Emetophobie: „Bloß nicht erbrechen“
Wenn Anna Übelkeit verspürt, löst das bei ihr massiven Stress aus. Ein persönlicher Erfahrungsbericht von einem Leben mit Vermeidungstaktiken. Protokoll: Bettina Enzenhofer
„Ich hatte schon immer Panik davor, zu erbrechen. Ich habe mal zufällig über Emetophobie gelesen und mir wurde klar, dass das meine Angst beschreibt. Davor wusste ich nicht, dass es diese Phobie gibt. Ich kenne niemanden, der das hat. Ich kenne Leute, denen nicht gern übel ist, aber das hat eine andere Qualität als bei mir. Für mich ist es völlig ausgeschlossen, dass ich Erbrechen absichtlich herbeiführen würde, wie es manche machen, wenn sie sehr betrunken sind. Bei mir gilt: bloß nicht erbrechen.
Bereits das Gefühl, dass etwas sein könnte, stresst mich. Bei den Corona-Tests mit den Rachenabstrichen habe ich mich gefürchtet, aber das ist gut gegangen, da bin ich nicht empfindlich. Ich bin ständig nervös und denke mir in vielen Situationen: Jetzt darf nichts sein. Zum Beispiel, wenn man in ein Flugzeug steigt. Oder wenn mir übel ist, wir aber irgendwo hingehen müssen, zum Beispiel ins Theater – wo du nicht du selbst sein darfst. Ganz schlimm ist es auch irgendwo hinzufahren. Ich fahre lieber selbst mit dem Auto als bei jemandem mitzufahren, wo ich auf die andere Person angewiesen bin – auch, wenn eh alle Verständnis hätten. Auch beim Ausgehen war das früher schon so: Wenn es nicht mehr gepasst hat, habe ich gesagt, dass ich jetzt gehe. Ich habe dann nicht auf die Gruppe gewartet, bis sie aufbricht, sondern habe gesagt: Ich will jetzt gehen. Vielleicht auch, weil es stickig war, die Musik zu laut war. Mit Angst kombiniert ist das eine ganz schwierige Situation.
Vermeidungstaktiken
Ich schaue immer, dass alles möglichst stabil ist: genug essen, genug schlafen. Und ich wende viele Vermeidungstaktiken an. Ich fahre mit nichts, wo es mir den Magen ausheben könnte. Ich trinke nicht viel Alkohol, weil ich nicht will, dass mir schlecht wird. Selbst wenn ich merke, dass ich ein wenig betrunken bin – so weit könnte ich das gar nicht abschalten, dass ich noch mehr trinken würde. Ich esse nicht zu viel. Und ich esse keine abgespaceten Sachen, wo die Konsistenz seltsam ist. Bei Medikamenten-Beipackzetteln stresst es mich, wenn es heißt: Übelkeit kann bei einer von hundert Personen auftreten. Dann überlege ich mir, ob es wirklich notwendig ist, das zu nehmen. Wenn andere erbrechen, werde ich nervös, ich kann da nicht hinschauen. Ich bin auch auf den Geruch ganz sensibel, ebenso auf den Geruch von verdorbener Milch. Wenn ich Migräne habe, ist das auch ein großer Stressfaktor, denn als Kind war das bei mir mit Erbrechen verbunden. Heute muss ich rechtzeitig ein Migräne-Medikament nehmen, damit es nicht so schlimm wird und mein System das nicht mit Übelkeit koppelt. Wenn ich höre, dass ein Magen-Darm-Virus umgeht, vermeide ich den Kontakt. Die Personen treffen wir erst dann wieder, wenn keine Viren oder Bakterien mehr vorhanden sein können.
Kontrollverlust
Ich glaube, der Hauptgrund für meine Emetophobie ist die Angst vor Kontrollverlust. Das ist ganz schlimm, dass du dich beim Erbrechen nicht mehr kontrollieren kannst. In dem Moment macht der Körper alles selbst, du kannst nichts mehr verhindern, bist völlig fremdgesteuert. Das macht Panik.
