Ängstliche Faszination

Beim „ersten Mal“ gibt es noch immer zahlreiche Mythen aufzudecken, wie die Sexualpädagogin Kerstin Pirker in ihren Workshops mit Mädchen erlebt. Interview: Bettina Enzenhofer

Kunst von Alex Jürgen*: Papierschnitt von 2 Fischen, die sich an den Mündern berühren
© Alex Jürgen*

Bettina Enzenhofer: In puncto Sexualität gibt es viele erste Male. Meist wird das „erste Mal“ aber mit dem ersten penetrativen Geschlechtsverkehr assoziiert. 

Kerstin Pirker: Studien zur Jugendsexualität belegen, dass Mädchen in Europa im Durchschnitt 16,6 und Burschen 17,4 Jahre alt sind, wenn sie den ersten heterosexuellen Geschlechtsverkehr erleben. Dieses Alter ist seit vielen Jahren konstant. Damit wird aber ausschließlich der penetrative Geschlechtsverkehr als markantes sexuelles Geschehen gewertet und untersucht. Aus frauengesundheitlicher Sicht liegt in dieser Form der Forschung ein „Denkfehler“: Lust, Erregung und Orgasmus von Frauen und Mädchen entsteht durch Stimulation der Klitoris. Heterosexueller Geschlechtsverkehr ohne Klitorisstimulation mag beim Mädchen Gefühle der Nähe und intensiven Kontakt zur Lust des Burschen auslösen, ist aber für die Erregung des Mädchens verlorene Liebesmüh. 

Frauen und Mädchen geben in Studien an, dass sie durch Stimulation mit der Hand und der Zunge zuverlässig zum Orgasmus kommen. Zu diesen ersten Malen haben wir leider keine Ergebnisse. Sexualforschung müsste gezielt nach den ersten Erfahrungen sexueller Erregung und nach dem ersten Orgasmus von Mädchen fragen, das würde ein völlig anderes Bild ergeben. Ein öffentlicher Diskurs darüber, wann und wie Mädchen ihre ersten Orgasmen bekommen, würde sich positiv auf die ersten sexuellen Erfahrungen von Mäd­chen und Burschen auswirken.

Was und wie viel wissen Mädchen über das „erste Mal“? 

Mädchen beziehen ihre Information aus dem Internet, aus Pornos, aus Gesprächen mit der Mutter, aus Gesprächen mit Freundinnen, aus dem Sexualkundeunterricht in der Schule, wenn dieser stattgefunden hat. Ihr Wissen ist mangelhaft und eher gefahrenorientiert. Während Verhütung für sie von größtem Interesse ist, um nicht ungewollt schwanger zu werden, fragen sie kaum nach Lust, Klitoris, Orgasmus der Frau. Kaum ein Mädchen weiß, dass es das Jungfernhäutchen nicht gibt, sondern viele Formen, wie ein Häutchen aussehen kann. Jedes zweite Mädchen blutet nicht beim ersten penetrativen Geschlechtsverkehr. Diese Information ist für Mädchen sehr wichtig, um falsche Erwartungen zu korrigieren.

Führt heute der einfache Zugang zu Wissen im Internet zu einer anderen Thematisierung des „ersten Mals“ bei Mädchen? Gibt es auch emanzipatorische Effekte, zum Beispiel für lesbische Mädchen? 

Bilder sexueller Darstellungen sind heute verfügbar wie noch nie, das ist eine entscheidende Veränderung. Das Körperwissen ist gleich gering geblieben, damit meine ich das Benennen der Sexualorgane und das Wissen über die Abläufe der eigenen Lust. Wie lange muss ich an welcher Stelle meiner Vulva, an meinen Brüsten oder anderswo berührt werden, damit ich erregt werde? Diese Fragen sind höchst tabuisiert und individualisiert bei gleichzeitiger Konfrontation mit Internetpornos.

Für lesbische und queere junge Frauen bestehen durch neue Medien deutliche Vorteile, die Community früher zu finden und schon in frühen Jahren sexuelles Selbstbewusstsein aufzubauen. Das bestätigen einige Untersuchungen.

Welche Erfahrungen machen Mädchen mit dem „ersten Mal“, welche Fragen tun sich bei ihnen auf? Und sind ihre Gefühle der Unsicherheit eigentlich so anders als die von erwachsenen Frauen?

Viele Mädchen interessieren sich voll ängstlicher Faszination schon früh für das „erste Mal“, ohne den eigenen Körper und ihr eigenes Lustvermögen annähernd zu kennen. Ab zwölf Jahren setzen sich viele damit auseinander, es dominieren Fragen nach Schmerzen und der Verlust der Jungfräulichkeit. Lust und Erregung kommen kaum vor. Auch ist nicht erkenntlich, dass die Mädchen es wollen, eher sehen sie sich durch ihre Partner damit konfrontiert. Oft geht es ums Hinauszögern und die damit verbundene Sorge, den Partner zu verlieren. 
Mädchen, die noch keinen Sex hatten, sind oftmals von romantischen Idealen geleitet: „Mit dem Richtigen wird es wunderschön.“ Mädchen, die bereits sexuelle Erfahrungen gemacht haben, wirken deutlich sachIicher: „Das erste Mal war naja. Ich hab’s mir so schön vorgestellt, aber es war irgendwie nichts Besonderes.“ 
Mädchen und erwachsene heterosexuelle Frauen teilen viele Erfahrungen, dennoch ist das Selbstwertgefühl der Mädchen deutlich labiler und die Fähigkeit zur erfolgreichen sexuellen Kommunikation noch kaum ausgebildet. Woher auch? Junge Frauen wachsen nicht in einem gesellschaftlichen Klima auf, in dem wertschätzend über ihre Lust gesprochen wird. 

