Sexualkunde machen

„Wenn zwei miteinander schlafen und plötzlich aufs Klo müssen, was dann?“ Das Aufklärungsbuch „DAS machen?“ nimmt Kinder ernst und bricht mit Gewohntem. Bettina Enzenhofer traf die Autorin Lilly Axster zum Interview.

2 Seiten aus dem Buch "DAS machen?" mit vielen Illustrationen von Kindern. Von den Kindern sind Umrisse sichtbar, alle haben ein rotes Herz bei sich - z.B. tragen sie es am Rücken oder als Handtasche. Es gibt auch Text auf diesen 2 Seiten: "Woran würde ich merken, wenn ich verliebt wäre?" Diese Frage kam von Cansu, und prompt Ashleys Antwort: "Wenn du verliebt bist, fühlt es sich an, als könntest du über Dächer rennen." Cansu hat nur mit den Schultern gezuckt. Aber ich weiß, dass sie in ihrem Fotoalbum ein Foto von sich und ein Foto von P. gegenüber auf zwei Seiten so eingeklebt hat, dass die beiden einander berühren, wenn das Album zugeklappt ist. Also die Fotos berühren sich. Ich bin nicht verliebt. Und wenn, behalte ich es für mich.
Illustration: Christine Aebi

„DAS machen?“ ist ein Aufklärungsbuch für 6- bis 12-Jährige, das vielen Verlagen womöglich „zu queer“ war, wie die Autorin Lilly Axster erzählt. Gemeinsam mit der Illustratorin Christine Aebi hat sie bislang vier Kinderbücher gestaltet, die mit stereotypen Geschlechterrollen brechen und allesamt den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis gewonnen haben. Auch „DAS machen?“ wurde unlängst preisgekrönt. Das Buch ist ein fiktiver Bericht von einer Woche Sexualerziehung aus der Sicht der Kinder, das mehr Fragen stellt als Antworten gibt: Wie fühlt sich Verliebtsein an? Besteht Sexualität aus Videoschauen? Und was ist Intersexualität? Auf der Text-Ebene bleibt genügend Raum für individuelle Erklärungen, und auch die Bild-Ebene ist erstaunlich vielschichtig und nähert sich den Themen auf jeder Seite mit anderen Mitteln an – etwa mit einem Comic, der die Ausgangsüberlegung widerspiegelt: „Wie kann man kindliche Intimität und sexuelle Aktivität zeigen, ohne dass es grindig, voyeuristisch oder doof ist?“

Bettina Enzenhofer: Welchen Stellenwert haben Kinder-/Jugendliteratur und insbesondere Aufklärungsbücher derzeit in der Sexualerziehung?

Lilly Axster: So allgemein kann ich das nicht sagen. Im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen sehr viele Aufklärungsbücher, die ähnlichen Mustern folgen: Es geht ums Kinderkriegen und um Geschlechtsverkehr, also eigentlich um sehr eng gefasste Vorstellungen von erwachsener heterosexueller Sexualität. Als in Deutschland letztes Jahr „Make Love“ – ein neues Buch zur Sexualität von Jugendlichen – erschien, gab es einen großen Wirbel, ähnlich wie hierzulande die Debatte über „Ganz schön intim“, die Sexualerziehungs-Materialien des Vereins Selbstlaut. Obwohl Heterosexualität auch in „Make Love“ als Norm gesetzt wird, kann ich es empfehlen.

Welche Aufklärungsbücher stehen in Schulen im Regal, und was kaufen Eltern für ihre Kinder?

Bei Schulprojekten zum Thema borgen Lehrer_innen gerne Aufklärungsbücher aus und stellen diese in die Leseecke, bzw. es ist in Schulen durchaus üblich, dass solche Bücher einfach in der Leseecke rumstehen. In meinem Job bei Selbstlaut bin ich oft auf Elternabenden, bei denen es immer auch um die Vorbeugung von sexueller Gewalt geht. Viele Eltern haben Aufklärungsbücher zu Hause, aber das sind oft die 08/15- bis ganz blöden Exemplare.

