Durchdrungen von der Zweigeschlechternorm

Hat sich in den letzten Jahren im medizinischen Intersex-Diskurs hinsichtlich Zweigeschlechternorm, Heteronormativität und Geschlechterungleichheit etwas verändert? Bettina Enzenhofer analysierte in ihrer Masterarbeit das Geschlechtermodell, das hinter aktuellen medizinischen Intersex-Texten steht.

Kunst von Alex Jürgen*: sehr viele verschiedene Geschlechtersymbole sind auf dunkelrotem Hintergrund gezeichnet.
© Alex Jürgen*

Nicht die Medizin an sich vorverurteilen, sondern analysieren, was medizinische Texte über Intersexualität aussagen: Das war eines meiner grundlegenden Forschungsinteressen. Intersex wird von Gender-Theoretiker_innen gerne beforscht und oft als Argument gegen eine scheinbar natürliche Zweigeschlechterordnung vorgebracht – doch beides wird von vielen intersexuellen Menschen heftig kritisiert. Die Analyse von aktuellen medizinischen Artikeln, auf denen das konkrete medizinische Handeln beruht, bleibt in den Gender Studies aber weitgehend eine Leerstelle.

Prinzipiell birgt das Vorhaben, als nicht-intersexuelle Person über Intersex zu schreiben, einige Gefahren. Die Intersex-Aktivistin und Wissenschaftlerin Emi Koyama schlug deshalb bestimmte Richtlinien vor, an denen sich nicht-intersexuelle Personen orientieren können/sollen, wenn sie über Intersexualität schreiben. Koyamas Hinweise sind bedeutend, dennoch konnte ich ihren Empfehlungen nicht in allen Punkten gerecht werden – insbesondere im Hinblick auf die Forderung, den Stimmen intersexueller Menschen Gewicht zu geben. Denn meine Fragestellung hatte nicht intersexuelle Menschen im Fokus, sondern eine Analyse des medizinischen Intersex-Diskurses. Diesen wollte ich mir genauer ansehen, denn er besitzt große Definitionsmacht, wenn es darum geht, Körper in „normale“ und „abweichende“, „intersexuelle“ und „nicht-intersexuelle“ einzuteilen. Dass solche Definitionen nicht per se, sondern nur vor dem Hintergrund sozialer Aushandlungen und Entscheidungen existieren können, wird von Mediziner _innen in der Regel allerdings nicht reflektiert.

Gegenderte Leitlinien

2006 wurde von zwei großen internationalen Fachgesellschaften eine umfassende medizinische Leitlinie zur „Behandlung“ von Intersex veröffentlicht: das „Consensus statement on management of intersex disorders“ (CS). Im CS wird nicht mehr von „Intersex“ oder „Hermaphroditismus“, sondern von „Disorders of Sex Development“ (DSD bzw. „Störungen der Geschlechtsentwicklung“) gesprochen, wobei DSD als „angeborene Erkrankungen, bei denen die Entwicklung des chromosomalen, gonadalen oder anatomischen Geschlechts atypisch ist“, definiert werden. Dies hat zur Folge, dass nun wesentlich mehr Erscheinungsformen zu DSD gezählt werden als zuvor zu „Intersex“. So galt im medizinischen Diskurs etwa eine Mündung der Harnröhre an der Unterseite des Penis (Hypospadie) bisher nicht als intersexuelles Merkmal, seit 2006 aber als DSD. Im CS wurden zudem sämtliche Variationen der Geschlechtsentwicklung neu klassifiziert – und zwar nicht mehr nach der Ausprägung der Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke), sondern nach den Chromosomen. 

Angesichts dieser umfassenden Neuerungen (es wurden auch die Behandlungsempfehlungen überarbeitet) interessierte mich, inwieweit das CS vom medizinisch-wissenschaftlichen Mainstream-Diskurs rezipiert wurde. Definition, Klassifikation und Behandlung von Intersex sagen auch etwas über das implizit zugrunde liegende Geschlechtermodell aus. Auf dieser Überlegung fußt meine Forschungsfrage: Lassen sich in neueren medizinischen Veröffentlichungen, die sich auf das CS beziehen, möglicherweise Brüche zum bisher herrschenden Geschlechtermodell beobachten – oder werden Zweigeschlechternorm, Heteronormativität und Geschlechterungleichheit weiterhin reproduziert?

