Diversität und Gesundheit
Etliche Beispiele zeigen: Es gibt noch immer keine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung. Aber gemeinsam können wir einiges in Bewegung setzen. Von Lucia Mair und Awa Naghipour
Das ist die Zusammenfassung von einem Text über Gerechtigkeit im Gesundheits-System. Die Medizinerinnen Lucia Mair und Awa Naghipour haben den Text geschrieben.
Gesundheit ist seit 1948 ein Menschenrecht. Das bedeutet: Alle Menschen haben ein Recht auf Gesundheit und damit auf eine gute Behandlung im Gesundheits-System. Aber: Dieses Recht ist immer noch nicht umgesetzt.
In der Medizin gibt es eine Norm: ein weißer, heterosexueller Mann ohne Behinderungen. Wenn ein Mensch anders als die Norm ist, hat dieser Mensch Nachteile im Gesundheits-System. Zum Beispiel weiß man zu wenig darüber, wie Medikamente bei Frauen wirken. Oder Ärzt*innen haben Vorurteile und nehmen zum Beispiel Schmerzen von Migrantinnen nicht ernst. Oder eine Praxis ist nicht barrierefrei. All das nennt man Diskriminierung. Diskriminierung verhindert eine gute gesundheitliche Versorgung von allen Menschen.
Zusätzlich bedeutet Diskriminierung im Alltag viel Stress. Wenn der Stress über lange Zeit hoch ist, kann man davon krank werden.
Im Medizin-Studium lernt man zu wenig über diese Zusammenhänge und Ungerechtigkeiten.
Lucia Mair und Awa Naghipour sagen: Alle Menschen im Gesundheits-System müssen sensibilisiert sein. Sie müssen wissen, wie ungerecht das Gesundheits-System ist. Und sie müssen sich dafür einsetzen, dass es gerechter wird. Damit alle Menschen eine gute Gesundheits-Versorgung bekommen.
Bettina Enzenhofer hat diese Zusammenfassung geschrieben. Hast du Fragen zum Text? Schreib an die Redaktion: be(at)ourbodies.at
Den folgenden Beitrag haben wir im Februar 2024 als Eröffnungsvortrag für den Diversity in Health Kongress 2024 gehalten, der sich mit Gleich- und Ungleichbehandlung im deutschen Gesundheitswesen befasste. Alle genannten Zahlen beziehen sich also auf Deutschland. Die Beiträge und Diskussionen des Kongresses wurden aufgezeichnet und können hier nachgeschaut werden.
Claudette Colvin, Schwarze Aktivistin und eine Vorreiterin in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung – sagte im Jahr 1955, Zitat: “I knew then and I know now, when it comes to justice, there is no easy way to get it.” Also sinngemäß: „Wenn wir über das Erreichen von Gerechtigkeit reden, wusste ich damals und ich weiß heute: es wird nicht leicht“.
Leicht war es auch nicht, den an uns formulierten Arbeitsauftrag umzusetzen: einen kurzen Abriss über das vieldiskutierte, facettenreiche, oft emotional umkämpfte Thema „Diversität und Gesundheit“. Es gibt verschiedene Brillen, die sich hierfür aufsetzen lassen. Wir beide beispielsweise sind Menschen, die im Gesundheitsbereich, in Kliniken und Praxen ärztlich gearbeitet haben und die Sicht von innen gut kennen. Wir sind aber auch: Forscher*innen, die unser Gesundheitssystem kritisch und interdisziplinär von außen in den Blick nehmen; wir sind ehrenamtlich aktiv, weil wir konkrete, gesellschaftspolitische Veränderung erreichen wollen; und: selbst Patient*innen und Angehörige.
Eine analytische Brille wollen wir heute bewusst hinzuziehen. Das Einstiegszitat von Claudette Colvin hat schon angedeutet, welche: die der Frage von Gerechtigkeit.
Diversität ist ein definierender Begriff unserer Zeit, oder wie der Anthropologe Arjun Appadurai mal sagte: „Diversity as a term is in the air“ – sie schwirrt umher. Genauer betrachtet ist Diversität diffus, facettenreich und vielschichtig. Die Auseinandersetzung mit ihr birgt Herausforderungen und unangenehme Erkenntnisse über Realitäten, auch in unserem aktuellen Gesundheitswesen – und zwar hier über eine Realität, die ungerecht ist. Im Folgenden möchten wir einen Blick auf diese ungerechte Realität werfen, den Finger in die Wunde legen und fragen: Wo, wie und warum diskriminiert unser Gesundheitswesen? Was bedeutet Diversity in Theorie und Praxis? Was kann dieser Begriff leisten, was nicht? Und: Wo setzen wir – gemeinsam – an, um ein gerechteres Gesundheitssystem zu gestalten, das die vulnerabelsten Gruppen mitdenkt und gerecht behandelt, statt sie zu vergessen?
