Das Spekulum selbst in die Hand nehmen
Wütend, bestärkend – schlicht revolutionär: Das war die Frauengesundheitsbewegung der 70er. Was bleibt von ihr 50 Jahre später? Von Annika Spahn
Die Notfallmedizinerin Alyson McGregor erzählt 2014 in einem Ted-Talk: „Herzkrankheiten sind die Haupttodesursache sowohl bei Männern als auch Frauen. Im ersten Jahr nach einem Herzinfarkt sterben jedoch mehr Frauen als Männer. Männer beklagen sich im Regelfall über erdrückende Schmerzen in der Brust, als säße ein Elefant auf ihrem Brustkorb. Das ist für uns ein typisches Symptom. Auch Frauen klagen über Schmerzen im Brustkorb. Jedoch berichten mehr Frauen als Männer, dass sie sich ‚einfach nicht wohlfühlen‘, ‚irgendwie nicht richtig Luft bekommen‘ und ‚in letzter Zeit schrecklich müde‘ sind. Aus irgendeinem Grund nennen wir das atypisch, obwohl die Bevölkerung (…) zur Hälfte aus Frauen besteht.“ Dieses Beispiel von Geschlechterunterschieden bei Herzinfarkten ist inzwischen weitgehend bekannt. Heute wissen wir, dass Geschlecht und Gesundheit komplex miteinander verwoben sind. Diese Erkenntnis ist nur eine der wichtigen Folgen der Frauengesundheitsbewegung (FGB) der 1970er- und 1980er-Jahre. Doch über die FGB sprechen wir heute kaum mehr – weder gesamtgesellschaftlich, noch in feministischen Aktivismen. Doch was ist eigentlich von damals geblieben?
My Body, My Choice
Die Frauengesundheitsbewegung war Teil der zweiten Frauenbewegung ab den 1960er-Jahren(1). Neben einer US-amerikanischen gab es auch in Europa Frauengesundheitsbewegungen, zum Beispiel in Deutschland und der Schweiz. Der Begriff bezeichnet ganz unterschiedliche Gruppen und Strömungen; es gibt und gab aber keinen Dachverband oder eine feste Organisationsstruktur der Bewegung. Deswegen ist es schwierig, über die FGB zu schreiben und zu forschen. Die Frauengesundheitsbewegung ist nicht eindeutig von anderen sozialen Bewegungen der Zeit, wie der Hausbesetzer*innen-Szene, abzugrenzen.
Ein wichtiger Auslöser war die Forderung der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Ausgehend von einer feministischen Gesellschaftsanalyse beschäftigten sich die Frauengesundheitsbewegungen mit dem Zusammenhang von Geschlecht und Gesundheit, Krankheit, Selbstbestimmung, Gesundheitsversorgung und Gesundheitsverhalten. Sie konzentrierten sich auf viele Themen, die in der Mainstream-Medizin und -Kultur unsichtbar oder illegal waren – wie etwa Verhütung, Menopause oder Abtreibung. Aktivistinnen wollten der gesellschaftlichen und medizinischen Vernachlässigung von (cis) weiblichen Körpern etwas entgegensetzen, ebenso der Medikalisierung von Frauenkörpern (wie bei Menstruation, Menopause oder bei sogenannter Hysterie und Frigidität) Einhalt gebieten und Selbstbestimmung von Frauen in der Medizin durchsetzen. Oder in den Worten der Frauenakademie München: Die „Aktivistinnen dieser Bürgerinnenbewegung waren nicht länger bereit, Männern das Wissen und die Entscheidungsmacht über ihren Körper und ihre Seele zu überlassen.“
Systemkritik
Die Frauengesundheitsbewegung und die daraus entstandene Frauengesundheitsforschung ab den 1980er-Jahren kritisierte, dass die Medizin durch eine vorgeschobene Geschlechterneutralität in ihrer Lehre, Forschung und Behandlung spezifisch weibliche Gesundheitsprobleme nicht beachtete bzw. grundsätzlich kaum Wissen über weibliche Körper vorhanden war. Außerdem kritisierte die Frauengesundheitsbewegung sexistische Diskriminierung von Patient*innen und Ärzt*innen innerhalb der Medizin, die Macht der Pharmakonzerne, die Autorität von Ärzten und die nach 1970 einsetzende Gewinnorientierung des Gesundheitssystems. Die Frauengesundheitsbewegung und die darauf aufbauende Frauengesundheitsforschung vertraten den Ansatz, dass Symptomatiken ganzheitlich zu betrachten seien: Die Lebensbedingen von Frauen müssen für eine ganzheitliche gesundheitliche Versorgung in den Blick der Medizin kommen. Gerade deswegen waren naturmedizinische und holistische Verfahren in der FGB sehr beliebt.
