Schlank vibrieren

Der Vibrator wurde eingesetzt, um sogenannte Hysterikerinnen zu behandeln – so ein weit verbreiteter Mythos. Tatsächlich ist seine Geschichte eng mit Körperidealen verbunden. Von Sarah Scheidmantel

Frühe Vibrator-Werbung: eine junge Frau in weißem Rüschenkleid hält einen Vibrator an ihre Stirn
Foto: L0033885 Advertisment for „Sanofix“ electric hand vibrator/Wikimedia, Wellcome Images, CC BY 4.0

Inhalt in Einfacher Sprache

Das ist ein Artikel
über die Geschichte des Vibrators.
Über den Vibrator
wird oft eine Geschichte erzählt.
Die Geschichte geht so:
Manche Frauen wurden
vor über 100 Jahren
als „Hysterikerinnen“ bezeichnet.
Ärzte wollten sie heilen.
Dafür haben sie
einen Vibrator genommen
und die Frauen zum
Orgasmus gebracht.
Das sagt die Autorin Rachel Maines.
Doch diese Geschichte stimmt nicht.
Ärzte verwendeten den Vibrator
nicht an den Genitalien.
Die Werbung sagte:
Verwende den Vibrator
damit du schlank wirst
und jung aussiehst.
Die Geschichte des Vibrators
hat also viel mit Schönheitsidealen
zu tun.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Brigitte Theißl
Wenn du zum Text eine Frage hast:
schreib an be(at)ourbodies.at

[Content Note: Fatshaming, Beschreibung medizinischer Praktiken]

Happy Masturbations-Monat Mai! Ich hatte schon fast geglaubt, dass wir mittlerweile entspannt über weibliche Masturbation sprechen können und auch historische Mythen darüber beseitigt sind. Doch kaum steht der Masturbationsmonat vor der Tür, stelle ich fest: Weit gefehlt!

Ich klicke auf einen Info-Post zur Geschichte der Masturbation auf Instagram und da taucht er wieder auf, der Mythos: Haha, schaut mal, sogenannte Hysterikerinnen haben sich in der Arztpraxis zur Behandlung entweder händisch oder mithilfe eines Vibrators zum Orgasmus rubbeln lassen. Doch der – natürlich männliche – Herr Doktor hätte nicht erkannt, dass er die Frau zum Orgasmus gebracht hatte, und diese Ekstase stattdessen „hysterischen Paroxysmus“ genannt.

Klingt unglaubwürdig? Ist es auch. Doch dieser Mythos taucht an vielen Stellen auf, zum Beispiel im Film „In guten Händen“ aus dem Jahr 2011, in dem die Schwestern Charlotte und Emily den jungen Arzt Joseph Mortimer Granville kennenlernen, der jenes Orgasmusrubbeln zu seiner Profession macht. Auch unzählige (populär-)wissenschaftliche Bücher, Artikel und Insta-Posts sind dem Mythos genauso aufgesessen wie die feministischen Autorinnen Naomi Wolf 2012 in ihrem Buch „Vagina“ und Katja Lewina 2020 in „Sie hat Bock“.

Tatsächlich beruhen diese Bücher, Filme und Artikel auf einer einzigen Quelle, dem Buch „The Technology of Orgasm: ‚Hysteria‘, the Vibrator and Women’s Sexual Satisfaction“ der Technikhistorikerin Rachel Maines aus dem Jahr 1999. Auf knapp 150 Seiten verwurstet sie mehr als 400 Quellen von der Antike bis in die Siebzigerjahre. Sie sollen Maines‘ Theorie bestätigen, dass Frauen von Medizinern unterdrückt worden seien. Die Autorin liest in diese Quellenbruchstücke sexuelle Handlungen hinein, die aber gar nicht beschrieben werden. Schwups – der Mythos war geboren.

Was ist wirklich passiert?

Der Mythos besteht aus drei Elementen, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Entwirren wir sie!