… there is no easy way to get it. Not easy: nicht leicht. Aber – wie wir sehen werden – notwendig.
Diversity – Versuch einer Definition
Beginnen wir mit dem Versuch, Diversity zu definieren. Wenn in Deutschland von Diversität gesprochen wird, sind im Allgemeinen die sechs im Gleichbehandlungs-Gesetz verankerten Merkmale gemeint: Alter, Behinderung, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion/Weltanschauung und sexuelle Identität.
Diversität ist also, einerseits, Vielfalt – ein grundlegendes Phänomen menschlicher Gesellschaften. Sie beschreibt aber auch, als Konzept Diversity – und hier wird es oft etwas diffus –, deren Umgang mit Verschiedenhaftigkeit. Zunehmend ist Diversität ein gern gebrauchtes Schlagwort in Unternehmen – auch im Gesundheitsbereich –, das wie selbstverständlich mit Innovation, Agilität und Produktivität in einer globalisierten Welt in Verbindung gebracht wird. Seit Ende der 1980er passiert das unter Stichwörtern wie Diversity „Management“ oder Diversity „Policies“, die „mit Vielfalt produktiv umgehen“.
Diversität ist also ein elastischer Begriff. Und genau das kann es so schwer machen, wirklich über Diversität zu sprechen – und darüber, was sie im Gesundheitsbereich bedeutet. Stellt sich nun die Frage: Wie divers ist Deutschland überhaupt?
Wir können feststellen: 28,7 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine internationale Biografie. 13 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine Behinderung, schätzungsweise 16 Prozent eine Beeinträchtigung. 21 Prozent leben in Armut, ca. 61.000 Personen sind nicht krankenversichert. Die, die es sind, sind zu 89 Prozent gesetzlich und elf Prozent privat krankenversichert. Etwa 14 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben keinen deutschen Pass – etwas mehr als zwölf Millionen Menschen. Ca. dreißig Prozent der Menschen sind älter als sechzig Jahre und sieben Prozent der Personen in Deutschland (statistisch Europas Spitzenposition) fühlen sich der LGBTQIA+-Community zugehörig.
Diese Zahlen haben wir mitgebracht, um vor allem eines zu zeigen: Deutschland ist ausgesprochen divers. Hier leben viele Menschen, die aus der Erzählung der Dominanzgesellschaft herausfallen – also einer kulturellen Norm davon, wie eine Gesellschaft (vermeintlich) aussieht, wie sie lebt, liebt und arbeitet. Was das genau bedeutet, sehen wir gleich.
Warum ist es, gerade heute, so wichtig, sich diesen Fakt immer wieder in Erinnerung zu rufen?
Werden wir dem Recht auf Gesundheit gerecht?
In Deutschland wie international ist Gesundheit als Menschenrecht seit 1948 gesetzlich verankert: in der völkerrechtlich bindenden Menschenrechtserklärung. Und national im Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes. Deutschland verpflichtet sich darin, eine angemessene, diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung sicherzustellen.
Das bedeutet: Gesundheit ist ein Recht, das alle haben – die Behandlung von Personen, die das Gesundheitssystem brauchen, muss unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sexualität, Geld, sozialem Status und Behinderung gleichwertig gewährleistet sein. Die nächste Frage, die sich uns stellt, ist also: Kriegen wir dieses Recht aktuell – Status Quo 2024 – umgesetzt?
Die kurze Antwort wäre: nein. Insbesondere unter der COVID-19 Pandemie hat sich schnell gezeigt, dass vor dem Virus eben nicht alle gleich sind. Sondern dass Infektionsrisiko, Krankheitsschwere und finanzielle Folgen durch Arbeits- und Einkommensverluste sozial ungleich verteilt waren.
Aber auch schon vor der Pandemie lässt sich in den letzten Jahrzehnten nicht feststellen, dass sich der Grad an gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland verringert – sondern im Gegenteil vergrößert.