Ich habe schon immer viel geweint, wenn mir übel war, weil ich so Angst vorm Erbrechen habe – das war schon so, als ich noch ganz klein war. Meine Eltern haben meine Angst nicht ernst genommen. Ich hatte nie Magen-Darm-Grippe und musste in meinem Leben bisher nicht oft erbrechen – ich erinnere mich an jedes einzelne Mal. Das finde ich bedenklich, denn andere Leute merken sich das nicht so wissentlich. Für mich waren das wohl Ausnahmesituationen. Einmal ist es mir in der Volksschule passiert und der Schulwart hat mich gezwungen, das aufzuwischen, vielleicht hat mich das traumatisiert. Meine Eltern führen meine Angst auf diese Situation zurück. Aber ich weiß, dass ich die Angst schon vorher hatte. Als ich ein Kind war, war das schlimm, denn ich war sehr dünn und alle haben geglaubt, ich wäre magersüchtig. Wenn ich anderen von meiner Angst zu erbrechen erzählt hätte, wären sie erst recht von einer Essstörung überzeugt gewesen.
You never know
Ich habe mich auch immer vor der klassischen Reisekrankheit gefürchtet, von der dir alle erzählen, wenn du zum Beispiel auf einem Boot bist. Das hat mich sehr gestresst, deshalb habe ich im Vorhinein viele Reisekaugummi gegessen und war einfach nur müde dadurch. Ich habe keine Reisekrankheit. Ich bin zwar immer sehr nervös, aber meinem Magen macht etwas wie Bootfahren normalerweise nichts aus – das habe ich einmal festgestellt, als wirklich wilder Wellengang war und alle außer mir erbrochen haben. Trotzdem beruhigt es mich nicht, zu wissen, dass ich nicht reisekrank werde. Im Gegenteil bin ich in diesen Situationen noch immer aufgeregt, denn you never know. Im Hinterkopf habe ich: Vielleicht bin ich trotzdem plötzlich reisekrank.
Sobald ich einen Anflug von Übelkeit habe, werde ich nervös. Man kann dann nicht mehr mit mir reden, ich muss mich auf mich selbst konzentrieren. Darauf, dass es nicht schlimmer wird. Im Alltag habe ich immer Tropfen mit für den Fall, dass mir übel wird. Kreislauftropfen auch – denn auch bei einem schwachen Kreislauf ist mir schon schlecht geworden. Zuhause trinke ich in so einer Situation bittere Getränke und nehme magenberuhigende Tropfen. Vielleicht ist das mit den Tropfen ein Placebo-Effekt, aber sie helfen mir gut.
Ängste ernst nehmen
Bei meiner Schwangerschaft war mir auch sehr schlecht. Ich fand es gemein, dass es „Morgenübelkeit“ heißt, bei mir hat das viel länger gedauert. Aber niemand gibt dir was dagegen. Alle sagen, dass das normal ist. Ich glaube nicht, dass es Hyperemesis Gravidarum war – beziehungsweise habe ich damals in einem anderen Land gewohnt und dort kannte man das ohnehin nicht. Beim Spazieren konnte ich meinen eigenen Speichel nicht schlucken, so schlecht war mir. Ernährt habe ich mich von Sprite – das war mit dem Zucker und der Kohlensäure okay. Ich habe zu Beginn der Schwangerschaft viel abgenommen, konnte kaum essen. Das war furchtbar. Erst ab der 16. Woche war mir nicht mehr schlecht und ich konnte wieder normal essen.
Ich würde mit meiner Emetophobie nicht zu Ärzt*innen gehen. Ich glaube nicht, dass mich damit jemand ernst nehmen würde. Ich glaube, die würden so wie bei meiner massiven Schwangerschaftsübelkeit sagen: „Das gehört dazu.“ Ich wüsste auch nicht, wo ich da hingehen sollte.
Bezüglich Emetophobie wünsche ich mir nichts Spezielles. Aber es wäre super, wenn die Gesellschaft empathischer wäre gegenüber Ängsten.“
Anna hat ihr Leben ansonsten im Griff.