Du bist Expert*in deines Körpers
Ab den 1980er-Jahren professionalisierte sich die FGB und schuf (teilweise durch die Finanzierung mit öffentlichen Mitteln) praktische Dienstleistungsangebote für Frauen: Aktivist*innen gründeten Gesundheitszentren, Gesundheitsläden, Selbsthilfe-Cafés und Selbsthilfegruppen, gaben Bücher, Zines, Selbsthilfezeitschriften wie die bis heute aktive „CLIO“, Rundschreiben und Broschüren heraus, organisierten Workshops, bauten Beratungsstellen, ambulante Pflegedienste und Notübernachtungen auf. Dabei wurde immer von der persönlichen Erfahrung der Aktivist*innen ausgegangen; das Private ist also auch in der FGB politisch. Populär war unter anderem sich gegenseitig zu Ärzt*innen-Terminen zu begleiten, um sich zu unterstützen. Der Status der medizinischen Expert*innen sollte aufgeweicht und Patient*innen zu Expert*innen für die eigenen Körper gemacht werden. Dies geschah zum Beispiel durch Workshops, in denen cis Frauen ihre Vulva, ihre Vagina und ihren Cervix mithilfe eines Spiegels und eines Spekulums entdecken konnten – etwas, das vorher nur ihre Ärzt*innen und Partner*innen gesehen hatten. Für viele war diese Selbstuntersuchung ein wichtiger biographischer Wendepunkt. Im Rahmen einer solchen feministischen Gesundheitsgruppe zu erleben, dass man mit den eigenen Fragen, Zweifeln und Erlebnissen nicht alleine ist, war für viele enorm wichtig und heilsam – im Zeitalter des Internet kaum mehr vorstellbar.
Gegenwehr und Diffamierung
Nicht aller Aktivismus der FGB war hingegen gewaltfrei: Am 28.4.1977 verübt die militante Frauengruppe Rote Zora einen Sprengstoffanschlag auf die Gebäude der Bundesärztekammer, da diese „Vergewaltiger“ seien, die „sich über unser Selbstbestimmungsrecht hinwegsetzen“. Als Reaktion darauf bezeichnete das Deutsche Ärzteblatt die Frauengesundheitsbewegung als terroristisch. Aber auch auf die gewaltfreien Aktivismusformen reagierten Institutionen mit Gegenwehr: So sah sich die FGB massiver medialer Diffamierung ausgesetzt, einige feministische Zeitschriften (beispielsweise die Broschüre „Lieber krank feiern als gesund arbeiten“) wurden sogar als staatsgefährdend eingestuft.
Wissen demokratisieren
Bücher und Broschüren stellten eine wichtige Aktionsform für die Frauengesundheitsbewegungen dar(2), um Informationen und Empowerment zu verbreiten. Das bekannteste Buch der Frauengesundheitsbewegung ist sicherlich „Our Bodies Ourselves“ des Boston Women’s Health Collective von 1971 aus den USA. Doch auch auf Deutsch wurden ähnliche Bücher geschrieben und verbreitet. Dabei ging es um ganz unterschiedliche Themen wie Zahngesundheit, Massage oder Ernährung – das Ziel war eine Demokratisierung von Wissen.
„Hexengeflüster“: wütend auf die Medizin
„Hexengeflüster – Frauen greifen zur Selbsthilfe“ erschien 1976(3) im Selbstverlag(4). In kürzester Zeit wurden 10.000 Exemplare verkauft – am Ende waren es 60.000. Die Autor*innen trafen sich regelmäßig als Gruppe und arbeiteten an ihrem Buch. Darin fassen sie ihre zweijährige Erfahrung mit Selbsthilfe und alternativen Behandlungsmethoden zusammen. In Hexengeflüster sind Wissen und Material rund um Gesundheit aus einer radikalfeministischen Perspektive gebündelt – es gibt Fragebögen, Fotos, Zeichnungen und praktische Untersuchungsanleitungen zur Aufklärung und Recherche – und wie die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe Berlin schreibt, ist Hexengeflüster „Informationssammlung, Toolbox und Handbuch zugleich“.