Ein Standard, der ausschließt
Dass manchen Menschen das Recht auf Gesundheit verwehrt wird, hat Gründe. Wir sprachen eben von der Erzählung der Dominanzgesellschaft, aus der viele Menschen herausfallen. Diese Erzählung wurde – auch – durch die Medizin mitgeschrieben, und wird heute noch in ihr weitergetragen.
Denn in der Medizin besteht eine historisch gewachsene und festgeschriebene Norm: die eines Menschen der gesund, cis-männlich, weiß, nicht behindert, finanziell gut situiert, heterosexuell und an Standardmaßen orientiert ist. Eine wachsende Studienlage zeigt hier, national wie international: Alle Menschen und alle Körper, die dieser Norm nicht entsprechen, werden weniger in Forschung und Lehre abgebildet und berücksichtigt, haben mitunter einen erschwerten Zugang zu, und eine geringere Qualität der Gesundheitsbehandlung.
Ein praktisches Beispiel: Während der COVID-19 Pandemie waren Sauerstoffmessgeräte (sogenannte Pulsoxymeter) essenziell, die über eine simple Messung am Finger den Sauerstoffgehalt im Blut feststellen – wichtige Tools also, um eine klinische Verschlechterung bei Patient*innen mit COVID-19 zu erkennen. Aber: Mittlerweile wissen wir, dass Pulsoxymeter zwar bei heller Hautfarbe akkurat arbeiten, bei dunklerer Hautfarbe aber weniger. Patient*innen werden also falsch eingeschätzt und im Verlauf inadäquat medizinisch betreut. Auch andere medizinische Techniken und Geräte, Behandlungsschemata, Medikamentendosierungen sind von diesen Bias betroffen: Sie summieren sich quer durch das Gesundheitssystem wie Sand im Getriebe.
Es lässt sich also feststellen: Es fehlt an medizinischer Forschung und an Wissen, das die Realität unserer diversen Gesellschaft abbildet – weil sich die Biomedizin ausschließlich, über eine zu lange Zeit, einem normierten Standardkörper gewidmet hat, der nur einem kleinen Teil der Bevölkerung tatsächlich entspricht.
Dieses Ungleichgewicht stellt eine Benachteiligung auf struktureller Ebene dar – eine Seite, die im klinischen Alltag oft eine eher unsichtbare Rolle spielt.
Auf der anderen Seite findet sich gesundheitliche Ungerechtigkeit in Form von zwischenmenschlicher Diskriminierung wieder. „Diese Person hat einen Migrationshintergrund, deshalb übertreibt sie ihre Symptome. Diese Person ist nicht heterosexuell, deshalb hat sie viele wechselnde Sexualpartner*innen. Diese Person ist sehr alt, deshalb brauchen wir hier nicht mehr viel tun.“ Diese Gedanken oder Äußerungen kennen wir leider alle aus dem Alltag gut, und sie illustrieren, was Diskriminierung bedeutet: die Benachteiligung und Ungleichbehandlung einer Person, aufgrund ihr zugeschriebener Merkmale und ihrer Einordnung in bestimmte Kategorien. Die ohnehin schon sehr intime und verletzliche Situation, in der sich Menschen befinden, die ins Krankenhaus gehen oder ärztliche Hilfe aufsuchen, wird durch solche Erfahrungen noch verschärft.
Diskriminierung auf allen Ebenen
Schauen wir uns drei konkrete Fälle an, um die verschiedenen Diskriminierungsebenen etwas greifbarer zu machen.
Frau F. hat genetisch ein erhöhtes Brustkrebsrisiko, und seit einigen Monaten einen Knoten in der linken Brust bemerkt. Sie hat keinen geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland, und Sorge, sich einen Schein beim Sozialamt abzuholen, um sich ärztlich vorzustellen. Denn: Laut § 87 des Aufenthaltsgesetzes ist das Sozialamt verpflichtet, die Abholung dieses Scheins der Ausländerbehörde zu melden – eine Form von Meldepflicht, die in keinem anderen europäischen Staat besteht. Frau F. läuft also dann Gefahr, abgeschoben zu werden. Sie ist damit nicht allein: In Deutschland leben schätzungsweise 200.000 bis 500.000 Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Wie geht es weiter? Frau F. wird nach einem Sturz notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz ihrer ausgeprägten Schmerzen werden diese vom klinischen Personal nur mit leichten Schmerzmitteln behandelt: konkret, aufgrund rassistischer Annahmen bzgl. ihrer Hautfarbe – schwarz gelesene Personen hätten weniger Nervenendungen und fühlten weniger Schmerz. Erst nach Feststellung einer Fehlstellung im Bein wird ein Röntgenbild veranlasst, welches Knochenbrüche zeigt, die sich später als Folge von Knochenmetastasen des Brustkrebses herausstellen.
