Klitoris: unbekannt

Mädchen müssen erst lernen, wie sie eine selbstbestimmte Sexualität leben können. Bettina Enzenhofer und Sylvia Köchl haben mit der Sexualpädagogin und Workshop-Leiterin Kerstin Pirker gesprochen.

Illustration einer Klitoris mit Vorhofschwellkörpern, Klitorisschenkel, Klitorisschwellkörpern und Klitorisspitze
Innere Anatomie einer Vulva mit Fokus auf die Klitoris, Illustration: Marnanel/Wikimedia, public domain

Über „Liebe, Sex und mehr“ spricht Kerstin Pirker mit Mädchen in den Workshops, die sie vor allem an Hauptschulen anbietet. Die jungen Frauen sind zwischen 13 und 14 Jahre alt und haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Dass Mädchen über ihre eigenen Körper und sexuellen Bedürfnisse kaum Bescheid wissen, zeigt sich dabei immer wieder.

Bettina Enzenhofer, Sylvia Köchl: Was sind die wichtigsten Themen der Workshops? Ist der Orgasmus überhaupt ein wichtiges Thema?

Kerstin Pirker: Es gibt Themen, nach denen die Mädchen fragen, ich nenne sie „die ihnen nahegelegten Themen“, dazu zählen Verhütung, Schwangerschaft, erstes Mal und „richtiger Sex“ (damit meinen sie heterosexuellen Geschlechtsverkehr). Dann gibt es Themen, nach denen sie nicht fragen, die aber von großem Interesse sind und die ich deshalb einbringe: Klitoris, Selbstbefriedigung, Lust, Orgasmus, Nein-Sagen, sexuelle Gewalt. Die Mädchen fragen kaum nach dem Orgasmus, er wird manchmal beim Themensammeln erwähnt, direkt fragen sie nicht danach. Wenn ich darüber spreche, sind sie sehr neugierig.

Wir sind selbst mit dem Halbwissen aufgewachsen, die Klitoris sei dieser „kleine Knubbel“. Ist genaueres Wissen heute unter den Mädchen selbstverständlicher? Wissen sie über ihre Geschlechtsorgane und deren Anatomie und Funktionen Bescheid?

Die Mädchen, die ich in den letzten 15 Jahren kennengelernt habe, wissen nichts darüber! Maximal kennen sie den „kleinen Knubbel“, oft nicht mal das. Das Wort Klitoris ist nahezu unbekannt, Kitzler schon eher, das weibliche Sexualorgan in seiner Größe und Anatomie ist jedoch völlig unvertraut. Unserer Erfahrung nach ist es auch für die meisten erwachsenen Frauen unbekanntes Terrain. Ich sage immer, dass die Klitoris für nichts anderes da ist als für unser Lustempfinden, das überrascht die Mädchen. Nicht selten reagieren sie mit Abscheu und Ekel, wenn ich über weibliche Lust spreche. Sich selbst zu betrachten oder zu berühren ruft „Igitt!“-Rufe hervor, „Wie pervers!“ oder „Das hab ich nicht nötig, hab ja eh einen Haberer*“.

Kürzlich erzählte diestandard.at-Bloggerin „DieMama“ von einer Freundin, die ihrer dreijährigen Tochter einen Spiegel vor die Vulva hielt und ihr zeigte, wo die Klitoris zu finden ist, um ihr Albernheiten wie „da unten“, „Mumu“ und Ähnliches zu ersparen bzw. sie nicht mit dem negativierenden Gerede von „Mädchen haben nichts, Buben haben einen Penis“ allein zu lassen. Welche Themen, die wir unter Sexualität subsumieren, sind Ihrer Erfahrung nach für Mädchen ab welchem Alter relevant bzw. verständlich?

Wissen über die Klitoris ist meiner Ansicht nach Basiskörperwissen und sollte im Kindergarten vermittelt werden. Es passiert aber nicht mal in der Volksschule, selten in der Hauptschule oder in der Allgemeinbildenden Höheren Schule. Auch die Schulbücher sind mangelhaft hinsichtlich der Klitoris, weibliche Lust und Orgasmus bleiben im Regelfall unerwähnt.

Themen für die unter 12-Jährigen sind Körperthemen, Klitoris, Lust, Veränderungen in der Pubertät, Brüste, die Regel, Grenzen, angenehme und unangenehme Gefühle. Danach wird die Kontaktaufnahme zu Jungs interessant, bspw. die Frage: Wie weiß ich, ob er mich mag? Damit gehen viele Fragen nach männlicher Sexualität einher, selten fragen die Mädchen auch aktiv nach der eigenen Sexualität. Je konkreter die realen sexuellen Erfahrungen sind – meist geht es im Alter von 14–15 Jahren los – desto nüchterner wirken die Mädchen.
Relevant bleibt meiner Meinung nach in jedem Alter die Information über das „Eigene“, Klitoris, Selbstbefriedigung (als positiv, lustvoll und sogar gesund). Weiters die Erwähnung der Vielfalt der weiblichen Genitalien und Brüste, die kritische Beleuchtung des weiblichen Schönheitsideals und die Aufklärung über die realitätsferne Darstellung von (weiblicher und männlicher) Sexualität in Pornos.

