Ich weiß, was es alles geben kann“

Alex Jürgen* ist seit dem Dokufilm „Tintenfischalarm“ Österreichs meistinterviewter Intersexueller. Auch Julia Mac Gowan und Bettina Enzenhofer baten zum Gespräch.

Kunst von Alex Jürgen*: Worte "Mensch", "männlich", "weiblich", "ich", "bin", "inter", "egal". Die Worte sind wie in einem Kreuzworträtsel angeordnet.
© Alex Jürgen*

Julia Mac Gowan, Bettina Enzenhofer: Welche Herausforderungen erleben Sie dadurch, dass Sie intersexuell sind? Welche Auswirkungen hat die Diagnose auf Ihr Leben?

Alex Jürgen*: Das wirkt sich überall aus. Man muss ständig Formulare ausfüllen, sei es für die Versicherung, bei Facebook oder sonst irgendwo. Die Kästchen sind „männlich“ oder „weiblich“, das heißt, mich gibt es einfach nicht – anscheinend, aber ich sitze ja trotzdem hier. Die Herausforderung besteht überall im Leben, weil es in der Gesellschaft nur Männer und Frauen gibt und man deshalb von Rechtswegen gar nicht existiert. Ich kann nicht höflich angesprochen werden, ohne dass dabei ein Geschlecht angegeben wird: Ich kann „Herr“ oder „Frau“ sagen, aber es gibt keine höfliche Anrede für jemanden, der beides nicht ist. Herausfordernd ist auch, wenn einem im Berufsleben aufgezwungen wird, sich zu verleugnen: Bei Telefonkontakten war es von meinem Chef nicht erwünscht, dass ich Menschen am Telefon berichtige, wenn sie mich falsch ansprechen.

Das geht weiter bis hin zu Beziehungen. Alle Leute haben ihre Schubladen, in die sie sich gerne stecken. Andere bezeichnen sich als hetero- oder homosexuell, aber wenn ein Intersexueller dazu kommt, müssen sie diese Schubladen aufgeben. Das wollen viele nicht, weil sie sich in ihrem Schubladensystem sicher fühlen. Wenn man sagt „Ich bin ein Zwitter“, fragen sich die Leute erstmal nur: „Wie schaut der zwischen den Beinen aus?“ Was man nicht kennt, macht einem Angst, und wovor man Angst hat, dort traut man sich nicht hin und darüber macht man sich lustig – oder wendet Gewalt an. 

Vor einigen Jahren haben Sie sich über die Online-Plattform intersex.at organisiert. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Ich habe damals Intersex-Treffen organisiert, die Homepage gemacht, alles in einer One-Man-Show auf die Beine gestellt und finanziert. Ich hätte mir gewünscht, dass sich auch andere Leute beteiligen oder mir zumindest Kosten und Arbeit abnehmen. Das hat sich leider nicht so entwickelt. Viele wollten nicht bei einem Verein dabei sein, weil sie Angst hatten, dass bei den öffentlichen Satzungen ihre Namen angegeben werden.

Wenn man sich hierzulande Artikel über Intersexualität ansieht, haben diese zu über 95 Prozent mit mir zu tun. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich der einzige Zwitter, würde aber der Gesellschaft weismachen, dass ich nicht alleine bin. Dass es in Österreich keinen anderen Zwitter gibt, der öffentlich dazu steht, nervt mich. Unter solchen Bedingungen habe ich keine Lust, einen Verein oder etwas anderes zu betreiben.

Früher war es mir sehr wichtig, dass Informationen über Intersexualität ins Netz kommen. Als ich damals anfing, über mich zu suchen, habe ich nichts gefunden. Heute gibt es viele Internet-Seiten. Es ist mir aber immer noch wichtig, als Ansprechperson Intersexuellen oder ihren Eltern zur Verfügung zu stehen. Sie sollen die Möglichkeit haben, mit jemandem zu sprechen, der Ähnliches erlebt hat wie sie.

Sie sind durch den Film „Tintenfischalarm“ bekannt geworden. Mit welchen Konsequenzen ist es verbunden, als intersexuell „geouteter“ Mensch in der Öffentlichkeit zu stehen?

„Tintenfischalarm“ hat viel bewirkt, er hat vielen Intersexuellen Mut gemacht. Am schönsten finde ich, dass sich jetzt viele Intersexuelle mehr trauen, weil sie gesehen haben, dass das geht.

Viele Leute glauben, wenn rauskommt, dass sie Zwitter sind, haben sie keine Freunde mehr, aber dem ist nicht so. Im Gegenteil: Meine Freunde haben mich besser verstanden, als sie erfahren haben, was ich bin. Vorher war ich ein wandelndes Rätsel.

Mir ist sehr wichtig, dass die Gesellschaft mitbekommt, was da passiert. Viele Eltern von Intersexuellen hören von Ärzten, dass mit einer Operation alles getan sei. Aber das stimmt nicht. Meistens sind es mehrere Operationen, in meinem Fall waren es viel mehr als eine. Eltern sollen wissen: Da gibt’s wen, und da kann ich auch noch nachfragen. Meinen Eltern wurde gesagt, dass das so selten ist, die wären nie auf die Idee gekommen, zu einem anderen Arzt zu gehen oder Betroffene zu suchen. Wenn man niemanden kennt und nichts darüber weiß, kann es einem leicht als seltene Obskurität verkauft werden. Darum mache ich auch öffentlichkeitswirksame Sachen, ich gebe Interviews, egal wem. Auch Leute, die die „Kronen Zeitung“ oder „Bild“ lesen, müssen wissen, was Intersex ist. Was ich nicht mag, sind TV-Aufnahmen, bei denen ich Dinge machen soll, die ich sonst nicht tue, zum Beispiel mir Kinderfotos anzusehen. Am liebsten hätten solche Journalisten dann noch eine Träne im Gesicht, unterlegt mit Klaviermusik. Das brauche ich nicht. Ich bin nicht bemitleidenswert oder armselig, ich habe ein halbwegs gutes Leben.

Was fordern Sie?

Ich will eine bunte Welt, in der nicht mehr eingeteilt wird, sondern Leute so sein dürfen, wie sie sind. Die Welt ist superbunt, und wir sollten froh sein, dass wir in Farbe sehen können. Auch die Natur zeigt das: Es gibt Pflanzen und Tiere, die geschlechtsmäßig komplett aus der Reihe tanzen, zum Beispiel Fische, die ihr Geschlecht je nach sozialer Struktur wechseln. Der Mensch sollte sich nicht erheben, Gott zu spielen und zu bestimmen, was sein darf und was nicht. Vielfalt in der Welt ist super. Das kann nur super sein. Ich bin mit Intersexuellen weltweit vernetzt, ich weiß, was es alles geben kann – und wie schön alle leben könnten.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Mai 2012.

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