Schauen wir uns einen zweiten Fall an, den von K. K. nutzt aufgrund von Querschnittslähmung einen Rollstuhl. Die nächste urologische Vorsorgeuntersuchung steht an, um die Prostata von K. zu überprüfen. K. findet bei der Terminsuche keine urologische Praxis, die auf ihrer Webseite angibt, ob K. mit Rollstuhl in die Praxis kommt oder nicht: wo K. wohnt, haben nur ein Drittel der Praxen Vorkehrungen getroffen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Das Behandlungszimmer der Urologin, bei der K. nach langer Wartezeit einen Termin bekommt, ist mit Rampe zwar erreichbar, hat aber keine ausreichenden Vorkehrungen für eine digital rektale Untersuchung von Personen mit eingeschränkter Mobilität. Das Gesundheitspersonal wirkt überfordert und zunehmend ungeduldig. Als wäre das nicht schon schwierig genug, besteht die Urologin darauf, auf HIV und weitere Geschlechtskrankheiten zu screenen, weil K. nicht-binär und nicht heterosexuell ist. K. geht nach dieser Erfahrung frustriert nach Hause und vermeidet die nächste anstehende Vorsorgeuntersuchung komplett.
Ein letzter Fall. Die 53-jährige Frau M. ist gesetzlich krankenversichert. Sie bemerkt seit kurzem Schmerzen und Taubheitsgefühl in Knie, Halswirbelsäule und Schulter und wiederkehrenden Schwindel: Sie braucht einen Termin in der Orthopädie und Neurologie. Die zeitnahe Terminfindung ist, wie häufig, mühsam bis unmöglich. Im Schnitt muss sie, gesetzlich versichert, zwanzig Tage länger als eine privat versicherte Person auf einen Termin in diesen beiden Fachrichtungen warten. Als ihre Termine endlich anstehen und sie ihre Beschwerden schildert, wird sie von ihrem Arzt als angespannt und psychisch belastet wahrgenommen, bekommt vom Orthopäden Ibuprofen verordnet, und die Empfehlung, Stress zu reduzieren. Der Neurologe verweist sie zum Psychiater. Erst Jahre später wird bei ihr eine Multiple Sklerose diagnostiziert.
In allen drei Fällen sehen wir, wie unser Gesundheitssystem mit unterschiedlichen Dimensionen von Diversität umgeht – oder auch nicht. In allen Fällen greifen mehrere Stellschrauben ineinander und resultieren in einem schlechteren Endergebnis:
1. Wir sehen strukturelle Diskriminierung auf Gesetzesebene, wie die Gesetzeslage zur Meldepflicht oder Regelungen zu gesetzlich vs. privaten Krankenversicherungen.
2. Wir sehen institutionelle Diskriminierung, die sich z.B. durch die mangelnde Barrierefreiheit auf Webseiten und in Praxen äußert.
3. Darüber hinaus zeigt sich bei Frau F. und K. direkte zwischenmenschliche Diskriminierung durch mangelnde Sensibilisierung von Gesundheitspersonal zu Rassismus im Lehrmaterial, Barrierefreiheit und den Lebensrealitäten der LGBTQIA+-Community.
Wichtig zu beachten ist, dass Diskriminierung auch für sich genommen einen gesundheitlichen Risikofaktor darstellt: Der Afrozensus 2020, der Bericht über Diskriminierungsrisiken und -schutz im Gesundheitswesen des Bundes 2021und der Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors des DEZIM 2023 zeigen, dass erfahrene Diskriminierung zu Vermeidungsverhalten und verzögertem Aufsuchen von Ärzt*innen führen kann, und damit zu späterer Diagnostik und Therapie. Diskriminierung kann zu dauerhaft erhöhtem Stresslevel führen, und dadurch zu erhöhtem Auftreten von Erkrankungen, wie z.B. Schlafstörungen, Depressionen, Herz-/Kreislauf-, und Magen-Darm-Erkrankungen. Das sehen wir sowohl im Fall Frau F. und K.
