ME/CFS: Austern in der Wüste

Die Versorgungslage von ME/CFS-Betroffenen in Österreich ist im Herbst 2023 noch immer katastrophal. Eine neue Leitlinie über postvirale Erkrankungen geht auf vieles ein – nicht aber auf ME/CFS. Von Laura Kunz

Ein Kind liegt im Bett, es trägt eine Schlafmaske und Kopfhörer. Daneben liegt ein Teddy.
Viele ME/CFS-Betroffene nutzen Schlafmasken und Noise-Cancelling-Kopfhörer, um Reize zu reduzieren. © Sergej Preis und Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Text über die Krankheit ME/CFS. ME/CFS ist eine schwere lange Krankheit. Man kann ME/CFS nach einer Virus-Erkrankung bekommen. Zum Beispiel: Man hat sich mit dem Corona-Virus angesteckt und ist danach noch sehr lange sehr erschöpft. Dann hat man Long Covid. Oder man hatte die Krankheit Pfeiffersches Drüsenfieber und bekommt danach ME/CFS. In Österreich haben 25.000 Menschen ME/CFS. Viele Menschen mit ME/CFS können ihr Bett nicht mehr verlassen. Wenn du ME/CFS hast, musst du sehr gut auf deine Energie achten. Wenn du dich zu viel anstrengst, wird ME/CFS schlechter.
ME/CFS kann man nicht heilen. Es gibt zu wenig Forschung zu ME/CFS. Es gibt auch zu wenig Ärzt*innen, die sich mit ME/CFS auskennen. Eine aktuelle Studie sagt: Erst nach fünf bis acht Jahren bekommen Patient*innen ihre korrekte ME/CFS-Diagnose. Aber bei ME/CFS ist eine frühe Diagnose wichtig. Sonst wird die Krankheit schlimmer.
In Österreich gibt es eine neue Leitlinie für postvirale Krankheiten. Das Wort postviral bedeutet: Die Krankheit beginnt nach einer Virus-Erkrankung. Zum Beispiel Long Covid oder ME/CFS. Die Leitlinie richtet sich an Ärzt*innen. ME/CFS kommt in der Leitlinie aber nicht vor. Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS kritisiert das. Denn Menschen mit Long Covid und Menschen mit ME/CFS brauchen gut ausgebildete Ärzt*innen. Es muss etwas für die Gesundheit von allen Menschen getan werden.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Zwei meiner Freundinnen unterhalten sich über das kühlere Wetter, das dieses Jahr viel zu spät kam – und wie sie dennoch nicht umhinkönnen, sich über jeden wärmeren Tag zu freuen. Sie leben beide mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom), einer chronischen Multisystemerkrankung, die je nach Schweregrad bis zur Bettgebundenheit führen kann. Die Symptome können vielfältig sein, zentral ist jedoch bei allen Betroffenen die niedrige Belastbarkeit und Zustandsverschlechterung nach Überbelastung, genannt Post-Exertional Malaise (PEM). Ein mögliches Symptom unter vielen ist auch ein erschwertes Anpassen des Körpers an Außentemperaturen. Extreme Hitze belastet den Kreislauf oft mehr als bei Menschen ohne ähnliche Erkrankungen – gleichzeitig können kältere Temperaturen genauso die Symptome verschlechtern. Meine Freundin erzählt, wie ihr ein Arzt deshalb einmal empfohlen hatte, sie solle in eine mittelmeernahe Wüste ziehen, dort seien die Temperatur konstant gut für sie. Wir schmunzeln etwas missmutig und die zweite erzählt, wie ihr von einer Ärztin empfohlen wurde, sie solle mehr Austern essen, das täte ihr bestimmt gut. Dann lachen wir und stellen uns vor, wie die beiden zu zweit zwischen Sanddünen sitzen und Austern schlürfen, und wie gut es ihnen dann ginge.

Solche Szenarien klingen absurd und sind es auch. Kein Stück wären ihre Körper gesünder. Nicht nur weil einzelne Maßnahmen wie angenehmes Klima oder gezielte Ernährung allein sehr wenig nützen (wobei Meeresfrüchte aufgrund des Histamingehalts für viele Menschen mit ME/CFS überhaupt nicht empfehlenswert sind), sondern weil das, was wirklich hilft, ein gutes, expertisegestütztes und breitaufgestelltes Versorgungsnetzwerk ist. Dies würde aber nicht erst wegfallen, wenn sie umziehen, sondern mit dieser tatsächlichen Versorgungs-Wüste sind täglich Zehntausende Betroffene in Österreich konfrontiert. 