Gewisse Diskrepanzen zwischen Wissen und eigenem Erleben begleiten viele Frauen auch noch als Erwachsene: Wie oft muss ich Lust auf Sex haben? Muss ich immer einen Orgasmus haben? Vorstellungen davon, wie Sex „sein soll“, führen so z.B. zum Vorspielen eines Orgasmus. Schlagen sich die Mädchen heute damit auch noch herum?

Ja! Von Sexualberaterinnen höre ich, dass das Problem Nr. 1 von jungen Frauen in der Sexualberatung das Vortäuschen von Orgasmen ist und die Frage: Wie kann ich endlich damit aufhören? Das scheint sich durch die Pornografie noch verschärft zu haben. In Pornos ist selten Hetero-Sex zu sehen, der Frauen zum Orgasmus bringt, bspw. die Stimulation der Klitoris beim Geschlechtsverkehr. Die meisten Frauen geben an, dass sie beim Oralsex am zuverlässigsten zum Orgasmus kommen, in Pornos dominiert jedoch die Fellatio.

Wie kann es den Mädchen gelingen, die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu erkennen? Oder anders gefragt: Wenn Sie mit den Mädchen arbeiten, was ist dann der gemeinsame Ausgangspunkt, von dem aus jedes Mädchen seine individuellen Bedürfnisse entdecken und artikulieren kann?

Ich unterscheide zwischen dem Gemeinsamen und dem Individuellen unter Mädchen (oder Frauen) und versuche, beide Pole auszubalancieren. Das lässt sich sehr gut an der Klitoris darstellen: Jede Frau hat eine, sie sieht so und so aus. Ich benutze üblicherweise das Bild, auf dem das ganze Organ Klitoris gut zu erkennen ist, ich erläutere die Größe, Anatomie und Funktion. Die Klitoris ist das Organ, das Lust und Orgasmus auslöst. Das ist das Verbindende.

Individuell ist, welche Berührung das einzelne Mädchen wo an der Klitoris, wie und wie lange schätzt, welche sexuellen Erfahrungen sie gemacht hat, ob sie lieber mit einem Jungen oder mit einem Mädchen ins Bett geht, das alles ist höchst unterschiedlich. Manche Frauen schätzen die Stimulation am Klitoriskopf, andere bevorzugen einen oder zwei Finger in der Scheide und stimulieren den Klitoris-Harnröhrenschwellkörper. Für die einen ist ein einziger Orgasmus wunderbar, für andere sind zwei bis drei normal, um sich befriedigt zu fühlen, wiederum andere erleben selten oder nie einen Orgasmus.

Ich halte es für sinnvoll, die Klitoris zum Ausgangspunkt für die Körper- und Lustaufklärung zu nehmen, indem ich z.B. sage, dass die Scheide eine Körperöffnung ist, die sehr gut dazu geeignet ist, die Klitoris rundum zu stimulieren. Das herkömmliche heterosexistische Aufklärungsmodell geht ja immer von dem Paar Scheide-Penis aus. Eventuell hat die Frau bzw. das Mädchen auch Lust, etwas einzulassen, das zeigt sich gewöhnlich aber erst nach ausreichender Stimulation der Klitoris.

Von einer Kollegin habe ich auch die „Körperampel“ übernommen: Erst wenn alle drei Lichter auf grün stehen, Kopf, Herz und Genitalien (d.h. die Klitoris ist erregt und angeschwollen, die Scheide feucht und öffnet sich), dann ist es möglich, etwas in der Scheide aufzunehmen. So vermittle ich das, denn die Erfahrung zeigt, dass junge Frauen häufig Geschlechtsverkehr zulassen und trotz Trockenheit und Schmerzen mitmachen, weil sie gar nicht stimuliert wurden.

Inwiefern gelingt es lesbischen und Trans-Mädchen, ihre eigene sexuelle Orientierung/Identität zu akzeptieren, wenn sie merken, dass das nicht den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft entspricht?

In meinen Workshops erfahre ich wenig über die sexuelle Orientierung der Mädchen. In einzelnen Fällen waren lesbische Mädchen darunter, die in der Klasse bereits geoutet waren. Der Regelfall ist, dass die Mädchen überrascht sind, wenn ich über sexuelle Orientierungen spreche, z.B. „Partner oder Partnerin“ sage. Es zeigt sich, dass die heterosexuellen Mädchen das überhören, die anderen aber danach in der Pause das Gespräch unter vier Augen mit mir suchen, weil sie motiviert wurden, sich Raum zu nehmen. Manchmal fragen Mädchen „für Freundinnen“, meistens sprechen sie dann über sich selbst.

