungen oder Drohungen gegen die eigene Person geht. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen über die eigenen Grenzen gehen, um der anderen Person zur psychischen Stabilität zu verhelfen. Aber dieses Paket nicht zu nehmen und auf Abstand zu gehen, wäre ein wichtiger Schritt, wenn sich die Situation kurz- oder mittelfristig nicht ändert.
B.E.: Hier denke ich wieder an andere Kontexte. Man geht über die eigenen Grenzen, damit es der anderen Person besser geht. Weihnachten ist ein gutes Beispiel dafür.
M.D.: Genau. Bei nicht-sexuellen und sexuellen Situationen ähneln sich viele Prozesse. Wann und wie werden Ausreden, Traurigkeit, Drohungen oder selbstverletzendes Verhalten als Druckmittel verwendet? In solchen Auseinandersetzungen steckt viel Lernpotenzial für andere zwischenmenschliche Interaktionen oder auch für eigene innerpsychische Prozesse. Aber gemütliche oder einfache Prozesse sind das nicht – eher schmerzhafte und von Trennungen geprägte.
B.E.: In Österreich waren zuletzt einige Fälle von Übergriffen gegenüber Kindern durch Kindergartenpädagogen in den Medien. Wie kann man bei Personen, die in Institutionen angestellt sind, intervenieren?
M.D.: Hier wäre darauf zu achten: Gibt es ein Schutzkonzept in der Institution? Wie sind die Beschwerdewege? An welche externen Stellen kann ich mich wenden? Wer kann mich unterstützen? Oder, wenn es etwas ist, das eine*n sehr beschäftigt, kann man auch in eine Beratungsstelle gehen und sich von außen „Sortierhilfe“ von Expert*innen holen, um mit irritierenden, komischen Gefühlen nicht allein beschäftigt zu sein, und dann weitere Schritte mit professioneller Unterstützung zu planen.
B.E.: Was können Lehrkräfte, Eltern und das sonstige Umfeld in der Prävention machen?
M.D.: Es gibt viele Möglichkeiten, Kinder gut auszurüsten für den Fall, dass eine erwachsene Person sexuelle Gewalt anbahnt. Das ist immer ein Prozess, den Erwachsene planen und strategisch umsetzen. Das passiert niemandem. Menschen, die Kindern sexualisierte Gewalt antun wollen, wissen, dass sie das machen wollen, und bereiten das Umfeld und auch die Kinder vor. Sie testen die Kinder aus und schauen: Hat dieses Kind viele Ressourcen? Steht nach einer „leichteren“ sexuellen Grenzverletzung am nächsten Tag eine Bezugsperson bei mir vor der Tür und sagt: „Was ist denn da gestern Komisches passiert? Mein Kindergartenkind hat berichtet, Sie haben ihm beim Fangen die Hose runtergezogen.“ Das kann ja passieren. Also es muss überhaupt keine Anbahnung von sexueller Gewalt sein. Aber Leute, die Kinder missbrauchen wollen, schauen, ob das Kind ein Netzwerk hat. Deshalb ist es wichtig auf Dinge, die Kinder berichten und die mir als erwachsener Person komisch vorkommen, zu reagieren. Nicht zu schweigen und zu denken „Ach, wird schon nichts gewesen sein“.
Aus Berichten von Überlebenden sexualisierter Gewalt, die später als Erwachsene befragt wurden, weiß man, dass sie als Kind mehrmals versucht haben, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Also so etwas gesagt haben wie: „Ich will da nicht mehr hin“, oder „Der macht komische Sachen mit mir“ – und dass Erwachsene das nicht ernst genommen oder verstanden haben. Der Appell an Erwachsene ist also, Kindern zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Natürlich können wir nicht die ganze Welt anhalten und zum Beispiel das Kind sofort in einen anderen Kindergarten geben. Aber dem Kind zu sagen: „Ich habe dich gehört, ich nehme das ernst, das darf niemand“, also ihnen eine Sortierhilfe mitzugeben, das wäre wichtig. Und zu sagen: „Wenn nochmal etwas Komisches vorkommt, kannst du mir das gerne sagen und dann können wir gemeinsam schauen, was wir machen können.“
Eine weitere Möglichkeit ist, Kindern zu erklären, was der Unterschied ist zwischen guten und schlechten Geheimnissen – also guten und Bauchweh-Geheimnissen. Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen, kennen die Kinder in der Regel sehr gut und gehören zu ihren Vertrauenspersonen. Sexuelle Gewalthandlungen, die sie an den Kindern vornehmen, tarnen sie als Geheimnis. Deswegen hilft es Kindern zu sortieren: Es gibt Geheimnisse, die machen gute Gefühle, das ist vielleicht aufregend, weil das ist ein Geburtstagsgeschenk oder ein geheimes Versteck. Und es gibt Geheimnisse, die machen Bauchweh oder schlaflose Nächte, die belasten. Dann dürfen Kinder sich Hilfe holen. Wenn sie es schaffen. Das ist kein Petzen oder Hintergehen, sondern mutig. Keine erwachsene Person darf Bauchweh-Geheimnisse mit Kindern haben. Das ist die Methode, von der ich in den letzten zwölf Jahren schon mehrfach gehört habe, dass sich Kinder anvertraut haben, nachdem Kindergartenpädagog*innen oder Bezugspersonen das so aufgedröselt haben.
Es gibt viele andere Themenfelder, die Kinder gegen sexuelle Gewalt stärken können. Eines ist zum Beispiel Folgendes: Kinder, die sich nicht in der Mitte der Gesellschaft angenommen fühlen, oder zum Beispiel in Kinderbüchern nicht repräsentiert werden, haben es tendenziell schwerer, sich Hilfe zu holen. Es ist wichtig darauf zu achten, dass Arbeit gegen sexualisierte Gewalt immer auch Anti-Diskriminierungs-Pädagogik ist, Arbeit gegen unterschiedlichste Formen von Diskriminierung. Intersektionale Zugänge sind stärkend, und gestärkte Kinder und Jugendliche können sich oftmals besser helfen oder schneller Hilfe holen.