In Hexengeflüster geht es um viele verschiedene Themen: Selbsthilfe, Sexualität, Bevölkerungspolitik, Verbrechen gegen Frauen in der Gynäkologie, Patient*innen-Rechte, Selbstuntersuchung, Schwangerschaft und Geburt, Heilkräuter, Menopause, STIs, Menstruation, Abtreibung und Care-Arbeit. Die Herangehensweise der Autor*innen ist tröstlich zu lesen. Ihre Wut beschränkt sich auf das System und es geht nie darum, das Individuum, das nicht in das System passt, zu heilen. Stattdessen geht es darum, das System zu hinterfragen und Wege zu finden, wie das Individuum gut mit der Situation umgehen kann. Anders als bei medizinischen Lösungen geht es auch nicht darum etwas zu finden, das bei allen funktioniert, sondern auf die individuelle Lebenssituation abgestimmte Lösungen. Dank der politischen Analyse geben sie Leser*innen die Möglichkeit, die eigene Situation zu verstehen. Zusätzlich rufen die Autor*innen dazu auf, sich gegen Gewalt und Diskriminierung in der Medizin juristisch zu wehren und bieten dabei auch ihre Hilfe an. Damit empowern sie Menschen – sie befähigen sie, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können.
„Brot und Rosen“ – aufklären, weil es sonst niemand macht
Die Westberliner Gruppe Brot und Rosen(5) veröffentlichte 1972 das „Frauenhandbuch Nr. 1“ – ebenfalls im Selbstverlag –, das sich Abtreibung und Verhütung widmet. Aus einer sozialistisch-feministischen Perspektive verknüpft es medizinisches Wissen mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse. In der zweiten Ausgabe von Brot und Rosen stellt sich die Gruppe ausführlich vor. Sie sind elf Frauen, im Alter von 19–40 Jahren, mit verschiedenen sexuellen Orientierungen. Zwei von ihnen sind Ärztinnen. Zusammengerechnet haben sie acht Kinder geboren und 25 Abtreibungen erlebt – und wie sie schreiben: „Wir wissen also worüber wir reden, wenn wir über Abtreibung und Verhütung sprechen.“ Ihr Expertinnen-Status ergibt sich also, anders als in der Medizin, nicht über ein Studium, sondern über leibliche Erfahrungen. Fachliches Wissen, zum Beispiel dazu, wie ein Ultraschallgerät oder die Pille funktioniert, haben sie sich selbst angeeignet und geben es in diesem Heft in verständlicher Sprache weiter. Ihr Eifer kommt insbesondere aus der Arbeit mit ungewollt Schwangeren und der Forderung nach der Legalisierung von Abtreibung. Die Aufklärung über zum Beispiel die Spirale geht in Brot und Rosen mit politischen Forderungen einher – teilweise sind diese bis heute nicht umgesetzt (wie die Forderung der ersatzlosen Streichung des §218).
Aus der Einleitung von Brot und Rosen schlägt mir die Machtlosigkeit dieser Aktivistinnen entgegen, die sie selbst so formulieren: Es gibt so viel zu tun, so viele Informationen zu recherchieren, Fragen zu beantworten, gesellschaftliche Missverhältnisse zu analysieren. Aber sie wollen diese Informationen so bald wie möglich veröffentlichen. Und sie haben als ehrenamtliche Gruppe zu wenige Ressourcen. Deshalb muss ihr Buch immer unvollständig bleiben – Verhältnisse wie in vielen feministischen Gruppen.
Eine feministische Gesundheitsbewegung für das 21. Jahrhundert?
Heute ist scheinbar von der Frauengesundheitsbewegung nicht viel übrig – auch nicht im feministischen Gedächtnis. Auf Wikipedia gibt es keinen Artikel zur FGB, in den Einführungswerken der Geschlechterforschung ist das Thema Gesundheit oder die FGB kaum sichtbar. Trotzdem profitieren wir bis heute von den Aktivist*innen – sie haben nachhaltig zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Frauen beigetragen und Impulse gegeben, die heute zum Beispiel in der Psychiatriekritik weiterleben. Wie wir als Patient*innen der Medizin gegenübertreten können, hat sich maßgeblich durch die FGB geändert. Heute ist es eher möglich, sich als mündige Patient*innen über Behandlungsmethoden und -alternativen, Risiken und Nebenwirkungen zu informieren.
Spannend für unseren heutigen Aktivismus ist, wie gut die Frauengesundheitsbewegungen miteinander vernetzt waren und sich international austauschten und unterstützten. Gerade die US-amerikanische FBG war einflussreich für die Bewegungen in Europa – in den 1970er-Jahren wurde über den Austausch mit Aktivist*innen viel Wissen und viele Ressourcen nach Europa gebracht. In Europa wurden immer wieder internationale feministische Gesundheitskongresse organisiert, und es bestanden auch Verbindungen zu Aktivist*innen in Südamerika und Indien.