Trotz vorgeschobener Toleranz ist die Ablehnung gegenüber Lesbischsein groß, das hat viel mit Ängsten zu tun. Meist sprechen die Mädchen erst sehr großzügig („Jede wie sie mag …“), wenn ich aber dann ein wenig nachhake, tun sich schnell Vorurteile auf.

Diverse Studien belegen, dass nicht-heterosexuelle und transsexuelle Jugendliche in der Pubertät besonders leiden, vermehrt Depressionen haben und Suizidversuche unternehmen. Deswegen ist es unerlässlich, Vielfalt und Wahlfreiheit nicht nur zu predigen, sondern konzeptionell zu verankern und zu praktizieren. Ich spreche z.B. immer über sexuelle Orientierungen und nicht gesondert über Homosexualität.

Eine große Erleichterung stellt das Internet dar, denn die Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten, sind bedeutend einfacher geworden, auch für die Schüchternen.

Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben – was bedeutet für sie selbstbestimmte Sexualität?

Sexuelle Gewalt ist leider sehr verbreitet, viele Mädchen sind in der einen oder anderen Form betroffen. Es zeigen sich deutliche Zusammenhänge zwischen selbstverletzendem Verhalten – dazu zähle ich auch das „Drüberlassen“, den Geschlechtsverkehr, den nur der Partner wünscht – und erlebten Übergriffen. Die meisten Mädchen benötigen Unterstützung beim Nein-sagen-Lernen, auch diejenigen ohne sexuelle Gewalterfahrungen. Wir werden ja schon von klein auf trainiert, ständig zu lächeln, wenn wir sprechen. Das wird zur Falle, wenn es um Grenzüberschreitungen geht.

Selbstbestimmte Sexualität bedeutet, mein Eigenes zu entdecken und zu leben. Und zu „verlernen“, was wir als „richtigen Sex“ gesehen, gehört, gelesen und erzählt bekommen haben. Richtig ist, was mir in einer bestimmten Situation mit einer von mir ausgewählten Person gut tut, was lustvoll für beide ist. Das ist für die meisten Frauen (und Männer) ein lebenslanges Abenteuer.

* Anm.: Österreichisch für „Freund“

Kerstin Pirker, geboren 1974, Sexualpädagogin, Frauenforscherin, Yoga-Lehrerin. Mitarbeiterin im Frauengesundheitszentrum in Graz, Schwerpunkt sexuelle Gesundheit von Mädchen und Frauen.

Sexualkunde

Sexualkunde klärt nicht auf. „Die Schule hat nicht nur die Aufgabe, sexualkundliche Informationen zu vermitteln, sondern auch echte Lebenshilfe zu bieten“, so sieht es in Österreich der Grundsatzerlass „Sexualerziehung in den Schulen“ vor. Doch: inwieweit wird diese Richtlinie umgesetzt? Kerstin Pirker analysierte sechs aktuelle österreichische Schulbücher: Wie wird in ihnen die Sexualität von Mädchen und Frauen dargestellt? Die Ergebnisse zeigen klar: Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Denn Sexualität wird ausschließlich im Zusammenhang mit Fortpflanzung beschrieben, weibliches Lustempfinden – das Entstehen von Lust und Erregung – ist jedoch kein Thema. Die Klitoris wird in keinem der ausgewerteten Schulbücher vollständig erklärt oder grafisch korrekt dargestellt, in den Abbildungen ist sie meist zu klein oder bleibt überhaupt eine Leerstelle. Dass die Stimulation der Klitoris eine zentrale Voraussetzung sexueller Lust ist, bleibt in den Schulbüchern unerwähnt. Ebenfalls kaum ein Thema: der weibliche Orgasmus.
Was müsste also verbessert werden? Kerstin Pirker schlägt einige Qualitätskriterien vor: Lust und Fortpflanzung sollten nicht miteinander vermischt werden. Insbesondere weibliche Lust, Erregung und Orgasmus müssen ausführlich erläutert, außerdem Informationen zur Klitoris vermittelt werden. Die Vielfalt sexueller Orientierungen und sexueller Aktivitäten (d.h. nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern bspw. auch orale Stimulation) inklusive Selbstbefriedigung wären weitere wichtige Themen. Und nicht zuletzt: Junge Frauen sollten dazu angeregt werden, ihre Sexualität aktiv zu gestalten, die eigenen Bedürfnisse und Unsicherheiten wahrzunehmen, und lernen, „Stopp“ zu sagen.

Bettina Enzenhofer

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Februar 2012.

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