Element 1: Die Hysterie
Hysterie war im späten 19. Jahrhundert besonders bei Frauen eine weit verbreitete Diagnose mit vielfältigen Symptomen. Vom altgriechischen Wort „hystera“ stammend, was Gebärmutter bedeutet, wurde sie zunächst vor allem für Frauen symptomatisch. Ihr wurden im Laufe der Zeit unterschiedliche Symptome zugeschrieben, im späten 19. Jahrhundert glaubte man, dass die Krankheit sowohl den Sexualtrieb beeinflussen als auch Lähmungen und Krämpfe verursachen, zu Empfindungsstörungen führen und das Bewusstsein verändern könne. Zunächst versuchte man die Symptome zu bekämpfen (dazu gleich mehr), und bald wurde die Krankheit umgedeutet – von Sigmund Freud, der die Psychoanalyse entwickelte und Hysterikerinnen in seiner Praxis behandelte. Er hat zwar einigen Quark verzapft (ich sage nur klitoraler und vaginaler Orgasmus), aber mit Vibratoren und Genitalien hatte er nichts zu tun.

Element 2: Das Gebärmutterdrücken
Der schwedische Kriegsveteran Thure Brandt erfand die sogenannte „Thure-Brandt-Massage“, die allerlei Gebärmutterleiden lindern und heilen sollte. Dazu wurde über den unteren Bauch/Venushügel geknetet und von der Vagina oder dem Anus aus ein Gegendruck erzeugt. Diese rein medizinische Praktik wurde schnell in ganz Europa massenweise angewandt und galt lange als erfolgreich.

Element 3: Die Vibrationsmassage
In Europa wurden sogenannte Vibratoren verstärkt ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelt und hatten zunächst einen rein medizinischen Zweck. Den heute vermutlich bekanntesten Vibrator erfand der Brite Joseph Mortimer Granville (richtig, der aus dem Film „In guten Händen“), einen sogenannten Nervenvibrationsapparat. Anders als der Film-Mortimer hütete sich der echte Mortimer jedoch davor, das Gerät bei der Diagnose Hysterie einzusetzen. Er schrieb in seiner wissenschaftlichen Abhandlung über Nervenvibration: „Ich habe noch nie eine Patientin perkussiert“ (also mit dem von ihm entwickelten Gerät behandelt). Zudem setzte sich der Arzt dafür ein, dass die Vibrationsmassagegeräte, wie die frühen Vibratoren auch genannt wurden, nur von geschultem Personal angewandt werden sollten. 

Obwohl keines dieser Elemente für sich betrachtet sexuelle Stimulationen beinhaltet, behauptete Rachel Maines, dass die (nur männlichen) Autoren nicht verstanden hätten, was sie da beschreiben: Eine von Maines‘ Thesen etwa ist, dass Ärzte im 19. Jahrhundert davon ausgegangen seien, dass Orgasmen nur durch Penetration hervorgerufen werden könnten. Doch auch im 19. Jahrhundert war bekannt, auf welche unterschiedlichen Arten Orgasmen entstehen können.

Wofür wurden Vibratoren tatsächlich eingesetzt?

Vibration sollte kranken Körpern Energie zuführen, die sie angeblich verloren hätten. Die Umbrüche dieser Zeit gaben der Idee Auftrieb. Viele Menschen glaubten, der technische Fortschritt würde den Körper wortwörtlich zum Vibrieren bringen – die medizinische Vibration wurde zur Gegenkraft, die diesen „nervösen“ Körper beruhigen sollte.

Die Vibration wurde nicht nur bei „Nervosität“ eingesetzt – übrigens gleichermaßen bei Männern und Frauen (cis Männer und cis Frauen; alle weiteren Geschlechtsvarianten wurden um 1900 noch als „krank“ abgetan). Vibriert wurde auch gegen Rheuma, Gicht, Augenleiden und Krankheiten der inneren Organe. Auch in der Frauenheilkunde wurde Vibration eingesetzt, meist für Uterusleiden und Vaginalnarben. Die Ärzte waren jedoch peinlich darauf bedacht, dass „onanistische Reizung“, wie ein Arzt schrieb, ausgeschlossen war. Tatsächlich wurde der Vibrator bei der Diagnose Hysterie verwendet, allerdings nur, um die symptomatischen Lähmungen zu lockern, und nicht an den Genitalien. 