Postvirale Erkrankungen sind nicht neu

Jahrzehntelang hat es global gesehen an Aufmerksamkeit gefehlt, es gab sehr schleppende und stille Bemühungen um den Aufbau von Expertise. Erst in den letzten drei Jahren hat die ME/CFS-Forschung im Zuge der Covid-19-Pandemie einen kleinen Aufwind erfahren – aus der schlichten Not heraus, da die Pandemie und die Masse an erkrankten Menschen nicht nur zu weltweit vielen Toten, sondern auch zu einer großen Anzahl an Menschen mit Langzeitfolgen geführt hat. Während der gängige Name dafür, Long Covid, ein Sammelbegriff ist, der auch Lungen- und Herz-Kreislaufprobleme miteinschließt, wurde der Begriff Post-Covid für sogenannte postvirale Symptome nach Covid eingeführt. Doch solche Infektions-Spätfolgen sind weder spezifisch für Covid noch neu. Postvirale Erkrankungen können ebenso nach anderen Infekten, beispielsweise häufig nach einer Erkrankung mit dem Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) auftreten. ME/CFS ist als solche bereits seit 1969 von der WHO anerkannt und nicht nur Teil dieses postviralen Spektrums bei Post-Covid, sondern deren schwerste Form, wie mehrfach bestätigt. 

ME/CFS wird weiterhin ausgeklammert

Während also neue Begriffe geschaffen wurden, um diese Symptomatiken einzuordnen, wurde auch nach Behandlungen gesucht und oftmals festgestellt: Wir wissen viel zu wenig über diese Krankheitsbilder und wie Betroffenen zu helfen ist. Und während vielerorts das Ende des Pandemiezustands mit dem Ende von Covid-19 als gesamtgesellschaftliches Problem verwechselt wird, wird auch daran gearbeitet, diese jahrzehntelang ausgeklammerte Leerstelle – postvirale Erkrankung – zu füllen, die Versorgungslücke für Menschen mit Covid-Langzeitfolgen zu schließen und eine Struktur für Expertise und Therapie aufzubauen. Ein erster Schritt des nachträglichen Aufbaus dieser Versorgung und strukturierten Expertise in Österreich unter dem Namen „Leitlinie S1 Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien“ wurde im August 2023 aktualisiert und als „Leitlinie S1 für das Management postviraler Zustände am Beispiel Post-Covid-19“ neu veröffentlicht. Diese soll nicht nur Zuständigkeiten klären, sondern auch als Informationsquelle für behandelnde Ärzt*innen dienen, eine Art Nachschlagewerk im Umgang mit Patient*innen sein. Das Problem ist nur: ME/CFS – eben auch als schwerste Form von Post-Covid – wird, wie bereits in der ersten Version, explizit ausgeklammert. Beim Aufbau einer neuen Versorgungsstruktur dezidiert ausgeschlossen und vom öffentlichen Gesundheitssystem vernachlässigt werden somit nicht nur die durch Covid hinzugekommenen Betroffenen, sondern auch jene, die seit Jahrzehnten mit der Erkrankung leben. Dies war bereits der Fall bei den derzeit schließenden Long-Covid-Ambulanzen. 

Katastrophale Versorgungslage

Das erneute Aussparen von ME/CFS lässt nicht nur eine gravierende Lücke offen, sondern verdeckt das eigentliche Problem. In einer dieses Jahr am AKH Wien abgeschlossenen Studie unter ME/CFS-Betroffenen ging hervor, dass erkrankte Menschen derzeit meist fünf bis acht Jahre, viele bis zu zehn Jahren, auf eine Diagnose warten und auf der Suche nach Hilfe im Schnitt 18,9 Ärzt*innen aufsuchen. Daran wird sich unter der Leitlinie S1 nichts ändern. Dabei wäre bei ME/CFS eine frühe Diagnose und damit mögliches Symptommanagement (heilende Therapie gibt es bis heute nicht) sehr wichtig, um möglichst frühzeitig eine Zustandsverschlechterung der Betroffenen einzudämmen. Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS als Patient*innen-Organisation, die sich für die Interessen von Menschen mit ME/CFS in Österreich einsetzt, hat in ihrem öffentlichen Statement das Problem klar benannt: „Die [Leitlinie] stößt damit keine Verbesserungen in der Qualität von Diagnostik und Versorgung von ME/CFS Betroffenen als Subgruppe von Post Covid in Österreich an. Vielmehrsieht die ÖG-ME/CFS als Patient:innenorganisation die Gefahr, dass die aktuell katastrophale Versorgungslage weiter zementiert und legitimiert wird.

