Lippen und Flügel
In ihrem Buch „CLIT – Die aufregende Geschichte der Klitoris“ räumt Louisa Lorenz mit Mythen auf. Was wir über die Klitoris kulturwissenschaftlich lernen können, hat sie Sara Ablinger erzählt.
Sara Ablinger: In deinem Buch „CLIT – Die aufregende Geschichte der Klitoris“ beschäftigst du dich kulturgeschichtlich mit dem Zusammenhang von Sexualität und Gesellschaft. Warum?
Louisa Lorenz: Viele Menschen erleben Sex als etwas sehr Persönliches, Privates, Intimes. Und viele sind mit ihrem Sexualleben unzufrieden und denken, das hätte nur mit ihnen zu tun, weil mit ihnen etwas nicht stimmt. Tatsächlich hängt Sex stark von unseren gesellschaftlichen Werten ab. Diese reichen Jahrhunderte zurück und häufig ist uns nicht bewusst, wie stark unsere ganz private Sexualität unter dem Einfluss dieser großen gesellschaftlichen Narrative steht. Wenn man diesen Zusammenhang erkennt, gilt es dann herauszufinden, was die eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind. Das ist eine große Aufgabe, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, die diesbezüglich sehr viel vorgibt.
Mein Buch beginnt mit Anatomie: Wir gucken uns viele Bilder der Klitoris an und verstehen so vieles besser. Wie sieht die Klitoris eigentlich aus? Wie funktioniert sie? Wir lernen, dass die Klitoris größer ist als nur die Perle, die man von außen sehen kann. Das haben gerade im feministischen Umfeld in den letzten Jahren schon viele Leute mitbekommen, aber auch darüber hinaus gibt es noch sehr viel zu wissen, das man nicht so leicht findet. Im zweiten Teil geht es um die Kulturgeschichte. Es gibt sehr viele Mythen zur Klitoris und wir schauen uns an: Was wusste man eigentlich zu welcher Zeit über die Klitoris, wie war die Forschung dazu, wie ist man gesellschaftlich damit umgegangen und wie prägt das auch unsere Vorstellung von Sex bis heute?
Sara Ablinger: Was hat dich bei deiner Recherche fasziniert?
Louisa Lorenz: Ich habe erkannt, dass die Quellenangaben in vielen Büchern, die ich vorher super interessant fand, einfach eine Katastrophe waren. Viele Informationen waren nicht haltbar. Ich habe mich zum Beispiel mit einem einflussreichen Buch aus dem 16. Jahrhundert beschäftigt, wo das Wort Vagina zum ersten Mal auftaucht. Da wird geschrieben, dass die Vagina den Penis umarmt oder einsaugt. Das sind eigentlich sehr liebevolle und aktive Begriffe. Bini Adamczak hat vor ein paar Jahren den Begriff der Circlusion beschrieben, also das Umschließen der Vagina von zum Beispiel einem Penis. Solche Wörter verändern unsere Denkweise von Aktivität und Passivität. Häufig wird in feministischen Texten allerdings genau diese Textstelle aus dem Medizinbuch des 16. Jahrhunderts als abwertend und gewaltvoll kritisiert. Ein weiteres Beispiel sind Wörter wie kleine oder große Schamlippen. In einem Medizinbuch aus dem 17. Jahrhundert werden diese Wörter gar nicht benutzt, da wird einfach von Lippen und Flügeln gesprochen. Die Scham tritt da gar nicht auf und auch von groß und klein wird nicht geredet, sondern die äußeren Lippen werden einfach als Lippen bezeichnet und die inneren als Flügel. Viele Dinge, die wir heute kritisieren – oft mit einem überheblichen Blick auf die Menschen früher – waren schon da oder waren schon mal besser geregelt.
Sara Ablinger: Dein Buch ist ein Myth Buster. So nimmst du uns zum Beispiel die Illusion, der Vibrator wäre im Zuge der Hysterie-Behandlung entstanden. Welche Mythen willst du noch unbedingt sprengen?
Louisa Lorenz: Einer der wichtigsten, immer noch kursierenden Mythen, ist, dass die Klitoris oder die volle Klitorisanatomie erst in den Neunzigern von Helen O’Connell entdeckt wurde. Das stimmt einfach nicht. Helen O’Connell ist eine der wichtigsten Wissenschaftlerinnen zur Klitoris, auch heute noch. Aber sie hat die Anatomie der Klitoris nicht entdeckt. Und sie hat das auch selbst nie behauptet. Ich finde es wichtiger anzuerkennen, dass die Anatomie der Klitoris schon seit circa 400 Jahren in der Medizin bekannt ist.
Sara Ablinger: Spannend in deinem Buch ist der Zusammenhang zwischen Sexualität, patriarchaler Macht und Ehe. Du beschreibst ausführlich, dass das Bild der vermeintlich von ihrer Lust abgeschnittenen Frau noch gar nicht so alt ist.