Diskriminierung ist tief eingebettet in unser medizinisches Wissen, in Behandlungsstrukturen und die Behandelnden selbst – strukturell, institutionell und zwischenmenschlich – und verhindert so das, was eigentlich allen zusteht: eine gute Gesundheitsversorgung.
Connecting the dots
Die individuelle Person besteht aber nicht nur aus einem Merkmal, sondern ist von Verhältnissen geprägt, in denen sie aufgewachsen ist. Sie erlebt Rassismus (oder nicht), hat vielleicht begrenzte finanzielle Mittel, hat eine Geschlechts- und sexuelle Identität, u.v.m. – alles Faktoren, die sie in unserer Gesellschaft unterschiedlich positionieren – alles, was in der Fachliteratur unter soziale Determinanten von Gesundheit fällt.
Und diese Determinanten werden wiederum mitbestimmt durch strukturelle Determinanten: durch Gesetze, und Normen, durch wirtschaftliche Rahmenbedingungen, politische Entscheidungen und soziale Hierarchien.
Wenn mehrere Diskriminierungsmerkmale zusammenkommen und miteinander wechselwirken, entsteht eine eigene Lebensrealität – und damit Diskriminierungsrealität. Mehrfachdiskriminierte Menschen sind so mit anderen Herausforderungen konfrontiert als einfach oder gar nicht diskriminierte.
Ein etwas abstrakt klingender (aber nützlicher!) Begriff, um dieses Zusammenkommen zu erkennen und analysieren, ist die Intersektionalität. Wie auch Diversity: ein Buzzwort der letzten Jahre. Das Konzept wurde tatsächlich aber bereits vor über dreißig Jahren von der Schwarzen Juristin Kimberly Crenshaw geprägt und bezieht sich auf das englische Intersection, also die Straßenkreuzung, an der mehrere Ebenen zusammentreffen. Der Begriff beschreibt somit die Wechselwirkung von verschiedenen Formen von Diskriminierung: Eine Schwarze Frau erlebe eine andere Diskriminierungsrealität als eine weiße Frau, oder als ein Schwarzer Mann. Denken Sie an den Fall der Brustkrebspatientin Frau F. zurück, in dem dieses Zusammenspiel sehr deutlich wurde.
Intersektionalität geht also über eine rein lineare Analyse von Unterdrückung hinaus. Es reicht nicht, Diskriminierungsfaktoren lediglich getrennt voneinander zu betrachten und aufzuaddieren. In der Realität bedeutet das: Mehrfachdiskriminierung anzuerkennen – als eine eigene Diskriminierungsrealität.
Was wirklich gesund und krank macht
Rudern wir nochmal zurück: Wir wollten ja eigentlich keinen Input über Diskriminierung halten, sondern über Diversität und Gerechtigkeit. Aber aus kritisch-theoretischer Sicht ist das Verhältnis von Diversität, Antidiskriminierung und Gerechtigkeit zentral, und das eine mit dem anderen eng verknüpft – denn: Diskriminierung schreibt sich ein in jeden Bereich unseres Daseins. Wie wachse ich auf? Wo wohne ich, unter welchen Bedingungen arbeite ich? Welche Luft atme ich? All das ist geprägt von gesellschaftlichen Hierarchien und Machtverhältnissen. Das Gesundheitswesen ist hiervon nicht ausgenommen. Im Gegenteil.
Unser medizinisches Wissen und unser System ist, wie vorhin angerissen, nicht für eine diverse Gesellschaft gemacht. Und das schlägt sich in unseren Lehrplänen, in medizinischen Lehrbüchern, Universitätshörsälen und klinischen Leitlinien nieder. Diese Zusammenhänge, die wir gerade geschildert haben, sind selten Teil medizinischer Aus- und Weiterbildung – und wenn, nur am Rande. Damit fehlt Gesundheitspersonal oft die Fähigkeit, sie zu erkennen und auf sie zu reagieren. Was wir im hektischen Arbeitsalltag schnell ausblenden, ist die Tatsache, dass die sozialen und strukturellen Determinanten Gesundheit tatsächlich ganz fundamental beeinflussen: je nach Erhebung zwischen 45 und fünfzig Prozent.
