Feministisch intervenieren

Das Münchner FrauenTherapieZentrum geht vor allem auf weibliche Biografien und Lebenslagen ein, der gesellschaftliche Kontext und Machtverhältnisse werden in der Beratung und Therapie stets mitgedacht. Polina Hilsenbeck, Geschäftsführerin und Gesamtfachleitung, stand Fiona Sara Schmidt und Bettina Enzenhofer Rede und Antwort.

Graffito mit 3 Frauen, die nebeneinander auf dem Boden sitzen. Die beiden außen sitzenden Personen legen jeweils eine Hand auf die Person in der Mitte. Die beiden äußeren Personen sagen: "That's not ok and it's not your fault" und "I know how you feel it happened to me too".
Artist: Linda Steiner, Foto: Rip Off Crew

Der Erfolg kam zwar langsamer, als die Frauen des Münchner FrauenTherapieZentrums (FTZ) in den 1970er-Jahren hofften. Heute ist das 1978 gegründete FTZ aber wesentlicher Teil der ambulanten Sozialpsychiatrie, Suchthilfe und Psychosomatik in München. Mehr als 160 Mitarbeiterinnen (vor allem Sozialpädagoginnen, Psychologinnen und Ergotherapeutinnen) in zwölf Einrichtungen und Diensten sind im Moment dafür verantwortlich, Frauen in Krisen zu begleiten – die meisten davon haben Psychiatrie- und Gewalterfahrungen in der einen oder anderen Form – und unterstützen sie dabei, mit ihrem Alltag, der Erkrankung und anderen Herausforderungen wieder klar zu kommen, sowie in der freien Wahl von Lebensformen, Identitäten und Sexualitäten. Seit über zehn Jahren wird an der interkulturellen Öffnung auf allen Ebenen gearbeitet. Und auch auf der Ebene der Arbeitsorganisation legt das FTZ Wert auf frauen- und familienfreundliche Strukturen. 

Fiona Sara Schmidt, Bettina Enzenhofer: Wie hängen antipsychiatrische Bewegungen mit der Gründung des FTZ zusammen? 

Polina Hilsenbeck: Wir formulierten ab 1974 in Arbeitsgruppen die Kritiken an der patriarchalen Psychologie und Psychiatrie und entwickelten ambulante und frauenstärkende Gegenkonzepte – in der Gründungskonzeption steht sogar noch, das FTZ sollte die Alternative für Frauen zur Psychiatrie sein. Die stärkere Grundlage waren damals eindeutig die feministischen Anliegen und die Frauenbewegung. Die Antipsychiatrie hat besonders stark drei von uns Gründerinnen beeinflusst. Bereits in den 1970er-Jahren an der Universität, ich habe die gesamte Literatur wie z.B. Basaglia, Laing oder Phyllis Chesler dazu verschlungen. Die realen Auswirkungen der Auflösung der Institutionen in den USA – die viele Obdachlose mit offensichtlichen Beeinträchtigungen mit sich brachte – haben mich jedoch eher abgeschreckt. 
Letztlich war unser Anspruch aber zu hoch – neben großer, utopischer Kraft und der Frauenbewegung war er auch von unzureichender fachlicher Erfahrung geprägt. Denn selbstverständlich brauchen wir die Kliniken gelegentlich für die Klientinnen: Kein Kostenträger bezahlt uns die intensive Krisenbegleitung, die erforderlich wäre, um Schaden zu verhindern. Der Versuch, ehrenamtlich engagierte Frauen auszubilden und für diese Begleitung zu coachen, gelang zwar (bis heute) ganz gut, aber die erste Gruppe warf ausgebrannt das Handtuch. Der Schutz der persönlichen Grenzen der Helferinnen – also keine Aufnahme zu Hause – ist eine für uns sehr wesentliche Grundhaltung. 

Was bedeutet der Begriff „psychische Erkrankung“ im FTZ? 

Wir verstehen psychische Erkrankung in einem psycho-bio-sozialen Zusammenhang: als Reaktion auf belastende und widersprüchliche Lebens- und familiäre Erfahrungen, auf Gewalt und Diskriminierung, als Folge von frühen Bindungsstörungen oder nicht geschützten sensiblen Dispositionen von Kindern. Auch Diskriminierung und Ausgrenzungen im sozialen, gesellschaftlichen und Arbeitsleben durch Nichtverstehen und Vorurteile anderer Menschen – nicht zuletzt auch durch die sozialrechtliche Diskriminierung psychisch Kranker – können belasten.

Wie kann ein feministischer Zugang zur Psychiatrie aussehen?

In der stationären Psychiatrie heißt das z.B. eine Reflexion des massiven Einflusses der Pharmalobby auf Ärzteschaft und Kliniken. Psychiatrie hat leider ausschließlich Feuerwehr- und medizinische Funktionen und keine bzw. kaum psychosoziale. Im Einzelfall bedeutet ein feministischer Zugang, institutionell und sozialpolitisch immer wieder auf offensichtlich fehlende und systematisch übersehene Zusammenhänge hinzuweisen und diese einzubeziehen. Dazu gehören etwa Gewalterfahrungen von Frauen (und Männern) in der Kindheit und in Partnerschaften, Belastungen von Elternschaft oder das Pathologisieren von als „anders“ oder nicht konform wahrgenommenen Lebensentwürfen wie z.B. lesbisches Leben. Ebenso muss auf die Fehlbehandlung von Patientinnen mit Migrationserfahrung hingewiesen werden, solange die Kassen keine Dolmetscherlnnen finanzieren und das Personal die eigenen ethnozentristischen und rassistischen Vorannahmen, Stereotypen und blinden Flecken nicht reflektiert. Es müssen bessere Brücken gebaut werden zwischen ambulant und stationär. 
Es gilt, hilfreiche und destruktive Potenziale eines stationären Aufenthalts in jedem Einzelfall kritisch abzuwägen, eine Begleitung und Kooperation mit der Klinik anzustreben, Klientinnen gegebenenfalls beim Wechseln von Ärztinnen oder der Reduktion von Psychopharmaka zu betreuen und Kooperationen anzustreben. Wir brauchen eine sozialpädagogische, psychologische und ergotherapeutische intensive Unterstützung, die Entwicklung und Optimierung von entsprechenden Methoden, Strukturen und Qualitätssicherung. Nötig ist auch der Aufbau von vor Tätern geschützten Adressen (z.B. für Wohngruppen) und Konzeptionen. All das haben wir im FTZ über 35 Jahre entwickelt.