Von wegen Kinderkriegen?

Ja – das ist ja OK. Aber es ist alles so gleich, so genormt, so langweilig. Wobei das jetzt blöd klingt, wenn ich das sage und selber ein Buch gemacht habe. Es ist teilweise aber wirklich bitter.

Was wolltet ihr anders machen?

Viele Bücher schreiben Normen so wahnsinnig fest: Heteronormativität, Repräsentationsformen, Vorstellungen von Mehrheitsangehörigen, Mittelschichtskinder in – ich sags jetzt mal so einfach – klassischen Familienmodellen. Genau das haben wir versucht, nicht zu tun.

Aber wir beide repräsentieren natürlich selber nur einen bestimmten Ausschnitt der Gesellschaft. Damit haben wir am meisten gerungen, und das finde ich nach wie vor schwierig: Man kann Vielfalt nicht einfach bloß anhand vieler verschiedener Menschen oder Identitäten abbilden. Das versuchen wir in den Illustrationen und im Text trotzdem. Mir gefallen am besten die Stellen, an denen die Illustrationen die reale Ebene verlassen und verschiedene Schichten spürbar werden: Hautschichten, Stoffschichten, Farbschichten. Andere Stellen finde ich bis heute schwierig.

Mit den Namen der Charaktere im Buch ist es auch schwierig: Ich habe versucht, sie wegzulassen, Namen rückwärts geschrieben oder erfunden, um in unserem Buch oberflächliche Zuordnungen, die man sofort macht, zu umgehen. Aber ich habe keine Lösung gefunden, die mir gefallen hat. Wenn ich ein weiteres Buch schreiben würde, würde ich versuchen, dafür einen anderen Weg zu finden.
Mir gefällt der Begriff „Vielfalt“ nicht. Es geht viel mehr um Hierarchien, Sehgewohnheiten und Normierungen als um ein „dagegen muss man einfach Vielfalt setzen“. Das stimmt ja nicht. Unser Buch ist zwar nicht normativ, verwendet aber trotzdem noch relativ herkömmliche Mittel. Ich hätte gerne noch andere Mittel gefunden. Aber irgendwann haben wir gesagt, wir finden jetzt halt keine weiteren stimmigen, und wir mögen es trotzdem, deshalb machen wir es jetzt so fertig.

Welche Rückmeldungen habt ihr bisher von Kindern bekommen?

Kinder sagen nicht: „Hey Leute, euer Buch ist gut.“ Es gibt ziemlich viel Interesse, aber auch so eine Verlegenheit. Wobei das mit Schulklassen anders ist als mit einzelnen Kindern von Freund_innen. Wir kommen schnell ins Gespräch mit den Kindern in den Schulklassen – die erzählen und fragen und wissen sehr viel. Das finde ich eine gute Rückmeldung. Angesichts des Gesprächsaufkommens bzw. Diskussionsbedarfs glaube ich schon, dass sie das Buch interessiert. Sie finden vieles total lustig und anderes wiederum gar nicht, was ich lustig finde. Aber das ist von Kind zu Kind verschieden. Viele fragen auch nicht im Beisein einer Gruppe. Aber sie fühlen sich ernst genommen, und ich glaube, das gefällt ihnen.

An einer Stelle malen sich die Kinder gegenseitig Gesichter auf Körperteile. Im Buch steht: „Dominique und Toni wollten von niemandem berührt werden. Sie haben stattdessen den Gesichtern ihre Stimme geliehen.“ Das ist meine absolute Lieblingsstelle, weil hier das Nicht-berührt-werden-Wollen zum einen mit drin ist, und zum anderen aber gar nicht groß thematisiert wird, sondern einfach so stehenbleiben kann. Inwieweit fließen hier deine Erfahrungen aus deiner Arbeit bei Selbstlaut ein?