Fehlende Zuständigkeiten

Zementiert werden dabei nicht nur fehlendes Wissen um Diagnose und Behandlung, sondern fehlende Zuständigkeiten unter Fachärzt*innen. Bereits heute ist es so, dass Betroffene regelmäßig auch von Fachärzt*innen und Ambulanzen der Neurologie (welcher ME/CSF durch die WHO zugeordnet wurde) mit dem Argument abgewiesen werden, dass man nicht zuständig sei. Gleiches geschieht weiter in einer neuen Versorgungsstruktur, wenn diese das Krankheitsbild ME/CFS aus dem postviralen Spektrum ausklammert. Beispielsweise wurden zwar einige Punkte, die in der „Leitlinie S1 Long COVID“ fehlten, endlich ergänzt, etwa die Zustandsverschlechterung nach zu viel Anstrengung (PEM) und das zu empfehlende Pacing als Einhalten von Energiegrenzen, anstatt allgemein Aufbautraining zu empfehlen; oder die Verweise zu Immunologie sowie die Ergänzung, dass es sich um eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems handelt. Doch ungesagt bleibt, dass diese Aspekte ebenfalls in der Diagnose und Behandlung von ME/CFS zu beachten sind. Hier den Verweis zu machen und Ärzt*innen darüber zu informieren, dass diese Aspekte auch zum komplexen Krankheitsbild ME/CFS zählen, wäre wichtig, um allen Menschen, auch schwer Betroffenen mit einer postinfektiösen Erkrankung, endlich eine Versorgung anzubieten.

Passiert das nicht, bleibt es dabei, dass Menschen mit ME/CFS weiter abgewiesen werden, sich, wenn finanziell möglich, in den völlig überlaufenen Privatbereich begeben müssen, mit Aufnahmestopps oder Wartezeiten bis zu einem Jahr zu rechnen haben, oder in seltenen Fällen bei wohlwollenden Ärzt*innen landen, die sich aber nicht mit ME/CFS auskennen und weder bei Diagnose noch Therapieansätzen helfen können. In solchen Situationen den Rat „Wüste und Austern“ zu erhalten, bleibt eine euphemistische Anekdote des Medical Gaslighting. Gleichzeitig sind engagierte (Privat-)Ärzt*innen momentan genau das selbst, ein seltener Luxus – eben Austern in der Wüste.

Laura Kunz ist Teil der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS (Presse-Team) und hat einen Master in Science and Technology Studies mit Schwerpunkt auf Public Health.

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Text über die Krankheit ME/CFS. ME/CFS ist eine schwere lange Krankheit. Man kann ME/CFS nach einer Virus-Erkrankung bekommen. Zum Beispiel: Man hat sich mit dem Corona-Virus angesteckt und ist danach noch sehr lange sehr erschöpft. Dann hat man Long Covid. Oder man hatte die Krankheit Pfeiffersches Drüsenfieber und bekommt danach ME/CFS. In Österreich haben 25.000 Menschen ME/CFS. Viele Menschen mit ME/CFS können ihr Bett nicht mehr verlassen. Wenn du ME/CFS hast, musst du sehr gut auf deine Energie achten. Wenn du dich zu viel anstrengst, wird ME/CFS schlechter.
ME/CFS kann man nicht heilen. Es gibt zu wenig Forschung zu ME/CFS. Es gibt auch zu wenig Ärzt*innen, die sich mit ME/CFS auskennen. Eine aktuelle Studie sagt: Erst nach fünf bis acht Jahren bekommen Patient*innen ihre korrekte ME/CFS-Diagnose. Aber bei ME/CFS ist eine frühe Diagnose wichtig. Sonst wird die Krankheit schlimmer.
In Österreich gibt es eine neue Leitlinie für postvirale Krankheiten. Das Wort postviral bedeutet: Die Krankheit beginnt nach einer Virus-Erkrankung. Zum Beispiel Long Covid oder ME/CFS. Die Leitlinie richtet sich an Ärzt*innen. ME/CFS kommt in der Leitlinie aber nicht vor. Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS kritisiert das. Denn Menschen mit Long Covid und Menschen mit ME/CFS brauchen gut ausgebildete Ärzt*innen. Es muss etwas für die Gesundheit von allen Menschen getan werden.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Bettina Enzenhofer
Wenn du zum Text eine Frage hast: schreib an be(at)ourbodies.at

Teilen:
Skip to content