Welchen Stellenwert haben psychiatrische Diagnosemanuale im FTZ? 

Wir müssen mit dem ICD-10 umgehen, weil darauf die Finanzierungen beruhen, weil die ICD-Diagnosen in den Entlassungsberichten stehen, weil die Klientinnen deren Bedeutung wissen wollen. Aber wir versuchen, den Mitarbeiterinnen wie auch den Klientinnen zu vermitteln, was diese Diagnosen bedeuten und was nicht. Wichtiger sind allemal die Ressourcen – und soziale Diagnostik, weil diese die Ansatzpunkte zur Unterstützung bezeichnen. Feministisch ist z.B. die jahrzehntelange Arbeit der US-Amerikanerlnnen, Gewaltfolgen systematisch zu erfassen und zu diagnostizieren. Es gibt im Bereich Psychiatrie und Menschen mit Behinderung Schritte in die richtige Richtung. 

Bei Frauen wird nicht zuletzt deshalb viel öfter als bei Männern eine Depression diagnostiziert, weil viele Symptome einer Depression solche sind, die im Zuge der weiblichen Sozialisation eher Mädchen/Frauen „anerzogen“ werden. Inwiefern unterscheidet sich die Behandlung depressiver Frauen im FrauenTherapieZentrum von der in anderen Institutionen?

Man darf nicht verharmlosen, aber wichtig ist es, die Aufklärung nicht nur biologistisch zu betreiben, nicht zu individualisieren und möglichst weniger Antidepressiva zu geben. Die Ursachenanalyse muss auch im Gewalt­ und Unterdrückungszusammenhang betrieben werden. Wir organisieren Austausch, soziale Netzwerke – ebenso Bewegung. Vielleicht begegnen wir den Klientinnen mit etwas mehr Respekt und Empathie, mit besonderem Blick auf Erziehungsaufgaben und Unterstützung für die mit betroffenen Kinder dieser Frauen. 

Einerseits gibt es Kritik an psychiatrischen Diagnosen, andererseits gibt es Menschen mit einem bestimmten Leidensdruck – die aber durch eine bestimmte Diagnose stigmatisiert werden können. Wie kann in dieser Ambivalenz vermieden werden, dass Frauen im Allgemeinen sofort den Stempel der „Verrücktheit“ bekommen? 

Die Frage ist: Was bedeuten Diagnosen und was nicht? Es geht darum, den Sprachgebrauch im Fallteam zu reflektieren: z.B. muss es statt „die Inderin“ oder „die Schizophrene von Zimmer sieben“ heißen „die Frau mit …“. Allgemein muss man aber sagen: Wir können solche stigmatisierenden allgemein in der Gesellschaft gebrauchten Zuschreibungen nicht verhindern, ebenso wenig wie „Ausländer“, „Emanze“, „alte Tucke“ etc. Dazu bräuchte es bereits in den Schulen Projekte, die ja allmählich auch entstehen, sowie Antistigma-Kampagnen, ein Umsetzen der UN-Konvention, Inklusionsprojekte, Arbeit in Firmen u.v.m.

Wo muss für die psychische Gesundheit von Mädchen/Frauen dringend angesetzt werden?

Der Zusammenhang zwischen frühen oder aktuellen Gewalterfahrungen muss viel deutlicher wahrgenommen und daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Psychiatrie und Psychotherapie, Opferhilfen, Aufklärung von GynäkologInnen und der Aufbau von Netzwerken sind Notlösungen oder gute Anfänge, aber noch keine wirkliche Lösung. Notwendig ist eine bessere Vernetzung der feministischen Gewaltschutz-, der Trauma- und der sozialpsychiatrischen Arbeit und Forschung – überall. Da Kinder immer mit betroffen sind, sind auch für diese Hilfen zu organisieren und zusätzliche Unterstützung für die Frauen in ihren Erziehungsaufgaben. Das erfordert systematische Vernetzung aller betreffenden Fachleute und Hilfesysteme. Zudem müssen interkulturelle und kultursensible Perspektiven einbezogen werden. Das Problem ist: Solange wir oder die Betroffenen all das nur individuell fordern, ohne Machtpositionen zu besetzen und systematisch Strategien zur Einflussnahme wahrzunehmen, wird aber gar nichts passieren. Frauen müssen sich organisieren und in die entsprechenden Machtpositionen gehen!

Polina Hilsenbeck ist Psychologin und ein Urgestein der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung Münchens. Sie arbeitete hier in vielen Zusammenhängen prägend mit. Mit anderen Frauen baute sie 1978 das höchst erfolgreich arbeitende FrauenTherapieZentrum – FTZ gem. GmbH in München auf, das sie heute (Stand 2022) mit 160 Mitarbeiterinnen leitet.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Mai 2013.
Änderungen zum Originalbeitrag: Aktualisierung der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Einrichtungen im einleitenden Absatz (März 2022)

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