Im empirischen Teil meiner Arbeit habe ich 15 Reviews und drei Leitlinien – allesamt publiziert zwischen 2006 und 2010 – nach bestimmten Kategorien qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet. Das CS bzw. seine Empfehlungen wurden in diesen Texten großteils übernommen. Relevant sind dabei die Details – hier einige ausgewählte Ergebnisse: 

Sex

Auffallend an den von mir untersuchten medizinischen Aufsätzen zu DSD ist, dass nicht erklärt wird, welche Komponenten das biologische Geschlecht umfasst. An mancher Stelle werden einzelne Aspekte des chromosomalen, gonadalen, hormonalen oder morphologischen Geschlechts erwähnt, doch nirgends werden alle Komponenten erläutert. Hier ist besonders auffällig, dass die Klitoris sowie die inneren Schamlippen (im Gegensatz zur männlichen Samenblase, Prostata, Eichel etc.) kein einziges Mal im Kontext der „normalen“ Geschlechtsentwicklung erwähnt werden. In den betreffenden Texten findet die Klitoris ausschließlich an jenen Stellen Erwähnung, an denen etwa von einer „vergrößerten Klitoris“ gesprochen wird – wobei auch hier nicht erklärt wird, welche Größe als „normal“ oder „vergrößert“ erachtet wird. 

Zweigeschlechternorm

Für Mediziner_innen ist es dermaßen selbstverständlich, Menschen in Frauen und Männer (bzw. in ein davon „abweichendes“, „uneindeutiges“ Geschlecht) einzuteilen, dass sie in der Regel nicht definieren, wovon sie eigentlich sprechen. Auch das Wissen darüber, was als „normal“ gilt, wird stillschweigend vorausgesetzt. Es wird erwartet, dass Neugeborene als weiblich oder männlich einzuordnen sind, „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ werden als Faktum verstanden, das höchstens eine einzige Frage aufwirft – nämlich wie man sie optimal „behandeln kann“.

Prinzipiell lässt sich das biologische Geschlecht, wie kritische Biolog_innen seit Jahren argumentieren, auch anders konzeptualisieren: In einem nicht-binären Geschlechtermodell, das Geschlecht beispielsweise als Kontinuum versteht, könnten geschlechtlich „uneindeutige“ Körper differenziert gelesen werden – nämlich nicht als „Störungen“, sondern als „Variationen“. 

In der gegenwärtigen Behandlungsdebatte wird das Ziel verfolgt, Intersexuellen ein Geschlecht zuzuweisen, wobei Mediziner_innen davon ausgehen, dass Sex und Gender kongruent sein sollen. Das soziale Verhalten soll also mit dem zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen, und das individuelle Begehren soll sich auf gegengeschlechtliche Menschen richten. Auch wenn mittlerweile ein Cross-Gender-Verhalten oder Homosexualität nicht mehr als Zeichen einer „falschen“ Geschlechtszuordnung aufgefasst werden, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuellen medizinischen Texte immer noch heteronormativ geprägt sind. Das zeigt sich etwa daran, dass ungeachtet der späteren individuellen sexuellen Vorlieben bei männlicher Geschlechtszuweisung ein „adäquater“ Penis geschaffen, bei weiblicher hingegen eine „für den Geschlechtsverkehr adäquate Vagina“ hergestellt werden soll. 

Geschlechterungleichheit

Ebenso wie bei der Zweigeschlechternorm zeigt sich auch in Hinblick auf den herrschenden Androzentrismus kaum eine Veränderung: Dass der Mann die Norm ist, manifestiert sich unter anderem darin, dass Geschlechter immer als „über-“ oder „untervirilisiert“, nie aber in Begriffen der „Feminisierung“ beschrieben werden. Demzufolge wird ein „uneindeutiges“ Genital bei XY-Geschlechtschromosomen als zu wenig, bei XX-Gonosomen als zu stark vermännlicht aufgefasst.

Immerhin gibt es mittlerweile Anzeichen, dass sich in der Bewertung weiblicher Genitalchirurgie etwas geändert hat: „Feminisierende“ Genitaloperationen werden heute nicht mehr als „technisch einfacher“ beschrieben und somit nicht mehr bagatellisiert. Eine grundsätzliche Ablehnung von chirurgischen Eingriffen in den ersten Lebensjahren findet sich zwar in keiner der Publikationen, doch äußern sich einige Autor_innen kritisch: Es wird auf die Risiken eingegangen und darauf hingewiesen, dass die Eltern vor einer Operation gut aufgeklärt werden müssen. Ebenso soll diskutiert werden, ob man eine OP bis zur Entscheidungsreife des Kindes aufschieben kann. Zudem wird betont, dass der funktionelle Outcome wichtiger sei als der kosmetische. Hier muss allerdings differenziert werden: Zum einen ist die Idee, eine als zu groß erachtete Klitoris zu verkleinern, immer kosmetisch und kulturell bedingt und steht im Widerspruch zur (mittlerweile) oft besprochenen Priorität der sexuellen Zufriedenheit, zum anderen ist unklar, inwieweit sich medizinische Texte in der konkreten medizinischen Praxis niederschlagen. 

Weitere Aushandlungen, insbesondere zwischen Intersexuellen und Mediziner_innen, sind also notwendig. Dass es auch unter Mediziner_innen keinen Konsens hinsichtlich geschlechtszuweisender Operationen an Neugeborenen gibt, ist hierfür zumindest ein Anfang.

Dieser Text erschien zuerst in an.schläge Mai 2012.

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