Für Gesundheitsberufe bedeutet das umgekehrt: Die Versorgung, die wir in den Praxen und Kliniken leisten, macht den deutlich kleineren Teil aus. Für eine wirklich biopsychosoziale Versorgung ist es also essenziell, sich auch mit diesem strukturellen „Rest“ zu befassen. Konkrete Konzepte wie der Ansatz der strukturellen Kompetenz oder auch von Health in all Policies der WHO setzen hier an. Strukturelle Kompetenz ist ein interdisziplinäres Konzept, um all diese Zusammenhänge in der Gesundheitslehre zu vermitteln. Der Health-in-all-Policies-Ansatz wiederum beschreibt Gesundheit als politikfeld- und sektorenübergreifende, und vor allem als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass, wenn soziale Bedingungen den größten Anteil unserer Gesundheit bedingen, Sozialpolitik zwangsläufig auch Gesundheitspolitik ist. Soziale Gerechtigkeit auch gesundheitliche Gerechtigkeit schafft.
Über Buzzwörter hinaus
Kommen wir zum Schluss, und der Frage: wie jetzt weiter?
Die häufige erste Antwort auf die konkrete „Herausforderung Diversität“ im Arbeitsalltag lautet: mehr Sensibilisierung. An dieser Stelle nun eine Sensibilisierungs-Brille. Mehr Anti-Sexismus-Trainings, mehr Anti-Bias-Workshops, mehr Anti-Rassismus-Schulungen. Mehr kulturelle Kompetenz. Die Angebote hierfür sind zahlreich und ein Baustein – sie reichen aber nicht aus. Die größten Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit liegen – wie wir gesehen haben – in fundamentalen sozialen Strukturen, die die „Sensibilitäts-Brille“ – mit ihrem Fokus auf zwischenmenschliches – meist übersieht. Ehrlich und differenziert über Diversität zu sprechen, ist auch ein politischer Akt – gerade jetzt, in einer Zeit, in der in Deutschland und Österreich für Parteien wie AfD und FPÖ Rekordergebnisse prognostiziert werden.
Diversität und Intersektionalität sind beides Begriffe, die verankert sind in US-amerikanischen Bürgerrechts-, LGBTQIA+ und BPoC-feministischen Bewegungen der letzten sechzig Jahre. So sehr sie also zu Buzzwords wurden: Ihr Ursprung ist ein inhärent politischer. In ihnen steckt eine Beschreibung sozialer Gegebenheiten, aber gleichzeitig auch eine Handlungsaufforderung. Beide Begriffe können Perspektivwechsel anregen, von problem- zu lösungsorientiertem Handeln.
Wichtig bei beiden Konzepten ist es, dass sie nicht als leere Worthülsen bestehen bleiben, sondern in einer tatsächlichen kritischen Gestaltung von Umfeld und Realität münden: durch Anerkennung diverser Patient*innenerfahrungen im klinischen Alltag, über Auswahl von Forschungsteams und Forschungsdesign, und unsere Selektion von Wissensquellen bis hin zu Besetzung von Professuren, Entscheidungspositionen und Redner*innen für die nächste Konferenz.
Allein schon unter den eingeladenen Referent*innen haben wir heute geballte Expertise, und Perspektiven aus Forschung, Universitäten, Kliniken, Vereinen, Start-Ups, Beratung, Patient*innenvertretung und Gesundheitspersonal vereint. Sponsor*innen der Veranstaltung sind unter anderem Krankenkassen, Unternehmen und politische Institutionen. An diversen Handlungsfeldern mangelt es hier heute also nicht. Es braucht aber über passiven Input hinaus einen äußeren und inneren Call-to-Action.
Wenn jeder von uns die Dringlichkeit des Problems Diskriminierung im Gesundheitswesen anerkennt, wenn jede von uns den eigenen Handlungsspielraum identifiziert, wenn jede*r von uns sich aktiv vernetzt, dann können wir gemeinsam einiges in Bewegung setzen.
“… when it comes to justice, there is no easy way to get it.”
Easy nicht. Aber indem wir unsere Privilegien und Ressourcen reflektieren und sie individuell sowie strukturell einsetzen für ein gemeinsames Ziel, kommen wir über Buzzwörter hinaus und jeden Tag ein Stück näher an die Vision einer gerechten Gesundheitsversorgung für alle.
Awa Naghipour ist Ärztin und Wissenschaftlerin, forscht und lehrt zu dem Schwerpunkt geschlechter- und diskriminierungssensible Medizin.
Lucia Mair ist Ärztin und Medizinanthropologin, und forscht an der Universität Wien.
Gemeinsam mit anderen haben sie den Verein Feministische Medizin e.V. gegründet, der sich für Antidiskriminierung und Gleichberechtigung aller Menschen im Gesundheitssystem einsetzt.