Es freut mich, dass dir das gefällt. Und Selbstlaut steckt da bestimmt mit drin. Das ist die Haupthaltung, mit der wir arbeiten, und ich hoffe, dass ich die auch sonst angenommen habe: dass alle verschieden sind – gerade was körperliche Wünsche angeht –, und dass das nicht problematisiert wird, sondern einfach nebeneinander stehen kann. Aber ich hoffe, es wäre mir bzw. uns auch dann eingefallen, wenn ich nicht bei Selbstlaut arbeiten würde.

Es stört mich total, wenn immer gesagt wird, die Kinder oder die Jugendlichen finden etwas so und so. Das würde bei Erwachsenen nie so gesagt. Sondern vielleicht, „das kommt generell gut an“, aber es gibt viel mehr die Vorstellung, dass verschiedene Leute es verschieden bewerten. Bei Kindern finden es dann alle lustig. Aber das stimmt einfach nicht. Manche Kinder finden z.B. die Bilder von Christine ganz toll, andere können wenig damit anfangen.

Also um auf deine Frage zu antworten: Ja. Wenn man mit Kindern über Intimitäten oder sexuelle Dinge spricht, ist es sowieso schwierig, ihnen nicht zu nahe zu treten. Wenn es dann nicht möglich ist, dass jemand sagt, das will ich nicht und das schon, dann sollte man das lieber lassen.

Inwieweit finden sich solche unterschiedlichen Bedürfnislagen in anderen Aufklärungsbüchern für Kinder und Jugendliche?

Kindliche Sexualität, sexuelle Aktivitäten oder Intimität kommen fast nie vor. Meistens ist es so: Da kommt ein Geschwisterchen zur Welt und das geht so. Dann gibt’s diesen ganzen Bereich der angenehmen und unangenehmen Berührungen, da wird schon unterschieden: Das mag ich, das mag ich nicht. Aber das kommt oft so pädagogisch daher und nicht aus einem alltäglichen Tun heraus. Nähe unter Kindern kommt ganz wenig vor, und schon gar nicht unter Mädchen oder unter Buben.

Es gibt aus den USA ein sehr tolles, aber leider vergriffenes Buch aus den 1980ern: „The Playbook for Kids About Sex“. Das war das erste und bislang einzige Buch, das ich gefunden habe – jedenfalls gibt es im deutschsprachigen Raum so etwas nicht, außer vielleicht jetzt mit unserem –, in dem es wirklich um das körperliche, sexuelle oder intime Erleben von Kindern geht. Und zwar nicht im Hinblick auf Partnerschaft oder Sexualpartner_innen, sondern da steht zum Beispiel drin: „Was kann man alles machen, wenn man alleine ist? Man kann fernsehen, Nase bohren, lesen, sich selbst berühren (…)“ Oder es wird gefragt: Mit wem teile ich gerne das Badezimmer? Das finde ich sehr gelungen, weil es Kinder in ihrem jetzigen Erleben adressiert und nicht in dem, wie es später mal sein wird.

In einem Interview hast du davon erzählt, dass einige Erwachsene jene Stelle in eurem Buch, in der Teddybären in verschiedenen Sex-Stellungen zu sehen sind, als „zu viel“ empfanden. Was entgegnest du?

Ich antworte, dass sich Kinder über vieles in der erwachsenen Sexualität wundern und sie so einiges merkwürdig oder unangenehm finden. Und dass Kinder oft mit Bildern von Sex und Pornografie konfrontiert werden und es eine große Herausforderung bzw. ein Muss von uns Erwachsenen ist, darauf zu reagieren – die Kinder damit nicht einfach gehen zu lassen, ohne das besprechbar zu machen oder auch noch etwas anderes daneben zu stellen.

Lilly Axster ist Autorin und Regisseurin sowie Mitarbeiterin bei „Selbstlaut. Gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ in Wien.

Lilly Axster, Christine Aebi: DAS machen? Projektwoche Sexualerziehung in der Klasse 4c. D.E.A. Verlag 2012. Website zum Buch

Dieses Interview erschien zuerst in an.schläge V/2013.

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