Beim „ersten Mal“ geht es also eher um ein „Abhaken“ denn um Lust? 

Heterosexuelle Mädchen, die die eigene Lust schon kennen und neugierig auf den Sex mit einem Burschen sind, sind nicht der Regelfall. In den Workshops beobachte ich häufig, dass das „erste Mal“ in seiner sozialen Bedeutung innerhalb der Peer Group Sinn „erledigt“ werden muss: „Es“ schon getan zu haben, bedeutet, „richtig“ zu sein, sich auszukennen und die Bestätigung sexueller Attraktivität in der Tasche zu haben. Wenn frau über 17 ist und noch keinen penetrativen Sex hatte entsteht subtiler sozialer Druck durch die Peer Group, der die Mädchen belastet.

Nach dem „ersten Mal“ folgt oft die Phase des Erkundens der Sexualität, Umgehen mit Enttäuschungen, falschen Erwartungen, im besten Falle deren Korrektur. Das ist eine besonders sensible Zeit der weiblichen Sozialisation. Da werden, im Gegensatz zum ersten Mal, die Weichen gestellt für die nächsten Jahre der sexuellen Biografie. Wird das Mädchen Lust erleben, wird sie Orgasmen haben, wird sie Praktiken ablehnen, die ihr zuwider sind, wird sie ihrer Partnerin/ihrem Partner zeigen, wie sie sich selbst berührt? Sexuelle Emanzipation ist ein lebenslanger Prozess, wird aber deutlich erschwert, wenn die ersten Jahre sehr fremdbestimmt oder lustlos verlaufen.

Wie stellt sich die Verhandlung des „ersten Mals“ für junge Frauen dar, die sich nicht mit Sexualität auseinandersetzen wollen? 

Unter 16 Jahren verkünden Mädchen oft noch selbstbewusst, dass sie sicher mit keinem schlafen, nur weil er es will. Für Ältere wird es deutlich schwieriger. In den Workshops sind die Mädchen, die aus verschiedensten Gründen keinen Sex wollen, eher zurückhaltend. Häufig sind das Mädchen, die insgesamt eine Außenseiterinnenrolle innerhalb der Klasse einnehmen. Es sind mit Sicherheit welche darunter, die negative Erfahrungen mit Sexualität gemacht haben, zum Beispiel sexuelle Übergriffe. Es sind höchstwahrscheinlich auch solche darunter, die sich selbst nicht als heterosexuell erleben und gerade damit beschäftigt sind, mehr über sich selbst rauszufinden. 

Oftmals geben Mädchen mit Migrationshintergrund an, mit dem ersten Sex bis zur Ehe warten zu wollen. Doch auch dies ist brüchig. Diese Mädchen balancieren zwischen den Werten ihrer Herkunftsfamilie und denen der Konsumgesellschaft, die Mädchen sexy und lasziv darstellt. Es ist ein Mythos, dass alle muslimischen Mädchen Jungfrauen bleiben wollen bis zur Ehe, aber es gibt sie natürlich auch. Abstinenz als bewusst gewählte Form, wie sie in den USA durch die dortigen Abstinenzprogramme in Schulen propagiert wird, ist in Österreich aber sehr selten. 

Was ist Ihnen in den Workshops besonders wichtig, das Sie den Mädchen zum „ersten Mal“ vermitteln?

Zentral ist, Mädchen dahingehend zu ermutigen, ihre eigene Stimme mehr zu beachten als die von anderen. Und ihnen zu vermitteln, dass es viele erste Male gibt: Das erste Mal die Klitoris berühren und Erregung spüren. Den ersten Orgasmus beim Solosex erleben. Das erste Mal „Nein“ sagen zu etwas, was der Partner oder die Partnerin gerne tun möchte. Den ersten Orgasmus mit der Partnerin oder dem Partner erleben. Das erste Mal einen Penis in sich aufnehmen, wenn das Mädchen das möchte. 

Erste Male kommen immer wieder und fordern uns heraus, zu entdecken, was ich hier und jetzt mit dieser Person möchte. Ich kann jederzeit aufhören, beim ersten und bei jedem weiterem Mal. Wenn etwas wehtut oder unangenehm ist, teile ich dies meiner Partnerin oder meinem Partner mit und beende es. 
Pausen sind hilfreich. Wenn ich während dem Sex aufs Klo muss, ist das nicht nur peinlich, es bietet auch die Gelegenheit, für mich zu prüfen, ob ich überhaupt noch weitermachen möchte und wenn ja, wie.

Kerstin Pirker ist Sexualpädagogin und war zum Zeitpunkt des Interviews im Frauengesundheitszentrum Graz zuständig für den Fachbereich „Sexuelle Gesundheit von Frauen und Mädchen“.

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge Juli/August 2013.

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