Louisa Lorenz: Wenn wir zurückschauen, finden wir diese permanente Existenz ständig widersprüchlicher Frauenbilder: das klassische Bild von Heiliger und Hure. Vor dem 18./19. Jahrhundert gab es das kulturelle Narrativ, Frauen seien diejenigen, die mehr Lust auf Sex haben und ihn auch mehr genießen. Das darf man allerdings nicht als ein emanzipatorisches Narrativ missverstehen – dieses Narrativ wurde häufig genutzt, um die Kontrolle der zügellosen, weiblichen Sexualität zu rechtfertigen. Interessant ist, dass gerade im 19. Jahrhundert mit der Ausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie ein Frauenbild dominant wird, in dem Frauen eigentlich als sexuell lustlos oder leidenschaftslos betrachtet werden. Sie haben kein eigenes Bedürfnis nach Sexualität, sondern haben Sex nur aus anderen Beweggründen: aus Liebe zu ihrem Ehemann und einem Wunsch nach Mutterschaft. Trotz dieser Tabuisierung und dieses Absprechens von sexueller Lust ist die Lust innerhalb der Ehe zum Zweck der Reproduktion nicht völlig tabuisiert. Wir haben häufig das Bild, dass bei Menschen des 19. Jahrhunderts Sexualität ausschließlich mit Scham verbunden war. Aber so ist es nicht. Es war schon gewünscht, dass Frauen sexuelle Lust, Lust auf Geschlechtsverkehr und einen Orgasmus haben. Aber eben nur, solange sie Sex mit ihrem Ehemann haben, um Kinder zu zeugen. Dass dieses Ideal nicht immer mit der Lebensrealität zusammenpasst, wussten die Menschen auch damals schon. Auch Themen wie Verhütungsmethoden und die Regulation von Geburten kamen in Eheratgebern der Zeit vor.
Sara Ablinger: Du hast vorhin über Sexualität als etwas Intimes gesprochen. Wann entstand diese Konnotation von Sexualität als etwas, das nur zwei Personen miteinander haben?
Louisa Lorenz: Mir fallen dazu zwei Sachen ein. Zum Beispiel die Kulturgeschichte des Klos und des Scheißens. Das ist etwas, das heute sehr schambehaftet ist und wir als etwas extrem Privates empfinden. Früher war das in unserer Gesellschaft etwas ganz anderes und nicht auf diese Weise schambehaftet. Daran kann man sehr gut beobachten, wie sich Schamgrenzen verschieben. Ich würde fast behaupten, dass es bei Sexualität recht ähnlich ist. Sexualität war früher auch etwas, das viel mehr Menschen mitbekommen haben, weil das die Lebensumstände und die Räume gar nicht anders zugelassen haben.
Der zweite Punkt hat viel mit der Romantisierung der Ehe zu tun. Die Ehe ist primär ein Vertragsverhältnis und eine Regelung von Besitzverhältnissen und Erbfolge. Über den größten Zeitraum der Geschichte können wir betrachten, dass die Ehe diesen Stellenwert hatte. Sex hat in diesem Kontext die Funktion der Zeugung von Nachkommen und nicht diese Konnotation von Liebe und Leidenschaft. Seit dem 18. und 19. Jahrhundert finden wir verstärkt eine Romantisierung der Ehe, die mit Liebe in Verbindung gebracht wird. Häufig ist das nur eine oberflächliche Bewertung, weil die Aspekte von Erbe und Nachkommenschaft ja nicht völlig an Bedeutung verlieren.
Sara Ablinger: In deinem Buch geht es auch um Diskurse zu genitalen Zwangsoperationen – um Female Genital Mutilation (FGM) und um Operationen an intergeschlechtlichen Babys und Kindern. Inwiefern unterscheiden sich die Diskurse?
Louisa Lorenz: Debatten um FGM wiederholen und reproduzieren häufig sehr gefährliche, rassistische und koloniale Narrative, vielleicht auch, ohne dass das Menschen bewusst ist. Wir müssen uns dafür einzusetzen, dass solche Menschenrechtsverletzungen beendet werden. Gleichzeitig darf man den Betroffenen auch nicht ihre eigene Handlungsfähigkeit absprechen.
Bezüglich geschlechtsangleichenden Operationen im intergeschlechtlichen(1) oder transgeschlechtlichen Kontext ist auch hier wie bei allen feministischen Themen das Wichtige: die Wahl, also die eigene Handlungsfähigkeit und die selbstbestimmte Entscheidung zu haben. Intergeschlechtliche Menschen haben ja häufig keine eigene Entscheidungsmöglichkeit, sondern es wird über sie hinweg entschieden, allein im Interesse eines binären Geschlechterbildes. Diese Eingriffe werden häufig gemacht, um Zweigeschlechtlichkeit herzustellen, wo erst mal Uneindeutigkeit besteht. Das ist selten selbstbestimmt und daher das größte Problem. Und das unterscheidet sich darin wesentlich von einer Person, die sich selbstbestimmt dafür entscheidet, Operationen an den Genitalien vorzunehmen. Die selbstbestimmte Entscheidung ist und bleibt einer der wichtigsten Aspekte feministischer Kämpfe.
(1) Anmerkung der Redaktion von 21.11.22: Ein kritischer Kommentar hat uns darauf hingewiesen, dass wir etwas übersehen haben: Wir möchten ergänzen, dass die nicht konsensuellen OPs an inter* Kindern geschlechtszuweisend sind und dass Begriffe wie „Eindeutigkeit“ bzw. „Uneindeutigkeit“ die starken Normvorstellungen von Personen, die nicht inter* sind, widerspiegeln, wie ein „weiblicher“ oder „männlicher“ Körper sein müsse. Auch Louisa Lorenz stimmt dieser Anmerkung zu. Es tut uns allen leid, dass wir im Redaktionsprozess an dieser Stelle zu wenig achtsam waren.
Louisa Lorenz ist Kulturwissenschafterin und bietet Lesungen sowie Workshops (Clit Nights) an. Nähere Infos: www.louisalorenz.de