Da Vibration lukrativ war, wurden enorm viele Geräte entwickelt – mechanische sowie elektrische, bei denen man verschiedene Aufsätze gegen die unterschiedlichen Krankheiten montieren konnte. Da Vibration nur bei regelmäßiger Wiederholung half, wurden die Geräte schon bald zu Konsumobjekten.

Massage für Schönheit und Jugend

Die heutige sexuelle Anwendung des Vibrators tauchte in der frühen Werbung nicht auf. Vielmehr rückten mit den Konsummöglichkeiten ärztlich empfohlene Gebrauchsmöglichkeiten wie Schönheits- und Jugendanwendungen in den Mittelpunkt. Frauen sollten sich jung und schön vibrieren: ihre Brüste straff, den Bauch flach, die Hüfte schlank und die Fältchen weg. Männer sollten sich hingegen fit für die Arbeit vibrieren.

Warum ist es wichtig, Geschichte richtig zu erzählen, um uns selbst zu verstehen?

Auch wenn der Vibrator-Mythos an vielen Orten auftaucht und es einfach eine gute Geschichte ist: Es nützt nichts, wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir falsches Wissen jahrelang geglaubt und weitererzählt haben, ohne nachzufragen. Es ist wichtig, dass wir unsere eigene Geschichte kennen, und sei sie auf den ersten Blick noch so „lapidar“. Die Geschichte des Vibrators ist aber nicht lapidar, vielmehr erfahren wir darüber, wie Medizin, Konsum und das Patriarchat mit Frauen umgingen.

Nicht einzelne Ärzte unterdrückten Frauen, vielmehr gab es ein System, in das Frauen zu passen hatten, sowohl körperlich als auch sexuell. Vibratoren waren auf ihre Weise ein Objekt, designt für Frauen, um sich gesellschaftlich an- und körperlich einzupassen.

Gleichzeitig zeigt die Geschichte des Vibrators, dass wir uns Dinge auch aneignen können und sie eine neue Aufgabe erhalten: Die US-Sexualaufklärerin Betty Dodson bot in den 1960ern Masturbationskurse an, in denen sie den ursprünglich zur Massage erfundenen Hitachi Magic Wand zu ebenjenem Zweck empfahl (und mit Sicherheit war sie nicht die erste, die die angenehme Wirkung von Vibration zu schätzen wusste).

Um zu verstehen, woher Körperideale kommen, müssen wir nicht die Geschichte des Vibrators kennen, aber sie hilft uns, zu verstehen, warum wir vielleicht an dem einen oder anderen Tag an unseren Körpern zweifeln und warum wir glauben, wir bräuchten einen speziellen Bikinikörper. Unsere Körper sind es wert, richtig erzählt zu werden – denn nur so können wir verstehen und Änderung anstoßen.

Sarah Scheidmantel (sie/ihr) ist Kulturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin. Sie studierte in Weimar, Berlin und Cambridge (UK) Medien- und Kulturwissenschaften sowie Wissenschaftsgeschichte, und promoviert seit 2019 an der Universität Zürich zur Vibrationsmassage und Weiblichkeitskonzepten um 1900. So möchte sie mit Mythen rund um den Körper aufräumen.

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über die Geschichte des Vibrators.
Über den Vibrator
wird oft eine Geschichte erzählt.
Die Geschichte geht so:
Manche Frauen wurden
vor über 100 Jahren
als „Hysterikerinnen“ bezeichnet.
Ärzte wollten sie heilen.
Dafür haben sie
einen Vibrator genommen
und die Frauen zum
Orgasmus gebracht.
Das sagt die Autorin Rachel Maines.
Doch diese Geschichte stimmt nicht.
Ärzte verwendeten den Vibrator
nicht an den Genitalien.
Die Werbung sagte:
Verwende den Vibrator
damit du schlank wirst
und jung aussiehst.
Die Geschichte des Vibrators
hat also viel mit Schönheitsidealen
zu tun.

Diese Kurz-Fassung hat geschrieben: Brigitte Theißl
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