Aus heutiger Perspektive würden wir sicher einiges anders formulieren als die Aktivist*innen vor fünfzig Jahren. Zum Beispiel fällt auf, dass in den Materialien zur FGB trans und intergeschlechtliche Personen unsichtbar sind. Die FGB hat Organe wie den Uterus ständig mit Frau-Sein in Verbindung gebracht oder Frau-Sein mit Gebärfähigkeit gleichgesetzt. Auch nicht-weiße oder armutsbetroffene Frauen sowie Frauen mit Behinderung hat die FGB oft nicht mitbedacht. An vielen Stellen setzte die FGB voraus, dass die Kategorie „Frau“ einheitlich sei, dass alle Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht und ähnliche Forderungen und Wünsche hätten.
Auch die konsequente Ablehnung der wissenschaftlichen Medizin und die Nähe zur Alternativmedizin muss kritisch betrachtet werden. Beispielsweise finden sich in Hexengeflüster Stellen, in denen alle Medikamente abgelehnt werden, auf Kräuterbehandlungen verwiesen wird (deren Nebenwirkungen und Risiken unbekannt sind) und zum Beispiel Alkohol gegen Schmerzen bei der Geburt empfohlen wird. Während es wichtig ist, Behandlungsalternativen zu erkunden, die Medizin kritisch zu beleuchten und Angebote zu schaffen, in denen Patient*innen sich wahrgenommen fühlen, bergen Alternativmedizin bzw. Esoterik reale Gefahren. So verzichten zum Beispiel Personen, die alternativmedizinische Angebote nutzen, oft auf eine Behandlung der von wissenschaftlicher Evidenz gestützten Medizin. So schön es auch wäre: Mondschein, Bauchtanz und Kristalle heilen nun mal keinen Krebs.
Die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe Berlin schreibt in ihrem Zine zur FGB, dass sie mit ihrer Arbeit die FGB aktivieren, fortsetzen und aktiv halten wollen – in ihrer ganzen Komplexität: „Wir wünschen uns, dass die Gesundheitsbewegung, ihre Praktiken und Modelle, ihre Materialien und Aktionsformen rissig bleiben, glitschig, gemischt, vielfältig, subjektiv und uneindeutig. Denn eigentlich ist die Zeit reif für eine weitere Gesundheitsbewegung, das haben wir durch die Corona-Pandemie gemerkt. Auch heute bräuchten wie Räume, in denen es um unsere Körper gehen sollte“, so die Gesundheitsrecherchegruppe. Um Gefühle, Schmerzen, Krankheiten und Krisen – und eben auch um den Zustand des Gesundheitssystems, um Rassismus, Heteronormativität, Sexismus und andere Diskriminierungsformen in der Medizin – und so viel mehr. Aktuell entstehen wieder Community-gestützte Angebote wie Queermed oder Gynformation, die Patient*innen dabei helfen, sensible Ärzt*innen und eine nicht-diskriminierende Gesundheitsversorgung zu erhalten, und weitere Angebote wollen eine nicht-rassistische Gesundheitsversorgung ermöglichen. Sind das vielleicht erste Schritte einer intersektionalen Gesundheitsbewegung im 21. Jahrhundert?
Annika Spahn (sie/ihr) ist Doktorandin an den Universitäten Basel und Freiburg und forscht zu Heteronormativität in der Sexualmedizin. Außerdem ist sie Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen und arbeitet als Geschäftsführung beim Queer Lexikon.
Fußnoten:
(1) Neben vielen anderen Aspekten ist auch der Zeitrahmen der FGBs völlig unklar – einige Artikel legen den Beginn der FGB auf die 1960er-Jahre, manche auf die 1970er-Jahre. Vermutlich kann 1968 als Ursprung angesehen werden, klar ist es aber nicht. Das Ende wird manchmal Mitte der 1980er-Jahre gesetzt, manchmal erst Ende der 1990er-Jahre und in manchen Artikeln wird eher davon gesprochen, dass die FGB nie ganz geendet hat, sondern nur in der Frauengesundheitsforschung aufgegangen ist.
(2) Das gilt insbesondere für die BRD. In der DDR waren solche Veröffentlichungen u.a. aufgrund der repressiven Bedingungen kaum möglich.
(3) Je nach Quelle auch bereits 1975.
(4) Dieser Verlag existierte bis 2019 als „Orlanda Frauenverlag“ in professionalisierter Form.
(5) Sowohl die Gruppe als auch das Heft werden in diesem Artikel mit Brot und Rosen benannt.